Katja Lückert: Heimat ist eher ein Gefühl, also ein Ort. Das Gefühl, zu Hause zu sein, ein Sehnsuchtsort, ein Ort, wo man die Sprache spricht – in unserer Sommerreihe zum Thema "Heimat" haben wir schon viele Anschauungen gehört – heute kommt der Kunsthändler, Teilhaber des Auktionshauses Villa Grisebach in Berlin, Florian Illies, zu Wort. Herr Illies, vor fünf Jahren haben Sie gewissermaßen die Seiten gewechselt: Sie waren Autor und Leiter des Feuilletons der Wochenzeitung "Die Zeit", gaben den Journalismus auf, um sich Ihrer großen Leidenschaft zu widmen, der Kunst des 19. Jahrhunderts. Bevor wir – vielleicht auch über Ihren eigenen Begriff von Heimat sprechen - an Sie die Frage als Kunstexperte: Welches Heimatgefühl transportiert sich in der Kunst des 19. Jahrhunderts?
Florian Illies: Ja ganz Unterschiedliches und auf schönste Weise ein sehr Widersprüchliches und Komplexes, weil zum einen sieht man den Bildern auch nach 200 Jahren noch an, ob sie aus Düsseldorf kommen, aus Dresden, aus Hamburg, aus München. Es gibt sozusagen eine gewisse geheime Form der Verewigung eines Kolorits, einer landsmannschaftlichen Zugehörigkeit auch in der Malerei. Das ist was ganz Faszinierendes. Zugleich hat man im 19. Jahrhundert neben dieser eigenen Heimat immer die Sehnsuchtsheimat Italien. Die ganzen Künstler des 19. Jahrhunderts gehen eigentlich auf Goethes Spuren nach Italien und erklären das eigentlich zu ihrem Zweitwohnsitz, an dem sie dann ihren Gefühlen meist weitaus intensiver den freien Lauf lassen als in ihrer angestammten Heimat. Das ist aber eigentlich, finde ich, sehr schön, weil es zeigt, es ist überhaupt nichts Enges, der Heimatbegriff des 19. Jahrhunderts, der sich in der Malerei spiegelt, sondern was auf schönste Weise Schillerndes und Bewegliches.
"Das ist ja eben das Schöne der Kunst, dass immer wieder relativiert wird"
Lückert: Natur, Provinz, Ruinen, besonders Gegenständlichkeit spielt eine Rolle. Ganz offenbar erfährt die Kunst des 19. Jahrhunderts in den letzten Jahren eine Renaissance. Wie erklären Sie sich das?
Illies: Ich glaube, das hat mit einer Tatsache zu tun, die ein deutsches Phänomen ist. Das 19. Jahrhundert in Deutschland war sehr, sehr lange tabuisiert, weil es im Dritten Reich missbraucht wurde, weil die Bilder missbraucht wurden als Zeugen für eine deutsche Kultur und als eine deutsche Innerlichkeit und in Dienst gestellt wurden für eine Programmatik, für die die Bilder nichts konnten. Und die Kunst des 19. Jahrhunderts hat sehr lange gebraucht, um sich davon zu erholen - eigentlich das ganze 20. Jahrhundert, muss man sagen, und eigentlich fängt es erst jetzt richtig an, wiederentdeckt werden zu können, weil man sieht: Die Bilder haben, obwohl sie auch in Besitz oder in den Dienst gestellt werden sollten, sich dem widersetzt. Ein Caspar David Friedrich ist ein überirdisches Genie, ist eine Malerei, die diese zwölf Jahre, in denen sie als scheinbar sozusagen deutsche Kunst gegolten hat, zum Glück gut überstanden hat. Das führt aber einfach dazu, dass dieses 19. Jahrhundert ein unentdecktes Land war, weil es tabuisiert war, und Wiederentdeckungen sind immer dann so besonders energievoll, besonders leidenschaftlich, wenn etwas besonders lange von der Bildfläche verschwunden gewesen ist, und das ist fürs 19. Jahrhundert so und deswegen ist diese Wiederentdeckung gerade so massiv. Auf allen Seiten, in allen Kanälen gibt es einfach eine große Lust, sich wieder dieser Kunst zu nähern, einfach weil da eine Mischung zu sehen ist von Qualität auf der einen Seite, von Frische in der Naturauffassung und von Bildwelten, die dann überraschenderweise unserer eigenen Lebensentfernung gar nicht so fern sind.
Lückert: Diese Kunst ist ja heute schon fast zum Ausstattungs-Accessoire geworden: China produziert billige, im Stil des 19. Jahrhunderts gemalte Bilder, die sich die Menschen wie vor 20 Jahren Gursky-Plakate in ihre Wohnzimmer hängen. Wird Kunst da ein bisschen zum Wellnessfaktor? Heimatgefühle hängen an der Wand, wenn sie auch in der Realität immer schwieriger für die Menschen werden?
Illies: Ich glaube das tatsächlich nicht. Ich glaube, das ist ein vom Kopf her kommender Ansatz, diese Begeisterung für die Malerei des 19. Jahrhunderts zu erklären. Denn da geht es wirklich nicht um eine Vergewisserung in einer eigenen guten, wohltemperierten, wohlsituierten Vergangenheit; da geht es wirklich um Malerei, da geht es um Fragen wie Schönheit. Und ich glaube, es gibt keinen wirklich ernsthaften Sammler des 19. Jahrhunderts, der nicht am Ende sagen würde, die Ölstudie des französischen Künstlers aus dieser Zeit oder des dänischen Künstlers aus dieser Zeit ist mindestens so gut wie die des deutschen Künstlers. Das ist ja eben das Schöne der Kunst, dass immer wieder es relativiert wird und Nationalbegriffe da eigentlich nicht tauglich sind. Deswegen würde ich sagen: Nein, ich glaube, diese Wiederentdeckung des 19. Jahrhunderts in der Malerei in einen Trend zu setzen mit Erfolgen von Zeitschriften wie "Landlust" oder einer Rückwendung in die Provinz oder in die Ursprünglichkeit, da sehe ich nur auf einer theoretisch-intellektuellen Ebene eine Verbindung. Aber ich glaube, es geht um andere Dinge, die da eine viel größere Rolle spielen.
"Das ist ein Naturerlebnis als Heimatraum"
Lückert: Dann nähern wir uns noch mal von einer anderen Seite. Vor über 25 Jahren kamen in Deutschland ja zwei Heimaten zusammen. Welche Rolle spielte die Wiedervereinigung bei der Rezeption der Kunst des 19. Jahrhunderts?
Illies: Die spielt tatsächlich eine sehr große Rolle, weil man plötzlich die wahrscheinlich reichste Landschaft des 19. Jahrhunderts, nämlich Sachsen, die Dresdener Romantik, wieder in den Blick nehmen konnte. Ich komme gerade aus Dresden zurück und habe zwei Tage mit Sammlern und in den Museen verbracht, und diese Welt von Caspar David Friedrich, von Dahl, von vielen, vielen Malern, die aus dieser Dresdener Welt kommen und das geprägt haben, was wir für Romantik, und das, was wir fürs 19. Jahrhundert halten, das ist in dieser Verfügbarkeit erst durch die Wiedervereinigung möglich geworden. Das spielt eine ganz große Rolle, weil zum einen die Museen für die Besucher aus dem Westen Orte sind, wo sie hingehen, zugleich Kunst auftaucht, die auch auf dem Markt auftaucht, und der Markt ist natürlich auch ein Modell, wo einfach plötzlich Kunst wieder sichtbar wird und verfügbar wird, und da spielt die Wiedervereinigung eine große Rolle und, glaube ich, auch da die Wiedervereinigung einfach im Sinne dieser Rückeroberung dieser Kunstlandschaften und der Museen in Greifswald, in Dresden, in Weimar, in den vielen, vielen kleinen Museen in Görlitz, in Zittau, wo plötzlich Werke ans Licht kommen, die einen begeistern, die in anderen Ausstellungen auftauchen, die in Katalogen auftauchen. Das ist tatsächlich ein Faktor, der bei dieser Renaissance und Wiederentdeckung dieser Kunst eine Rolle spielt.
Lückert: Sie haben sich ja vor zehn Jahren in einem Roman unter dem Titel "Ortsgespräch" (wir sprechen ein wenig auch über persönliche Begeisterung zum Thema Heimat) literarisch dem Thema genähert. Was verbindet Sie heute noch mit dem Dorf Ihrer Kindheit Schlitz im Fuldatal?
Illies: Wenn ich dort bin, bin ich sehr schnell einfach über die Natur wieder in einer ganz eigenen Zeitebene. Das ist das Faszinierende: Wenn man an dem Fluss der Kindheit steht oder durch die Buchenwälder der Kindheit geht, dann verschwimmen die Zeitebenen. Da sind 10, 15, 20, 30 Jahre sehr mit einem Fingerschnipsen vorübergegangen und deswegen bin ich da natürlich einfach sehr gerne. Das ist ein Naturerlebnis als Heimatraum und wenn ich inmitten von Buchenwäldern plötzlich in Mecklenburg stehe, dann habe ich über diese Natur ein Heimat-, ein Verwurzelungsgefühl. Das funktioniert bei mir sehr über diese ganz tief empfundenen, durch viele, viele Gänge und viele, viele Blicke erlebte Natur. Das verbindet sich für mich unbedingt auch mit der Malerei, weil ich dann wirklich durch die Malerei eines Lichts auf einem Baumstamm, auf einem Buchenstamm, wenn wir bei der Baumsorte bleiben, genau so eine Zeitverschiebung wahrnehmen kann. Das ist zwar 1840 gemalt, aber im Jahr 2016 sehe ich den Buchenstamm und den Lichteinfall ganz genauso wie auf dieser kleinen Studie. Und wenn man das wie so eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen erleben kann in der Kunst, dann gibt es für mich einen ganz wunderbaren, zauberhaften Moment der Irritation und auch der Gleichzeitigkeit, und das ist etwas, was für mich auch über das Naturerlebnis in der Malerei enthalten ist.
"Ich habe sehr, sehr viele Heimaträume"
Lückert: Dennoch ist ja Herkunft und Heimat für die meisten Menschen heute etwas durchaus verschiedenes. Für Sie auch?
Illies: Ich lebe in dem etwas größeren Ort Berlin inzwischen, über den der wunderbare Karl Scheffler den Satz gesagt hat: "Berlin kann wirklich alles auf der Welt sein. Das einzige, was Berlin nie sein kann, ist Heimat." Das ist ein sehr wahrer Satz, weil Berlin einfach eine Stadt ist, die in einer dauerhaften Bewegung ist und dauerhaft alles, die Menschen, die Orte, die Institutionen, die Gedanken auch sich von A nach B bewegen und es in dieser Dauerbewegung offenbar nicht möglich ist, Heimatgefühle zu entwickeln.
Wenn Sie von geistiger Heimat sprechen, dann ist das für mich ein ganz, ganz, ganz weit gefasster Begriff, und er hat wirklich mit Nationalgrenzen nichts zu tun. Natürlich habe ich eine Heimat in der Literatur, in der Kunstgeschichte, in solchen geistigen Welten, aber da muss ich sagen: Ein Scott Fitzgerald-Roman ist für mich genauso eine Heimat in der Vergangenheit, in den 20er-Jahren, wie vielleicht ein Roman von Eduard von Keyserling, ein Büchner, ein Goethe, die Malerei, da auch tatsächlich das Berlin, das Preußen dieser Zeit. Das ist eine wunderbare Explosion von Kreativität, von Kultur, von Eleganz, von Stil. Ich habe da, glaube ich, wenn man den Begriff so weit fasst, sehr, sehr viele Heimaträume, aus denen ich immer wieder Kraft, Inspiration beziehe, aber sie sind nur zufällig Deutsch. Da bin ich wahrscheinlich ein untypischer Vertreter für dieses sehr klassisch geprägte oder lokalisierbare Heimatgefühl.
Lückert: Der Kunsthändler und Schriftsteller Florian Illies in unserer Sommerserie über "Heimat".
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.