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Kunsthistorikerin Burcu Dogramaci
Der deutsche Wald als Bild der Heimat schlechthin

Viele Jahre konnten bildende Künstler mit dem Begriff der Heimat nichts anfangen. Mittlerweile gebe es aber wieder vielfältige Zugänge, sagte die Kunsthistorikerin Burcu Dogramaci im DLF. Besonders die massiven Fluchtbewegungen und der damit verbundene Heimatwechsel sei sehr zentral für zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler.

Burcu Dogramaci im Gespräch mit Stefan Koldehoff |
    Das Licht der Morgensonne scheint am durch den Nebel hinter Bäumen.
    Der deutsche Wald als Thema ist immer noch sehr präsent in zeitgenössischen Werken. (Patrick Pleul / DPA)
    Stefan Koldehoff: In der vergangenen Woche hat in unserer Sommerreihe zum Thema "Heimat" der Kunsthändler und Autor Florian Illies darüber berichtet, warum ihm Gemälde aus dem 19. Jahrhundert mit Heimat-Motiven zurzeit geradezu aus den Händen gerissen werden. Heute nun wagen wir den Schritt ins 21. Jahrhundert und zur Kunsthistorikerin Burcu Dogramaci, geboren 1971 in Ankara, Professorin in München, Autorin zahlreicher Bücher zum Thema, zuletzt "Heimat – eine künstlerische Spurensuche", im vergangenen Jahr bei Böhlau erschienen. Sie habe ich zunächst einmal gefragt, warum es ihr in einem Text so wichtig war, darauf hinzuweisen, dass "Heimat" ein Wort ist, das es fast nur im Deutschen gibt und das als kaum übersetzbar gilt.
    Burcu Dogramaci: Es war für mich wichtig, weil ich mich bei meinen Forschungen selbst auf einen Weg mit offenem Ausgang begab, weil mich interessierte, wie wichtig Heimat als Begriff, als Bild für zeitgenössische bildende Künstler ist, und war dann sehr erstaunt, dass es vor allem viele deutsche oder deutschsprachige Künstler gibt, die sich mit diesem Begriff beschäftigen und dass dieser Begriff anscheinend ein zutiefst deutsches Phänomen tangiert, berührt. Und insofern war es mir wichtig, darauf zu verweisen, dass dieser Begriff tatsächlich sehr beladen ist und dass er auch eine durchaus deutsche Vergangenheit hat.
    "Ich brauche multiple Übersetzungen, um diesen Begriff zu umkreisen"
    Koldehoff: Da kommen wir gleich gerne noch drauf zu sprechen. Aber zunächst mal ganz praktisch die Frage: Wie erklären Sie denn dann Menschen aus anderen Ländern, aus anderen Kulturen, wenn Sie über den Begriff Heimat mit ihnen sprechen wollen, was das überhaupt ist?
    Dogramaci: Es gibt da keine einfache, gradlinige, direkte Eins-zu-eins-Übersetzung, sondern wenn ich mal den Begriff "vatan" im Türkischen anführen darf, heißt "vatan" auch Heimatland, Vaterland, Vaterland, aber auch Heimat, und insofern muss ich diesen Begriff umkreisen. Oder auch das englische "home", was ja auch vielfältig zu übersetzen ist, aber niemals nur das eine meint. Das heißt, ich brauche multiple Übersetzungen, um diesen Begriff zu umkreisen und benennen zu können.
    Koldehoff: Sie weisen gleichzeitig im selben Text darauf hin: "Heimat enthält aber auch Kehrbilder wie die Heimatlosigkeit oder den Heimatwechsel. Heimat kann auch eine Kategorie sein, um andere auszuschließen." Der Gastarbeiter, dieser Begriff aus den 50er-, 60er-Jahren zum Beispiel, der hatte eigentlich nicht wirklich ein Recht auf Heimat, oder?
    Dogramaci: Ja der hatte zumindest das Recht, in seine Heimat zurückgehen zu können irgendwann. Das heißt, die Heimat war nie hier, sondern dort, und das ist ganz wichtig. Heimat ist tatsächlich ein Begriff, der sich hervorragend dafür eignet, auszuschließen, aber auch einzuschließen. Das heißt: Wessen Heimat ist das eigentlich? Das ist sehr, sehr wichtig, wenn wir uns mit diesem Begriff beschäftigen, dass Heimat ganz viele Perspektiven zulässt, aber auch immer bedeuten kann, dass meine Heimat nicht unweigerlich auch die Heimat der anderen ist.
    Künstler sind oft an vielen Orten zuhause
    Koldehoff: Wenn Sie jetzt sagen, Heimat ist ein ganz aktuelles Thema für die ganz aktuelle zeitgenössische Kunst, sie beschäftigt sich intensiv mit der Frage, was Heimat denn sein könne, dann die Heimat im klassischen Sinne, also die geografische, aber auch die Heimat, die man in Erinnerungen oder in Gefühlen haben kann, oder ist Thema zeitgenössischer Künstler, angesichts der aktuellen politischen Ereignisse, eher der Verlust, das nicht dazugehören, die Heimatlosigkeit?
    Dogramaci: Ich würde sagen, dass beides sehr wichtig ist, oder sogar noch viel mehr. Das heißt: Kann ich nicht auch mehrere Heimaten besitzen? Das ist für zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler ein sehr wichtiges Thema. Viele von ihnen verstehen sich ja als global agierende Künstlerinnen und Künstler, die mehrere Studios betreiben oder zu Gastaufenthalten im Ausland weilen, und die Frage, wo gehöre ich eigentlich hin, stellt sich für sie vielleicht gar nicht mehr, sondern bin ich nicht an vielen Orten zuhause, das heißt da, wo ich arbeite, wo ich ausstelle. Deshalb gibt es vielfältige Zugänge gerade aus Perspektive der zeitgenössischen Kunst: Sowohl Heimat, was ist das überhaupt, welche Bilder gibt es dafür, auch Heimatlosigkeit angesichts dieser großen Fluchtbewegungen, die wir seit vielen Jahren erleben, aber auch die vielen Heimaten, die meine sein können.
    Koldehoff: Jetzt haben wir nicht nur ein Wort, das nicht übersetzbar ist, nicht gut übersetzbar in andere Sprachen, sondern von dem Sie jetzt auch noch einen Plural sozusagen generiert haben. Wie sehen diese Heimaten aus, die Künstler in ihren Werken schaffen? Sind das Bilder, sind das Installationen, gehören da Töne zu? Können Sie ein paar Beispiele geben?
    Dogramaci: Ja. Ich denke, die Vielfalt dessen, was Heimat bedeuten kann, kann sich zum Beispiel in einem Format ausdrücken wie ein Fotobuch. Als Beispiel kann ich da Irina Ruppert’s Fotobuch "Rodina" benennen von 2011, die sich auf eine Reise zurück in die Vergangenheit begeben hat, in die Vergangenheit ihrer Familie, Topografien, Geografien aufgesucht hat, an denen ihre Eltern und Großeltern beheimatet waren. Das Fotobuch ist eine Ausdrucksform, die sich sehr gut eignet, meiner Meinung nach, um sich mit diesem Thema zu befassen, weil sich darin viele verschiedene Motive wiederfinden können und Perspektiven.
    Als zweites Fotobuch, was wichtig für meine Forschung war, kann ich Peter Bialobrzeski’s Fotobuch "Heimat" nennen, wo er verschiedene deutsche Landschaften aufgesucht hat und sie aber nicht weiter benannt hat, sondern mit einer Großbildkamera Aufnahmen angefertigt hat von Landschaften, die einem irgendwie bekannt vorkommen und die sehr stark auf die Romantik zum Beispiel zurückverweisen.
    Migrationsphänomene beeinflussen die Kunst
    Koldehoff: Wobei da ja - auch das legen Sie in Ihrem aktuellen Buch schön dar - Symbole sich auch verändern, wenn Sie jetzt auf die Romantik rekurrieren. Sie haben viel geschrieben über den guten alten deutschen Wald und darauf hingewiesen, dass man den eigentlich nicht mehr so sehen kann, wie man das im 18., 19. Jahrhundert noch getan hat. Sie zitieren unter anderem Elias Canetti, der ja in "Masse und Macht" geschrieben hat, das Massensymbol der Deutschen war das Heer, aber das Heer war mehr als das Heer, es war der marschierende Wald.
    Dogramaci: Ja. Ich denke, dass die Geschichte unseren Blick auf deutsche Topografien sehr stark verändert hat. Die Unbefangenheit ist nicht mehr existent. Ich kann als Beispiel auch ein fotografisch arbeitendes Künstlerpaar nennen, Anna und Bernhard Blume, die sich sehr stark mit dem deutschen Wald beschäftigt haben, den aber sehr stark dekonstruieren. Das heißt: Das Spazierengehen im Wald, das Wandern im Wald wird in Gestalt von Selbstinszenierungen, fotografischen Selbstinszenierungen ins Absurde geführt. Aber ich denke, dass der deutsche Wald als Thema immer noch sehr präsent ist auch in ganz zeitgenössischen Werken. Zum Beispiel Julian Rosefeldt‘s "Meine Heimat ist ein dunkles, wolkenverhangenes Land", eine Video-Installation von 2011, beschäftigt sich mit der Hermannsschlacht zum Beispiel, die auch bis in unsere Zeit eigentlich präsent ist und wichtig ist im Gedächtnis der Menschen. Auch wenn sie nicht genau wissen, was dort eigentlich vorgefallen ist, ist der deutsche Wald für viele tatsächlich immer noch die Heimat schlechthin oder ein Bild von Heimat.
    Koldehoff: Auch die Kunstgeschichte hat sich wie so vieles glücklicherweise nach 1968 in Deutschland emanzipiert von ganz vielem, was vorher war. Danach ging es aber doch eigentlich mal erst nicht, Heimatbilder oder Heimatthemen in der Kunst umzusetzen. Das war mal erst verpönt. Geht man da jetzt wieder entspannt mit um? Ist das eine neutrale Befassung? Oder schwingt da Sentimentalität, eigenes älter werden und Befassen mit der eigenen Vergangenheit mit? Was sind die Gründe für Künstler, für junge Künstler, sich heute wieder mit dem Thema Heimat auseinanderzusetzen?
    Dogramaci: Da würde ich gern noch auf eine Ihrer Fragen zurückkommen, und zwar, inwieweit Heimatlosigkeit oder Heimatwechsel wichtig sind in unserer Zeit, und ich denke, dass gerade diese starken Migrationsphänomene im 20. Jahrhundert und gerade in der jüngeren Vergangenheit viele Künstler wieder auf diese Frage zurückgeworfen haben, was ist Heimat oder was bedeutet es eigentlich, wenn ich gezwungen bin, von einem Land ins andere zu gehen, was nehme ich mit und was finde ich vor, was bedeutet eigentlich Sprachwechsel, Kulturwechsel. Und damit befassen sich doch recht viele Künstlerinnen und Künstler der Gegenwart, zum Beispiel mit den sogenannten Sans-Papiers, den Menschen, die keine gültigen Papiere mit sich führen, oder den Harragas, die ihre Papiere verbrennen, wenn sie aus Nordafrika flüchten und zum Beispiel nach Europa gelangen möchten. Ich denke, dass dieses Erleben von erzwungenem Heimatwechsel, von massiven Fluchtbewegungen sehr zentral ist für zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler.
    Koldehoff: Führt denn diese neue Befassung mit einem neuen Heimatbegriff, oder wie Sie so schön gesagt mit neuen Heimaten-Begriffen, führt das denn auch zu neuen Bildern, oder sind es die herkömmlichen Formen, die da künstlerisch benutzt werden?
    Dogramaci: Es gibt sowohl neue Bilder als auch neue Ausdrucksformen, zum Beispiel die Video-Installation von Julian Rosefeldt, die ich bereits benannt habe, aber auch zum Beispiel digitale Operationen, mit denen ich arbeiten kann. Ich denke, dass die Möglichkeiten sehr vielfältig sind, Klanginstallationen, um auch auf das Problem Sprachverlust hinzuweisen, aber auch, um mit den Medien unserer Zeit zu arbeiten. Ich denke, da sind wir nicht mehr im Bereich der Gemälde, der röhrenden Hirsche, die für Heimat einstehen, sondern sind tatsächlich im 21. Jahrhundert mit der Vielfalt der künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.