Die Künstlerin Hanne Draeger rückt mit einer kleinen Säge dem Kruzifix zu Leibe. Manchmal ist richtig Kraft vonnöten. Nach dem Sägen kommt die Zange zum Einsatz, mit der sich dann endlich die kleine Messingfigur vom Kreuz hebeln lässt. Nicht immer geht das ganz glatt, manchmal bricht auch ein Arm oder Bein ab, aber trotz solch ungewollter Verletzungen kann man das wohl als eine Art Erlösung sehen. Schon als Kind fand die heute 81-Jährige den Anblick des Kruzifixes verstörend.
"Beim Konfirmandenunterricht, da hängt meistens das Kreuz ohne Jesus. Ich ging aber mit meiner Freundin, die katholisch war, in den katholischen Gottesdienst, da beteten die immer zu dem traurigen toten Jesus, und das fand ich unnatürlich. Dann dachte ich so im Alter: Da muss ich nochmal ran und sammelte unbewusst ganz viele Kruzifixe", sagt Hanne Draeger.
Jesus in der Kelle
Als Erwachsene reiste sie um die halbe Welt und setzte sich überall mit der jeweiligen Religion auseinander. In Indien bemerkte sie, dass die vielen Hindu-Götter im Alltag der Leute nicht nur überaus präsent sondern auch äußerst lebendig waren. Zurück in Deutschland kam der Bonner Künstlerin dann die Idee, dem toten Jesus ein neues Leben zu geben. Kurzerhand holte sie eines der vielen Kruzifixe aus ihrem Keller, nahm die Jesusfigur vom Kreuz und setzte sie neben eine kleine Buddha-Statue in eine mit Reis gefüllte Suppenkelle. "Brotherhood" nannte sie das Werk.
Knapp zehn Jahre ist das jetzt her. Seitdem hat sie im Rahmen ihres Projektes "Jesus ist mein Bruder" zahlreiche Jesusfiguren bearbeitet. Sie wurden neu eingekleidet, ausstaffiert und ins Hier und Jetzt geholt: als Fußballer, Musiker, Broker oder auch als Shamane oder Sufi-Tänzer. Der Fotograf Franz Heinbach ist ganz begeistert von den Kunstwerken:
"Das ist so stimmig, den da runterzuholen und ihm eine Rolle zu geben, ihn zurück ins Leben zu holen. Das Spannende ist ja, dass er dennoch als derjenige zu erkennen ist, der mal am Kreuz hing: Die Haltung ist eindeutig, die Löcher sind noch in den Händen und Füßen. Der hat so etwas Göttliches behalten. Ich kann sagen, ich habe mich so ein bisschen mit dem ausgesöhnt, denn ich bin katholisch erzogen und habe den Jesus immer nur in dieser extremen Situation zu Gesicht bekommen. Denn das Kreuz als solches, wie es die evangelischen haben, das ist ein Symbol. Aber das Kruzifix zeigt eine Szene, die ist einfach grauenhaft. Dieses Grauen kann ich nachempfinden, wenn ich in einem sakralen Raum bin, aber wenn das auf Flohmärkten rumliegt, über Türen gehängt wird in bayerischen Amtsstuben, dann ist das furchtbar."
"Jesus schien den Kopf wegzudrehen"
Da die vielen Details auf den teilweise sehr kleinen Figuren nur schwer zu erkennen sind, hat Franz Heinbach Jesus ins rechte Licht gesetzt. Das war zunächst nicht ganz einfach.
"Als ich anfing, war ich von den Bildern enttäuscht, denn der Jesus schien den Kopf wegzudrehen als wolle er sich nicht fotografieren lassen. Dann kam ich auf die Idee: Die Figuren hingen ja oft über Türen, also wer ihn ansah, musste von unten nach oben schauen, dann hatte man Blickkontakt. Und das ist eine fotografische Technik, dass man schräg fotografieren kann und trotzdem die Schärfe sich über den ganzen Bereich erstreckt. Und auf einmal waren die zugänglich, auf einmal konnte man dem ins Gesicht schauen."
Franz Heinbachs Makrofotografien sind auf DIN A2-Größe aufgezogen und auf schweres weißes Baumwollpapier gedruckt worden. Die Drucke sind limitiert und handsigniert und werden derzeit zusammen mit den Figuren von Hanne Draeger ausgestellt. Unter dem Titel "CrossOver" sind sie in der Bonner Update-Gallery zu sehen. Bei den Vorbereitungen zur Ausstellung gab es nicht nur aus fotografisch-perspektivischer Sicht Fallstricke. Ausgerechnet eine von Hanne Draegers Lieblingsfiguren – ein weißer Jesus aus Biskuitporzellan – hätte zum Problemfall werden können.
"Wir haben zuerst einen Katalog gemacht auf Englisch. Dieser Jesus, der heißt – oder hieß – "Weißer Jesus" und übersetzt wird daraus "White Jesus". Was wir nicht wussten ist, dass dieser Begriff in den USA durchaus ein Kampfbegriff ist von Rechten, die darauf bestehen, dass Jesus der weißen Rasse angehört. Und wir waren sehr froh, dass eine Freundin uns darauf hingewiesen hat, dass man so etwas nicht machen kann, und wir haben ihn umbenannt, oder du hast ihn umbenannt." / "Der versteckte Jesus, ja", ergänzt Hanne Draeger.
"Viele sagen, es ist Blasphemie"
Dieses Problem konnte aus der Welt geschafft werden. Bleibt ein weiteres Problem: Die Kunst gefällt nicht jedem. Schon häufiger ist Hanne Draeger wegen ihrer Jesusfiguren heftig beschimpft worden.
"Viele sagen, es ist Blasphemie, ich dürfte dieses nicht machen, und manchen ist das egal, die sagen, das ist nicht mein Thema mit Jesus."
Auch die Galeristin Wendy Hack musste sich den Blasphemie-Vorwurf schon gefallen lassen.
"Jesus, diese Figuren werden nicht weggebrochen, die werden nur anders geformt – und das darf doch die Kunst. Und das ist das Schöne, dass wir in Deutschland leben und sowas noch hier zeigen dürfen."
"Was bedeutet es, wenn das Kreuz weg ist?"
Kunst darf nicht nur provozieren, sie soll provozieren und damit einen Diskurs anregen. Deswegen hat Wendy Hack in ihre Galerie geladen. Neben Live-Musik gibt es eine Gesprächsrunde, bei der neben den Künstlern auch ein Kunsthistoriker und eine Pfarrerin dabei sind.
"Den Opfertod Christi, den feiern wir ja in der Eucharistie jeden Sonntag. Damit ist es eben schwierig für viele Leute zu akzeptieren, ein Kruzifix zu haben, der jetzt gebrochen wird, der verändert wird, und gleichzeitig zu sehen, dass man diesen Leib Christi als Allerheiligstes in die Hand nimmt. Das ist das Problem für viele Leute, wenn sie also blasphemische Tendenzen in diesem Bild sehen", sagt der Kunsthistoriker Fritz Grosse.
Ob man die Werke Hanne Draegers nun als Blasphemie ansieht oder nicht, das ist eine Frage der Perspektive:
"Als Kunstwerk gibt es den Begriff eigentlich nicht, aber wenn man das jetzt von kirchlicher Seite her sehen würde, müsste man eben diskutieren. Man müsste sich fragen, was ist der Kreuzbegriff, was bedeutet es, wenn das Kreuz weg ist, wenn Christus vom Kreuz hinabgestiegen ist zu den Menschen. Also man kann das auch auf kirchlicher Seite ertragen, man kann das durchaus sicherlich positiv konnotieren."
"Ich erkenne darin ein Glaubenszeugnis"
Von kirchlicher Seite aus blickt Friederike Lambrich auf die Jesusfiguren. Sie ist Pfarrerin der evangelischen Kirchengemeinde Lövenich im Kirchenkreis Jülich – zwischen Aachen und Köln gelegen – und bewertet Hanne Draegers Werke durchaus positiv:
"Ich sehe das als Interpretation des christlichen Glaubens. Jesus Christus ist wahrer Gott und wahrer Mensch. Und das seh ich da. Das ist ein Glaubenszeugnis. Das geht von ihr nicht so aus, glaube ich, aber ich erkenne das darin."
Verständnis für die Leute, die empört reagieren, hat sie dennoch. Manche hätten eben Angst vor Veränderung, und Hanne Draegers Sicht auf Jesus sei neu – und sie könnte beim Betrachten die Wahrnehmung sowohl des Gekreuzigten als auch des Auferstandenen verändern. Dadurch könne Bekanntes aufgehoben werden. Friederike Lambrich trennt hier aber gar nicht:
"Ich seh da immer den Gekreuzigten und den Auferstandenen. Das entspricht der christlichen Theologie: Das ist nie nur der Gekreuzigte, das ist immer Jesus Christus, der gekreuzigte und auferstandene, weil das eben nicht beim Tod stehenbleibt, sondern danach noch das Leben kommt."
Die Kruzifixe kommen wie von selbst
Und dieses neue Leben, das Hanne Draeger Jesus schenkt, ist bunt und abwechslungsreich – und es wird weitergehen. Jesus wird noch in viele weitere Rollen schlüpfen, Ideen hat sie schon unzählige in ihrem Kopf. An Nachschub mangelt es der Künstlerin ebenfalls nicht, denn die Kruzifixe kommen mittlerweile fast wie von selbst zu ihr.
"Man schenkt sie mir, ich sage, ich brauche die, und dann legt man die schon manchmal vor meine Haustür, und ich weiß gar nicht, von wem die sind. Manchmal ist ein Zettel dabei, manchmal nicht, und manchmal kaufe ich die auch auf dem Flohmarkt. Ja, das sind alles benutzte, gelebte Jesusfiguren – ich nehme was ich kriegen kann."