Änne Seidel: Die Postboten in Kassel haben zurzeit ganz schön schwer zu tragen. Und das liegt nicht nur an der Weihnachtspost, das liegt auch an der documenta. Die Organisatoren der Kunstausstellung haben vor einigen Wochen eine Sammelaktion gestartet. Und seither landen in den Taschen der Kasseler Briefträger immer wieder Bücher von Thomas Mann, von Kurt Tucholsky, von Heinrich Heine und von all den anderen Autoren, die unter den Nationalsozialisten verboten waren. Genauso wie Bücher aus anderen Teilen der Welt, die irgendwann mal irgendwo verboten waren oder noch verboten sind.
Aus all diesen Büchern soll im kommenden Jahr auf der documenta, deren Medienpartner das Deutschlandradio ist, ein Kunstwerk gebaut werden: Der "Parthenon der Bücher", ein Projekt der argentinischen Künstlerin Marta Minujín. 100.000 Bücher braucht sie für ihren Tempel der verbotenen Bücher.Und um sicher zu gehen, dass auch wirklich nur verbotene Bücher verbaut werden, bekommt die Künstlerin, bekommt die documenta wissenschaftliche Unterstützung von der Universität Kassel, und zwar in Person der Literaturwissenschaftlerin Nikola Roßbach.
Gemeinsam mit ihren Kollegen und ihren Studenten prüft und validiert sie die gespendeten Bücher. An sie ging zuerst die Frage: Wie hoch stapeln sich die Bücher mittlerweile, wie viele haben Sie schon zusammen?
Nikola Roßbach: Oh, das ist immer schwer zu sagen, weil wir immer noch auf ein paar große Verlagspakete warten. Dankbarerweise haben sich einige Großverlage auch bereit erklärt zu spenden. Ansonsten ist es noch ein wenig geheim. Meine Studenten sind die ganze Zeit damit beschäftigt, diese Bücher anzuschauen, zu validieren, mit den Listen abzugleichen, die wir vorher erstellt haben, und es kommen dabei immer wieder interessante Funde heraus auf jeden Fall.
Seidel: Unter den Büchern, die bisher bei Ihnen eingegangen sind, sind wahrscheinlich viele deutschsprachige Bücher, nehme ich mal an. Wie viele Bücher bekommen Sie denn aus anderen Teilen der Welt? Können Sie dazu schon was sagen?
Roßbach: Auch das ist nicht so einfach zu sagen. Es gibt immer wieder Einzelfunde. Es werden Bücher eingesandt von arabischen Schriftstellern, oder auch ein chinesisches Buch ist eingegangen. Wir haben allerdings innerhalb Deutschlands verschickt die Schriften des Dalai Lamas zugesandt bekommen. Da ist durchaus noch Potenzial, diese globale Dimension, die wir auf unseren Listen bereits realisiert haben, dass die sich in der Spenderaktion noch niederschlagen muss, damit gerade diese globale Komponente sich auch dann im Kunstwerk wiederspiegeln wird.
"Diese Liste ist vollkommen unabschließbar"
Seidel: Diese Listen, die Sie angesprochen haben, die Sie erstellen, Listen mit verbotenen Büchern, welche Weltregionen haben Sie denn da schon erschlossen?
Roßbach: Da ist im Grunde jede Weltregion da. Allerdings muss man immer sagen, dass es natürlich insgesamt ein komplett aporetisches Projekt ist. Diese Liste ist vollkommen unabschließbar. Man kann gar nicht rausfinden, was wo wann überall zensiert wurde, weil natürlich vieles auch einfach in der Schublade bleibt oder direkt vor dem Druckprozess sozusagen verschwindet.
Es ist so, dass wir Länder wie Algerien, Malawi und Südafrika dabei haben aus dem Kontinent Afrika. Wir haben chinesische Bücher dabei, Russland, wir haben natürlich aus Südamerika einige Bücher der Diktaturen. Marta Minujin hat ihr Projekt damals ja 1983 anlässlich des Endes der argentinischen Diktatur realisiert und insofern haben wir auch viele argentinische Listen eingespeist beziehungsweise Bücher von Listen, die da noch existieren. Chilenische Bücher. Wir haben aber auch Spanien dabei, die Niederlande.
Ein ganz großer Teil ist natürlich Deutschland und wenn man in die Vergangenheit schaut, das alte Reich, das auch von dem Index Librorum Prohibitorum der Katholischen Kirche stark beherrscht wurde. Auch der ist Teil unserer Liste geworden.
Seidel: Gab es bei dieser Arbeit Überraschungen? Sind Sie vielleicht auch auf ein Land gestoßen, von dem Sie bislang gar nicht wussten, dass es dort überhaupt Bücherverbote gibt oder gab?
Roßbach: Vielleicht ist es erstaunlich, dass auch in den USA sehr viel verboten war als einem sehr doch liberalen demokratischen Land, und das dann immer aus pietistisch-sittlichen Gründen. Werke wie "Huckleberry Finn" oder "Harry Potter", das wissen wir, die dann immer in bestimmten School Districts zum Beispiel verboten waren und dort aus den Büchereien verbannt wurden und den Lehrplänen. Das war vielleicht für mich doch eine neue Erkenntnis, wie durchgreifend das als Gegenwartsphänomen immer noch da ist.
Seidel: Das heißt, die Gründe, aus denen Bücherverbote verhängt wurden oder verhängt werden, die sind doch sehr unterschiedlich.
Roßbach: Die sind unterschiedlich. Allerdings kann man es schon, ich würde mal sagen, auf drei große Aspekte zurückführen: Erstens politische Gründe, zweitens religiöse Gründe und drittens sittlich-moralische Gründe, und unter letzteren würde ich auch so geschlechterpolitische Gründe sehen. Vielleicht kann ich da ein Beispiel noch mal nennen. In afrikanischen Staaten, die muslimisch geprägt sind, sind sehr viele Bücher verboten aus geschlechterpolitischen Gründen, wo nicht nur Homosexualität dargestellt wird. So was ist unter Höchststrafe verboten. Sehr häufig Malawi haben wir da als ein Beispiel, aber auch Simbabwe. Aber auch einfach so die Darstellung von Sexualität, die ja doch in vielen Büchern zur Sprache kommt. Die wird zensiert in einer sehr radikalen Art und Weise, was wir hier in Mitteleuropa so nicht kennen.
"In der Liste zeigen wir die allumfassende Denk-, Schreib- und Lesezensur"
Seidel: Wie gehen Sie um mit Büchern, die früher mal von diktatorischen Regimen propagiert wurden und in heutigen Demokratien verboten sind, zum Beispiel mit einem Buch wie "Mein Kampf"? Das ist in Deutschland zwar mittlerweile wieder erlaubt, ist ja vor einem Jahr als kommentierte Neuauflage erschienen, aber es war viele Jahrzehnte lang verboten. Wie gehen Sie mit dieser Art von verbotenen Büchern um?
Roßbach: Das ist gut, dass Sie das ansprechen, weil sich genau hier der Unterschied des Kunstwerks als eines politischen Statements und unserer wissenschaftlichen Liste zeigt. Zu unserer wissenschaftlichen Liste unterscheiden wir nicht zwischen böser und guter Zensur. Wenn in der sowjetischen Besatzungszone die Bücher mit nationalsozialistischem Gedankengut verboten waren, dann sind sie trotzdem Bestandteil unserer Liste, weil wir auch diesen Teil der deutschen Geschichte nicht ausblenden wollen. Es gab diese Massen von Büchern und sie wurden erst geschätzt und danach in einem Umkehrakt verboten. Das wollen wir zeigen.
Es ist aber trotzdem ganz eindeutig eine Richtlinie, eine Entscheidung der Künstlerin, dass rassistische nationalsozialistische Bücher, Bücher mit kinderpornografischen, mit volksverhetzenden Elementen nicht Teil des Kunstwerks werden. Wir zeigen praktisch verschiedenes. In der Liste zeigen wir die allumfassende Denk-, Schreib- und Lesezensur. Das Kunstwerk ist ein politisches Statement der Künstlerin Marta Minujin, wo nicht automatisch alles, was auf den Listen steht, was in der Welt mal verboten war und was wir heute oft als berechtigt verboten empfinden, Stichwort Nazi-Literatur, das ist nicht Teil des Kunstwerks.
Seidel: Am Ende Ihrer Arbeit wird zum einen das Kunstwerk stehen, der Parthenon der Bücher. Was nehmen Sie darüber hinaus an wissenschaftlichen Erkenntnissen mit?
Roßbach: Wir haben versucht, eine Liste der globalen Zensur zu erstellen. Ich habe schon gesagt, dass es ein Ding der Unmöglichkeit ist. Dennoch ist das etwas, was ich den größten Erkenntnis-Effekt dieser Arbeit finde: Diese Allumfassenheit der Zensur, des Denkverbots. Wir leben in einer Gesellschaft, in der uns das nicht täglich begegnet, aber um uns herum sind sehr viele Gesellschaften, die davon ganz stark betroffen sind. Und diese allumfassende Verbotssituation, die ja gerade wieder sehr aktuell wird auch bei unseren direkten Nachbarländern teilweise, das ist schon etwas, was uns sehr beschäftigt und wo wir denken, dass dieses Kunstwerk auch ganz plastisch zeigen kann, welche Geschichte der Zensur die Menschen geschaffen haben.
Seidel: Das heißt, wenn Sie sich die Welt als Ganzes angucken, dann würden Sie sagen, dass Denkfreiheit da doch eher die Ausnahme ist?
Roßbach: Das muss ich leider unterschreiben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.