Egidio Marzona steht im Lipsiusbau der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden vor einer, genau vor seiner, Sammelvitrine. Er schaut auf die Arbeiten einiger Lieblingskünstler, auf Filz- und Glasobjekte, auf ein Schachspiel aus Kork, Stoff und Sand, auf einen Lederkoffer: "Das ist die berühmte Boîte-en-Valise von Duchamp, Gilbert & George, El Lissitzky, Beuys, Broodthaers, Richter und Flanagan."
Bekannte Kunst ganz neu aufgeladen
Egidio Marzona – Sammler, Mäzen, ein Bielefelder Weltbürger mit italienischen Wurzeln – ist aufgeregt und berührt zugleich. Der Vitrinenturm in der Ausstellung "Das ganze Leben – Archive und Wirklichkeit" steht eigentlich in seinem Wohnzimmer. "Dieser Kasten, der eigentlich bei mir in der Ecke steht, den ich wahrscheinlich gar nicht so wahrnehme wie er mir jetzt hier erscheint, das ist natürlich frappierend."
Denn in einer der spektakulärsten Kunsthallen von Dresden, zwischen luftiger Kuppel und vom Krieg zerstörten Wandfriesen, hat Künstlerin Ala Younis der Vitrine in drei Metern Höhe bunte, abstrakte und collagenhafte Zeichnungen gegenübergestellt und sie damit "ganz neu aufgeladen".
Egidio Marzona: "Und ich freue mich natürlich ganz besonders, dass viele Künstler eingeladen worden sind, mit dem Archiv zu arbeiten, und das ist natürlich auch für meine Sicht ein sehr interessantes Experiment."
Der Dresdner Lipsiusbau als großes Labor
Rund zehn Künstler haben sich mit Marzonas Sammlung intensiv auseinandergesetzt. Mit ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Eine riesige Posterwand mit Motiven aus zwei Comicsammlungen und ein komplett tapezierter Kalenderraum - Abreißkalender inklusive -, damit steigt Olaf Nicolai in die Archiv-Ausstellung ein. Die südafrikanische Kuratorin und Künstlerin Gabi Ngcobo untersucht Formen der Arbeit mit Archivmaterial für die Gegenwart in einem Film: "Es gibt so viele Afrikaexperten in Europa, hier in Deutschland." Und die niederländische Konzeptkünstlerin Mathilde ter Heijne macht in einer bewegenden Postkarten- und Video-Installation vergessene Archivalien und Biografien lebendig: "Wir haben in Afrika keine Europaexperten, wo werde ich wahrgenommen wenn ich sage, ich bin ein Münchner Experte?"
Egidio Marzonas Archiv der Avantgarden des 20. Jahrhunderts umfasst rund 1,5 Millionen Objekte aus allen Künsten und Kontinenten. Dieses private Archiv verwandelt sich nun – auch vor den Augen der Besucher – in eine öffentliche Sammlung. Der Dresdner Lipsiusbau scheint wie ein großes Labor. Noch gibt es keine Datenbank, keine vollständige Bestandaufnahme.
Maßlosigkeit als Prinzip
"Bei Egidio Marzona ist sozusagen die Fülle, die Überfülle das Prinzip", sagt Marion Ackermann, Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. "Es hat auch eine gewisse Form von Maßlosigkeit. Es geht immer um die Spannung zwischen Form und Formlosigkeit."
Maßlosigkeit als Prinzip einer über alle Maßen komplexen Sammlung. Jetzt tritt sie in einen neuen interdisziplinären, interkulturellen, aber auch politischen und ästhetischen Dialog. "So ein komplexes Archiv ist ja auch ein Spiegel unserer globalen Welt, der Einzelne kann es nicht mehr erfassen. Und was dieses Archiv zeigt, dass wir viele Stimmen brauchen, viele Perspektiven künstlerische, theoretische aus unterschiedlichen auch kulturellen Kontexten, die das Archiv durch ihren Beitrag aktivieren."
Archive und Akademie, Exkursionen und Kongress, Performances und Zukunftslabor, Tutorials und natürlich die Ausstellung selbst, das alles vereint der internationale Sichtungskongress unter dem Titel "Das ganze Leben. Archive und Wirklichkeit". Was kann das Archiv der Avantgarden für die nächsten Generationen leisten? Egidio Marzona will auch, dass seine Sammlung berührt. "Das heißt, ich möchte auch den Spagat versuchen, das Sinnliche, das auch in einem Archiv sein kann, Sinnlichkeit wird ja nicht mit einem Archiv verbunden, das wieder zu wecken."