"Metabolic Poetry" und "Guided Meditation" steht auf der Ankündigung. Mitten in der Innenstadt von Athen lädt ein kleiner weißer Zettel dazu ein, Körper und Geist mal richtig durchzulüften. Was sich esoterisch anhört, ist eigentlich ein Kunst-Event. Die US-amerikanische Künstlerin Angie Keefer empfängt zu einer Art Workshop, samt Lesung und Meditation.
Das Ganze findet in zwei kleinen Räumen statt, zwei Minuten vom geschäftigen Syntagma-Platz entfernt. Fast 50 Leute sind gekommen. Der Kunstraum wird angemietet von "Radio Athènes", einer Non-Profit-Kunst-Organisation.
Gründerin Helena Papadopoulos: "Wir haben 2015 angefangen. Die Idee war, ein Institut oder eine Vereinigung für zeitgenössische Kunst zu schaffen. Wir haben keine großen Geldmittel. Wir haben diese kleinen Räume hier als eine Art Headquarter. Den Rest stecken wir fast alles in Inhalte und Kunst. Ob Ausstellungen, Talks, Screenings oder Publikationen."
Großes Potenzial, kleines Budget
"Flexibel, unabhängig, nomadisch und interdisziplinär" nennt Papadopoulos ihr kreatives Sammelbecken. Viele lokale und seit der Documenta auch internationale Künstler wirken daran mit: "Als wir 2015 anfingen, gab es noch nicht so viele unabhängige Kunsträume. Mit der Documenta hat sich das aber geändert. Mehr und mehr solcher Formate sind entstanden. Bis heute sind die meisten aber privat und nicht-profitabel. Die wenigsten sind kommerzielle Galerien, die Mehrheit so wie wir."
Das kreative Potenzial ist groß. Das vorhandene Budget ist klein. Die Krise ist weiter spürbar. Not macht erfinderisch. "Radio Athènes" muss zum Beispiel für jedes Projekt neu Gelder sammeln und Kooperationen ausloten, das heißt, man operiert nicht mit einem festen Budget und festen Partnern, wie das die meisten Institutionen in Deutschland machen.
Flache Hierarchien, wenig Programmatisches, dafür viel Spontanes und Vorübergehendes - so präsentiert sich die Athener Kunstszene. Die Documenta vor zwei Jahren - mit 340 000 Besuchern in Athen - hat zwar nicht beim Geld, aber zumindest in Sachen internationaler Aufmerksamkeit Spuren hinterlassen, meint Papadopoulos: "Athen war Gesprächsstoff in den Künstlerkreisen rund um die Welt, auch bei Kunstinteressierten. Und das hat Dinge verändert. Zum ersten Mal kommen Leute her, nicht weil sie die Inseln oder das Parthenon sehen wollen, sondern weil sie die gegenwärtige Kunstszene erkunden wollen."
Und auch junge Künstler aus ganz Europa kommen heute eher nach Athen und lassen sich hier nieder. Oder sie kehren zurück, wie Künstlerin Rallou Panagiotou, die hier aufwuchs und studierte, später nach Glasgow ging und jetzt wieder in ihrer Heimat lebt: "Die Documenta hat die Idee von Athen neu belebt. Als Wiege Europas, als Mythos."
Ob die Kunstschau auch ganz direkt die Lage für die lebenden Künstler hier verbessert habe? Panagiotou zögert, dann sagt sie: "Es geht, glaube ich, nicht um einen direkten Effekt. Das ist eine Sache, die man ganzheitlich und langfristig betrachten muss."
Attraktive Stadt für Künstler
Wer sich unter Künstlern umhört, erfährt jedenfalls immer wieder so viel: Wohn- und Arbeitsraum sind in Athen vergleichsweise günstig, der Lebensstandard, Essen und Wetter gut, die Metropole bietet Inspiration und wenig Einstiegshürden.
Die große Leerstelle bleibt aber inmitten der vielen unabhängigen Kunstinitiativen die eine große Institution für Gegenwartskunst, die alle herbeisehnen. Auch Helena Papadopoulos: "Wir brauchen jetzt langfristige Strukturen und öffentliche Institutionen, die eine kulturelle Bedeutung übernehmen - und nicht nur der Spielball der Politik sind. In Griechenland ist es so, wenn eine neue Regierung kommt, ändert sich alles im kulturellen Sektor, was eine kontinuierliche Entwicklung sehr, sehr schwierig macht."
Bestes Beispiel: Etwas weiter im Süden, nicht weit von der Akropolis, befindet sich in einem ehemaligen Brauerei-Gebäude das National Museum of Contemporary Art, kurz EMST, oder das, was alle hier die "Idee" eines Museums nennen.
2017 für die Documenta war es der Hauptausstellungsort. Doch bis heute hat es nicht geöffnet. Kein Konzept, kein Programm, noch nicht einmal eine Direktorin. Alle Interviewanfragen blieben unbeantwortet. Nur so viel erfährt man auf der Homepage: "Die Vorbereitungen laufen." Bald soll die permanente Sammlung der Öffentlichkeit gezeigt werden. Aber das heißt es schon lange…
Wer die auch auf dem Kunstmarkt aufstrebenden griechischen Künstler sehen will, geht am besten zu einer der renommierten internationalen Galerien wie "The Breeder" im Nordwesten der Stadt. Aktuell zeigen sie hier Lena Kitsopoulou, eigentlich eine Film- und Theater-Regisseurin, die auch mit Pinsel, Acrylfarbe und Spraydose umzugehen weiß. Ihre verstörenden Familienporträts erinnern an Gemälde von Maria Lassnig und Francis Bacon.
Galeristin Nadia Gerazouni hat nicht viel Zeit, dafür viel Arbeit. Der Markt für Gegenwartskunst in Griechenland sei schwierig, sagt sie, Theater und Literatur seien nach wie vor die massentauglicheren und angeseheneren Kunstformen, aber das eröffne auch Chancen: "Die Krise hat die Leute hier vom Markt befreit. Wenn es keinen Markt gibt, dann kannst du auch nicht kommerziell sein. Es ist also die Zeit, in der du Ideen und Grenzen austesten kannst - und richtig frei sein kannst. So entsteht wirkliche Meinungsfreiheit."
Wird seit der Documenta mehr Kunst verkauft? Nein. Der ein oder andere Künstler sei bekannter geworden, ja. Bestes Beispiel: Andreas Angelidakis, der mit seiner Schaumwürfel-Installation "Demos" im Fridericianum in Kassel nicht zu übersehen war. Generell meint Galeristin Gerazouni: "Die Documenta hat Athen Aufmerksamkeit gebracht. Es gab und gibt einen Zulauf an Kreativen und Machern."
Die Krise als Thema der Kunst
Einer, der schon sein ganzes künstlerisches Leben hier ist und alle zwei Jahre das größte Athener Kunstevent, die Biennale, organisiert, ist der Künstler Poka-Yio. Er äußert sich auch kritisch über die Documenta in Athen 2017: "Als die Documenta kam, wollte sie mit unabhängigen Initiativen zusammenarbeiten, aber letztlich hat sie dann fast nur mit staatlichen Einrichtungen kooperiert, das hat viele Leute hier enttäuscht."
Auch ein Engagement mit seiner Biennale scheiterte. Hängen geblieben sei eher wenig. Die staatlichen Institutionen seien nach wie vor träge und unbeweglich sowie risikoscheu, soziale Absicherungen fehlten, kulturell verlässt man sich voll und ganz auf den Glanz der antiken Schätze: "Je länger die ökonomische Entwicklung stagniert, umso mehr bleiben wir in unserer Vergangenheit stecken. Wir werden ein großes Museum", befürchtet Poka-Yio und sorgt sich auch um den Rechtsruck im Land. Die beiden rechtspopulistischen Parteien "Die Griechische Lösung" und die "Goldene Morgenröte" kamen bei den Europawahlen im vergangenen Jahr zusammen auf fast 10 Prozent.
All das seien die Folgen der Schuldenkrise. Das bleibt weiterhin das Thema, das die Gegenwartskünstler in Athen und Griechenland beschäftigt und auf das man eine Antwort suche: "Wir haben eine Tragödie erlebt. Aber wir haben es kulturell immer noch nicht geschafft, daraus etwas Aussagekräftiges zu machen, eine Geschichte zu erzählen. Wenn das der Trojanische Krieg ist, fehlt uns Homer, der von dieser Tragödie berichtet. Dabei ist das eine ganz wichtige Sache, eine große Lehre. Was passiert nach der Krise? Wir müssen das wissen!"
Eine Antwort darauf konnte die Documenta 2017 unter dem Motto "Von Athen lernen" nicht liefern. Trotzdem sind Optimismus und Aufbruchsstimmung in der freien Athener Kunstszene bemerkenswert. Es wird experimentiert, mehr und mehr Leute beteiligen sich und vielleicht finden sich einige kleine Krisen-Erklärungen schon im Herbst dieses Jahres auf der nächsten Athen Biennale. Es muss ja nicht gleich ein Homer sein.