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Kunstvoll und irritierend

Mit seinem Roman-Debüt "Das große Leuchten" hat sich Andreas Stichmann einen Platz in der vorderen Reihe der Nachwuchsautoren erobert. Die Geschichte über drei Jugendliche auf der Suche nach sich selbst führt bis in den Iran und lässt den Leser irritiert, aber doch begeistert zurück.

Von Detlef Grumbach |
    "Ich habe hundertprozentig immer diese Disziplin, wenn man für irgendwelche Preise nominiert ist, mir einzureden, dass ich auf gar keinen Fall gewinne. So war es auch. Ich hab gedacht, ok, das war gut, aber ich werde nichts kriegen."

    Sehr viel mehr gibt es für den 1983 in Bonn geborene Andreas Stichmann nicht zu berichten über seine Erfahrungen, die er bei dem diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt gesammelt hat. Dabei hätte er durchaus Hoffnung schöpfen können, so angetan zeigte sich die Jury von dem Text, der auch in seinen soeben veröffentlichten Roman "Das große Leuchten" eingegangen ist. Aber so hat er das Drumherum genossen und konnte am Ende halbwegs zufrieden abreisen:

    "Wenn man nicht verrissen wird, macht's Spaß. Wenn man verrissen wird, wahrscheinlich nicht."

    Zwei Jungen und ein Mädchen, irgendwo zwischen dem Ende der Pubertät und dem jungen Erwachsenen-Alter, Rupert, Robert und Ana, stehen im Zentrum seines Romans. Ruperts Mutter führte das ebenso unverbindliche wie unstete Leben der Hippies und konnte dem Sohn keine Orientierung geben. Irgendwann findet Rupert sie tot in der Badewanne. Seitdem lebt er bei Frances, einer Freundin der Mutter, die sich aus dem Hippie-Dasein ins Religiöse und aufs Land geflüchtet hat. Ihr Sohn Robert ist Rupert wie ein Bruder. Ihre Väter kennen beide nicht. Bei ihren Streifzügen durch die Umgebung lernen sie Ana kennen. Ana kam als Baby mit dem Vater aus dem Iran nach Deutschland. Wo die Mutter abgeblieben ist, bleibt rätselhaft: Der Vater ist nie richtig angekommen und trinkt. Rupert verliebt sich in Ana. Aus seiner Perspektive wird der gesamte Roman erzählt.

    "Was mich interessiert, ist diese Situation, wenn jemand in so Umständen aufwächst, in so extremen Umständen, dass das Auswirkungen hat auf seine ganze Wahrnehmung der Welt. Er ist einfach nicht strukturiert, voller Fantasien und verläuft sich permanent. Das ist, glaube ich, ein generelles Problem, das viele Menschen haben und andere nicht, dafür muss man keine Hippie-Eltern haben, um sich einer chaotischen Welt gegenüberzusehen. Das Problem ist das Chaos der Welt, das man nicht geordnet bekommt."

    Jede der drei Figuren geht ihren eigenen Weg, mit dem Chaos zurechtzukommen. Robert kokettiert mit seiner Schizophrenie und beschäftigt sich mit Parapsychologie. Ana zieht herum, nimmt sich alle sexuellen Freiheiten heraus, klaut und spart für einen Wohnwagen. Sie fantasiert sich ihre Mutter als kommunistische Widerstandskämpferin im Iran zurecht und will zu ihr.

    Rupert lebt wie in einem Tagtraum, verfällt dem Zauber Anas, sehnt sich aber nach Ordnung und sieht sich schon in trauter Zweisamkeit mit ihr in einer warmen Wohnung. "Einsteigen" heißt ein zentrales Kapitel des Romans, das Stichmann in Klagenfurt gelesen hat. Es erzählt davon, wie Rupert in seinen Traum, in das Haus, das Leben einer fremden Familie einsteigt, sich die Realität der anderen aneignen will. Aber was nimmt er tatsächlich wahr und wo verläuft die Grenze zu seinem Bewusstseinsstrom, auf dem er dahingleitet? Was bedeutet Realität? Wovon träumt er?

    "Irgendetwas, auf das man bauen kann, das nicht im nächsten Moment wieder anders ist. Und das ist das Problem. Weil das hängt eben doch stark damit zusammen, in welchem Umfeld man lebt und ob es klare soziale Strukturen gibt. Dann gibt es auch eine klare Realität, in der man sich bewegt. Und so extreme Einsamkeit oder eine extrem chaotische Situation, in der er selber ist, führt dann eben dazu, dass das, was sich herstellt, für ihn schon real ist, aber es lässt sich nicht darauf bauen. Die Realität ist eben das nicht erreichbare, wo er ankommen will. Während man als Leser eigentlich permanent den Eindruck hat, dass er immer in einer Traumwelt herumläuft, ist es aber gleichzeitig so, dass man als Leser nicht weiß, was jetzt in Wirklichkeit passiert, weil es gibt ja nur seine Perspektive."

    Zwei Erzählstränge verknüpft der Autor in seinem Roman: Zum einen Ruperts Leben zu Hause, Rückblenden in die Kindheit und die Liebesgeschichte mit Ana. Am Ende ist Ana verschwunden, Rupert glaubt, dass sie zu ihrer Mutter ist. Dort will er sie wiederfinden, und so erzählt Stichmann zum anderen von Ruperts abenteuerlichen Reise zusammen mit Robert in den Iran. Die äußere Welt bedrängt den Helden: "Das riesige Feld der Startbahnen. Aus dem Iran-Air-Flieger heraus gesehen. Vor dem Abflug." Von diesem Stakkato hebt sich der Erzählton ab, indem er vom Fortgang des Geschehens berichtet. Subjektive Eindrücke bestimmen die Handlung, mit der Macht der Suggestion schafft er sich seine eigene Wirklichkeit.

    "Das ist so, dass sowohl Rupert unheimlich viel in Ana hineininterpretiert und sie ganz viel auflädt mit Dingen, die nicht wirklich in ihr sind, als auch, dass Ana auch ganz viel an ihrer Mutter, die im Iran ist, herumfantasiert und da eine riesen Geschichte draus macht, die nicht wirklich mit der Realität kompatibel ist. Es gibt auch noch andere Figuren, die ein bisschen so ticken, dass die Menschen, auf die man trifft, immer extrem aufgeladen sind mit eigenen Sehnsüchten oder Hoffnungen, dass die sich eben nicht auf einer nüchternen Ebene begegnen und einfach sagen, wir lernen uns kennen, sondern sie haben übersteigerte Hoffnungen und Ängste und begegnen sich dadurch nicht wirklich, weil sie den anderen gar nicht sehen, sondern nur ihre eigenen Projektionen."

    Wie Ruperts Wahrnehmung zwischen den Ebenen changiert, wird gleich zu Beginn des Romans beim Start des Fliegers deutlich: "Das Flugzeug rollt. Der berühmte Menschheitstraum aus Kabeln und Drähten ... Und wie die Erde unter uns wegfällt und sich die Landschaft schräg ins Fenster schiebt." Die Wirklichkeit rutscht weg, Rupert hat sich sofort als strahlenden Held vor Augen, der Ana wiedergefunden und aus großer Gefahr gerettet hat. "Auf dem Monitor", so weiter, "läuft ein Actionfilm."

    Zwischen Realität und Vorstellung oszillierend führt Andreas Stichmann seine Figuren nach der Landung in Teheran hinein in das Leben einer iranischen Großfamilie, in den Basar und die Halbwelt. In einer Art Roadmovie fahren Rupert und Robert durch eine karge Wüstenlandschaft ans Kaspische Meer, begegnen einem Derwisch und stehen schließlich am Grab von Anas Mutter. Rupert fühlt sich als nicht vorhanden in der Welt. Sucht er Ana, oder sucht er sich selbst? Die Idee, seine Figuren mit einem iranischen Clan und dem Hokuspokus eines Derwischs zu konfrontieren, entstand aus vorangegangenen Arbeiten. Von Rupert und Robert hat Andreas Stichmann schon in seinem Debüt, dem Erzählungsband "Jackie in Silber" erzählt. Die Begegnung mit einem jungen Iraner hat sein Interesse am Alltag in einer völlig entgegengesetzten Erfahrungswelt geweckt. So entstand die Idee zu diesem erstaunlichen Roman und Stichmann machte sich auf den Weg.

    "Und dann habe ich im Iran Couchsurfen gemacht, das ist eine Internetplattform, wo man sich mit Leuten verabreden kann, die man dann privat trifft und bei denen man dann übernachtet, und da gab es relativ viele, die das im Iran machen, was mich gewundert hat, aber das war perfekt für die Recherche, weil man nicht im Hotel schläft, sondern vom ersten Tag an in irgendwelche Familien reinkommt und Leute privat kennenlernt."

    Sechs Wochen war Stichmann im Iran unterwegs. Er erzählt, beobachtet genau, fasziniert den Leser mit Eindrücken, die jedes Klischee Lügen strafen. Und doch erzählt er, egal ob Rupert zu Hause ist oder unterwegs, nicht realistisch. Er vermittelt ein Bild, oder besser: die Suche nach einem Bild. Rupert blinzelt, nimmt die Wirklichkeit als Folge einzelner Bilder wahr. "Blinzeln", so sagt Rupert sich einmal, "bedeutet Angst haben." Angst vor dem Standbild, der Ordnung, die sich dahinter verbirgt, die er aber doch sucht. Wie ein roter Faden zieht sich deshalb das Motiv des Nicht-Blinzelns durch den Roman. So sitzt Rupert vor dem Haus, schaut auf das leuchtend gelbe Rapsfeld, sieht vor sich "Das große Leuchten" – so der Titel des Romans. Und dann blinzelt er nicht mehr, die Farben und Flächen verschwimmen, und irgendwann wird dahinter, so hofft er, "das Niegesehene sichtbar: die wirkliche Welt und darin sicherlich so etwas wie eine Struktur."

    Doch Ana bleibt verschwunden, sie war gar nicht im Iran, sie hat ihn schlicht sitzen gelassen. So viel wird zumindest klar. Alles andere bleibt in diesem großartigen Roman auf so kunstvolle und irritierende Weise in der Schwebe, dass der Rezensent ihn mit anhaltender Neugier sofort ein zweites Mal gelesen hat. Am Ende sitzt Rupert wieder zu Hause, Plikplikplik macht seine Schreibmaschine. Schreiben, was war, nicht Suggestion, so versucht er durch die Iran-Reise ein wenig geläutert, wenigstens ein bisschen Ordnung in sein Chaos zu bringen. Dass darin eine große Möglichkeit der Literatur besteht, davon ist auch Andreas Stichmann überzeugt. In Klagenfurt hat er keinen der Preise gewonnen, doch hat er sich mit seinen im Mairisch-Verlag erschienenen Erzählungen und diesem Roman-Debüt schon jetzt einen Platz in der vorderen Reihe der Nachwuchsautoren erobert.

    "Ich finde es total zentral, Literatur und Schreiben auch für mich persönlich, um eine Realität herzustellen. Ich glaube, auch jemand, der nicht schreibt, erzählt sich, wenn er sein Leben betrachtet, auch immer eine Geschichte, indem man Zusammenhänge entwickelt, die man auch anders sehen oder interpretieren könnte. Aber man entscheidet sich für eine Perspektive und ist damit schon dabei, eine Geschichte zu erzählen."

    Andreas Stichmann: Das große Leuchten
    Rowohlt Verlag 2012, 236 Seiten, EUR 19,95