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Kurdenkonflikt in der Türkei
Der verschwiegene Krieg

Im Juli 2015 erklärte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan den Friedensprozess mit der PKK für gescheitert. Seitdem gehören Ausgangssperren und Feuergefechte für hunderttausende Kurden im Südosten des Landes zum Alltag, 200 Zivilisten sollen getötet worden sein. Doch in der Türkei wird der Konflikt kaum beachtet. Denn die Medien schweigen.

Von Luise Sammann |
    Eine Frau in der Stadt Diyarkir (Türkei), die ihr Gesicht schützt, während sich türkische Polizisten und PKK-Anhänger Gefechte mit Tränengas liefern.
    Eine Frau in Diyarbarkir schützt ihr Gesicht vor Tränengas, das in den Gefechten zwischen der Polizei und PKK-Anhängern zum Einsatz kommt. (AFP/Ilyas Akengin)
    Der alte Mann bricht weinend über dem Sarg seines Sohnes zusammen. Mehrere Angehörige mit Schmerz verzerrten Gesichtern versuchen ihn zu stützen. Ein 12-jähriges Mädchen weint und schreit einige Meter entfernt. Der Tote war ihr Vater.
    Fast schon täglich bringen die türkischen Medien Bilder von Beerdigungen getöteter Soldaten. Der 49-jährige Orhan Dilekci ist einer von Hunderten, die in den letzten Monaten von PKK-Terroristen getötet wurden. Minutenlang überträgt das Fernsehen den Schmerz der Angehörigen zur Hauptsendezeit.
    Auch jeder tote Terrorist ist Thema in den Abendnachrichten, wohl um den scheinbaren Erfolg des türkischen Militärs beim Kampf gegen die PKK zu dokumentieren. Von der leidtragenden Zivilbevölkerung, den überwiegend kurdischen Bewohnern Südostanatoliens, erfährt man wenig.
    "Die Militärpanzer fahren mitten durch unsere Städte", klagt Eylem, eine 27-jährige Kurdin aus Diyarbakir.
    "Die Feuergefechte in den Straßen dauern rund um die Uhr an. Tausende von Menschen mussten ihre Häuser verlassen. Meine eigene Familie ist vor zwei Monaten geflohen. Die Kämpfe fanden direkt vor unserer Haustür statt."
    Eylem öffnet auf dem Smartphone ihre Facebook-Seite. Freunde und Nachbarn aus Diyarbakir teilen dort Bilder vom blutigen Alltag in ihrer Stadt, berichten von Frauen, die beim Brotholen erschossen wurden und von verletzten Kinder, die nicht rechtzeitig ins Krankenhaus kamen.
    "Aber in den türkischen Medien findet das alles nicht statt! Da geht es nur darum, bei jeder Explosion zu sagen, dass die Terroristen wieder eine Bombe gezündet haben oder darum, die türkischen Märtyrer zu zählen. Die Nachrichten sind absolut einseitig und viel zu wenig."
    Medien berichten nur über türkische "Märtyrer"
    Tatsächlich ist in weiten Teilen der Türkei wenig von dem zu spüren, was sich in Städten wie Diyarbakir, Cizre oder Sirnak zur Zeit abspielt. Nach fast zweieinhalbjährigen Friedensverhandlungen ist der Kurdenkonflikt neu entflammt – und diesmal wird nicht in den Bergen, sondern im Stadtzentrum geschossen. Mitten in dicht bewohnten Vierteln errichten PKK-Anhänger Barrikaden, zünden Bomben und schießen auf türkische Soldaten. Das Militär schlägt mit Panzern und Zehntausenden Einsatzkräften zurück. Ohne Rücksicht auf Zivilisten.
    "Uns erreichen Hilferufe von Leuten, die sagen: Wir sitzen mit unseren Kindern seit Wochen in einem Kellerloch und haben weder Nahrung noch Strom. Es ist kalt und überall um uns herum wird geschossen", berichtet Emma Sinclar-Webb, Türkei-Beauftragte von Human Rights Watch. "Und das Schlimme ist, dass wir in dieser Situation kaum die Todesumstände der vielen zivilen Opfer klären können. Denn kaum ein Journalist hat Zugang zu den Gebieten um das zu dokumentieren oder zu filmen."
    Kein Zugang für Journalisten in das Gebiet
    54 Mal hat die türkische Regierung in den letzten Monaten Ausgangssperren im Südosten des Landes verhängt. Ausgangssperren, die nicht nur jedes zivile Leben zum Stillstand bringen, sondern auch Medienvertretern, Anwälten, NGOs und gar Ärzten jeglichen Zugang zu den umkämpften Vierteln verbieten. Die große Informationslücke, die nicht nur in Europa, sondern auch innerhalb der Türkei herrscht, hat also System, meint die Istanbuler Medienwissenschaftlerin Ceren Sözeri.
    "Den Journalisten, die dennoch versuchen, von dort zu berichten, wird das Equipment abgenommen und ihre Bilder werden gelöscht. Während der Untersuchungshaft werden dann ihre Social-Media-Accounts durchforstet und wenn sie ganz privat irgendetwas Verwendbares geschrieben haben, drohen ihnen lange Haftstrafen wegen Terrorpropaganda."
    Und dennoch ist es nicht nur die Angst, die dafür sorgt, dass die türkische Öffentlichkeit so schlecht informiert wird. Viele Medien wollen es auch gar nicht anders, so Ceren Sözeri: Selbst traditionell Erdogan-feindliche Medien reproduzierten lediglich offizielle Regierungsberichte:
    "Das ist ein ganz altes Problem: Immer, wenn es um die Kurden geht, dann entsteht plötzlich eine Union bei den Türken. Dann gibt es keine Opposition mehr."
    Dabei wäre es wohl gerade jetzt die Aufgabe einer kritischen Presse die Frage zu stellen: Wie ein Konflikt, den 30 Jahre Waffengewalt nicht beenden konnte, nun ausgerechnet von türkischen Panzern im Stadtzentrum gelöst werden soll.