Am etwas pittoresken, etwas verschrobenen Bahnhof von Arcachon: Hier steigt vor 150 Jahren Napoleon III., ein Neffe des Korsen, aus seinem kaiserlichen Luxuszug. Und man kann sich vorstellen, als die rußige, diese öltriefende Dampflokomotive mit den Salonwagen und großer Entourage hier im Schritttempo einrollt. Die Fähnchen schwenkenden Kinder. Adjutanten, Hofdamen, Wichtigtuer, Exzellenzen.
Ein altes Bild zeigt den Herrn Oberbahnhofsvorsteher mit gezücktem Zylinder, der die Majestäten mit tiefem Bückling begrüßt. Und das funkelnagelneue Bahnhofsgebäude wird dann auch flugs zum "Kaiserbahnhof" befördert, welch eine Ehre. Blumengaben für die Kaiserin, devotes Hofgeknickse. Und wir lesen über das Pläsier des Reisens mit den neuen Dampfrössern bei Alexandre Dumas.
Die Lokomotive ließ ihr scharfes Atmen vernehmen. Die gewaltige Maschine setzte sich in Bewegung. Man hörte das kreischende Beben des Eisens. Die Laternen jagten vorüber wie die Fackeln der Kobolde beim nächtlichen Hexensabbat, eine lange Feuerspur auf unserem Wege zurücklassend.
Aus einer anderen Quelle lesen wir über die Anfänge von Arcachon:
Ehedem lag hier alles völlig einsam, verarmt. Lediglich ein Ziel für obskure Wallfahrer nach Santiago de Compostela. Dann wurde dieses Becken von Arcachon durch die dritte französische Eisenbahnlinie Paris-Bordeaux erschlossen. Und im gleichen Programm entstand dann ein kleiner Kurort. Und die Mode tat, wie im mondänen Biarritz oder im Atlantikbad Deauville, das Übrige. Sehen und gesehen werden war in der "Ville d'Hiver", in der Winterstadt, ein Gebot der Eleganz.
Überall im alten, kalten Europa ist Gründerzeitstimmung. Bankenspekulanten kaufen das spottbillige Land um Arcachon auf, Sümpfe werden abgeleitet. Wir denken uns noch weiter zurück, auf den Pfaden der Jakobspilger.
Der Saumpfad der Pilger führte durch eine absolut menschenleere Region. Vom Meer bläst, selbst an friedlichen Sommertagen, ein stetiger Wind. Die Pilger auf ihrem langen Weg waren am Ende ihrer Kräfte. Die Zunge schmeckte nach Salz, das Gesicht von der Sonne verbrannt. Um die Ohren summten und stachen die Mücken, die Wegelagerer der Region. Es war eine Route der Leiden und Plagen.
Leiden, wie eine achte biblische Plage. An sich keine Topadresse für einen neuen Kurbetrieb, den sich damals nur ein Publikum der gehobenen Kreise leisten kann. Aber man könnte das Gesundheitsrezept von Arcachon auch genau andersherum formulieren. Es ist genau dieser stetige Wind, der die mikrofeinen, jodhaltigen Wassertröpfchen von den Meereswellen abkämmt. Und die asthma- und bronchienkranken, die hüstelnden "Kameliendamen", auf die kommen wir noch explizit zurück, und die tuberkulösen Herrn im Gehrock, so sehe ich sie auf alten Fotos; so spazieren die Herrschaften damals, tief einatmend. Dazu inhalieren sie in Kurwannen Fichtennadel- und Harzextrakte, abgezapft von den Kiefern der nahen Pinienwälder. Und auch Thomas Mann beschreibt doch ähnliche elitäre "Hustenburgen" in gesunder Bergluft mit allerlei amourösen Abhuste-Übungen. Wir können uns heute, schweinegrippengeimpft, die tuberkulösen Massenerkrankungen nicht mehr vorstellen. Nur ein Stichwort:
Im Juli 1810 stirbt plötzlich die populäre preußische Königin Luise, erst 34 Jahre alt. Dahinter steckte eine nicht erkannte Lungenkrankheit. Luise war trotz aller ärztlichen Kapazitäten der berühmten Berliner Charité nicht mehr zu retten.
Und dieses Arcachon war dann wohl ein nobles Genesungssanatorium, in einzelnen Villen untergebracht. Und während ich Ihnen das erzähle, sind wir unten vom Bahnhof in der höher gelegenen "Winterstadt" angekommen. Sie liegt auf einer ehemaligen Wanderdüne.
Diese Düne ist - damals - bautechnisch so verändert, bepflanzt, mit einer Art von Windkaminen und Hohlwegen umgebaut worden, dass hier oben der harte Wind vom nahen Atlantik - der ist ja nur ein Kilometer entfernt - hier nicht auftritt. Hier oben verweht der Wind zu einem milden Lüftchen. Jede der Villen in lichter Bauweise, großen Fenstern, die frische Luft und Sonne hereinlassen. Amelie Reveleau:
"Wir sind auf dem Hügel von Arcachon, der heißt Sante Cäcilia. […] Und Napoleon III. ist eine berühmte Persönlichkeit, die hier in Arcachon ein Seebad machte. Zeitungen sprechen davon: Die Aristokratie kommt. Das ist das Debüt. Das heißt, die Aristokratie kam hierher, um ein Spezialaufenthalt zu haben: 'Ich bin in Arcachon. Ich bin eine berühmte Persönlichkeit. Ich mache eine Kur in Arcachon.'"
Also auch ein Sehen und Gesehenwerden. Und ja nicht vergessen, die Verbeugung zu machen, weil man ja vielleicht auch aus geschäftlichen Gründen mit dieser einen oder der anderen Familie sehr gerne einen Kontakt hätte. Und man musste natürlich auch ein bisschen Geld dabei haben.
"Nur ein bisschen Geld. Das sind reiche Künstler, die hier bleiben, um Spaß zu haben. Ein schöne, ein wunderbarer Überblick über das Becken zu haben und so."
Schwarz-Weiß-Fotos zeigen den Bau des fünfstöckigen Fünf-Sterne-"Grandhotels". Da soll unter anderem der Maler Henri Toulouse-Lautrec gewohnt haben. Ab 1896, da ist er 29 Jahre alt, weilt er mehrfach in Arcachon. Wir lesen:
Der Maler und Grafiker Henri Toulouse-Lautrec wird als Heranwachsender nach mehrmaligen Brüchen seiner Beine, wegen genetisch bedingter Schäden, adelige Vorfahren hatten öfter nahe Cousins oder Cousinen geheiratet, zum Krüppel. Durch sein exzessives Leben im Alkohol ist er in seinen letzten, gleichwohl noch jungen Lebensjahren psychisch und physisch zerrüttet.
Und dieser Lautrec hinterlässt ja eine Vielzahl von - ich nenn das mal Sozialreportagen - eines großbürgerlichen Milieus von hektischer Vergnügungssucht und bigotter Doppelmoral. Und dieses Vergnügen konnte man wohl auch hinter den Gardinen in Arcachon leben; oder sich im nahen Bordeaux besorgen lassen. Die Frauenporträts und Tanzstudien von Toulouse-Lautrec könnte man unter dem Stichwort Moulin-Rouge zusammenfassen. Und diese käuflichen "Kameliendamen", die Lautrec malt, die schwindsüchtig auf dem letzten Loch pfeifen und sich als Edelkurtisanen vielleicht durchaus eine Kur leisten könnten? Toulouse-Lautrec ist hier vom Suff schon "demoliert", aber er zeichnet noch. Er besucht, beispielsweise die Proben zu einer Operette von Jaques Offenbach, und hält eine Szene mit einer hinreißend hingeworfenen Tuscheskizze fest. Und jetzt kommen wir auf den Punkt.
Einer, der aussieht wie Lautrec, verkrüppelt, dazu bekifft, war immer streng öffentlich. Man war Kurgespräch, man war Teil der Therapie. Ich habe hier ein Foto ausgegraben. Es zeigt Lautrec entspannt auf dem Rücken im Wasser schwimmend. Sein bärtiger Kopf guckt aus dem Wasser, man erkennt seinen Körper in der Größe eines - vielleicht - 14-Jährigen. Und wir lesen:
Lautrec weilt an der Bucht von Arcachon. Er mietet eine Villa und erholt sich vom Morgen bis zum Abend, was er sehr nötig hat. Er rudert, begleitet die Fischer auf See oder geht an Bord der Jacht eines Bekannten. An Land verursacht er unliebsame Aufmerksamkeiten. Die Leute schütteln die Köpfe und schicken dem Zwerg missbilligende Blicke nach. Lautrec humpelt den Strand lang und zieht an einem langen Strick den Kormoran Tom hinter sich her, der genauso watschelt. Lautrec fischt mit Tom in der Bucht und lässt ihm im Café Absinth vorsetzen Er ist auf den Geschmack gekommen, meint Lautrec.
Später knallt ihm – hier - ein Jäger den Vogel ab. Lautrec kommt noch einige Male nach Arcachon zurück, gewinnt auch eine Regatta. Schließlich bricht er 1901 hier in der Bucht mit einem Anfall zusammen. Er stirbt, nur 36 Jahre alt, im Schloss seiner Mutter, unweit von Bordeaux.
Zurück in die Winterstadt, in den "Maurischen Park":
"Hier im 'Maurischen Park' können in dieser Epoche viele Künstler und Aristokraten eine Promenade machen, weil: Im Zentrum von diesem 'Maurischen Park' existiert ein maurisches Kasino, das nach verschiedenen Stilen der Architektur gebaut wurde."
Diese maurische Idee: Die Franzosen kannten Tunesien, sie kannten Algerien und so weiter. Die Künstler haben ja teilweise Fantasien gehabt, das sei das Paradies gewesen. Und ein bisschen von diesem maurischen Paradies hat man sich hier nach Arcachon geholt.
"Das ist dieses Gefühl, weil: Das ist eine Mischung vom Arabischen, Maurischen, Elisabethanischen, Gregorianischen. Und das ist exotisch. Dieses Gefühl zu haben … So ein mildes Klima …"
Blättern wir uns kurz durch den exotischen Adressenkasten der Prominenz, die im milden Klima kurt, kokst oder sich anderswie vergnügte.
Napoleon III., König Alfons XIII. von Spanien, der Schriftsteller Guy de Maupassant. Die Schauspielerin Sarah Bernhardt, die in ihrer Paraderolle der "Kameliendame" auftritt. Winston Churchill, Jean Cocteau, Jean-Paul Sartre. Die Komponisten Debussy und Gounod. Oder der italienische Schriftsteller Gabriele d'Annunzio, der hier seine große Liebe mit einer russischen Gräfin erlebt. Er vergleicht das Bassin von Arcachon "mit einer jungen, hübschen Frau, die nach einer Liebesnacht erwacht".
So prosaisch kann man das formulieren. Auch der preußische Botschafter in Paris, Otto von Bismarck, 47 Jahre alt, badet 1862 im Atlantik. Auch Bismarck erliegt einer Liaison mit einer russischen Adeligen. Kaiser Napoleon III. ist durch seine "Schlapphüte" immer auf dem aktuellsten Stand. Bismarck schreibt an seine Frau:
Die ersten Bäder in dem warmen, salzigen Wellenschaum bekamen mir so vortrefflich, dass ich hierblieb. Nach jedem Bad fühle ich ein Jahr weniger auf dem alternden Haupt. Und wenn ich es auf 30 bringen sollte, so siehst du mich als Göttinger Studenten wieder.
17 Jahr, blondes Haar. Aber wir müssen uns etwas korrigieren. Bismarck kurt nicht in Arcachon, sondern etwas südlicher. Aber es ist der gleiche Silbersand, es sind die gleichen schäumenden Wellen, ergo der gleiche Jungbrunnen, die gleiche gesunde, jodhaltige und harzige Luft.
Und erst jetzt greifen wir auch Alexandre Dumas heraus. Er hat hier oben in der Winterstadt, in dieser Villa in der Rue Alexandre Dumas, gewohnt. Aber welcher Dumas? Dumas, der Ältere, der die Abenteuer-Bestseller "Die drei Musketiere" und den "Grafen von Monte Christo" geschrieben hat? Oder Alexandre Dumas-Junior, der Sohn? Aus der Feder des Jüngeren stammt der tragische Roman "Die Kameliendame". Und diese extravagante Kameliendame, die sich dann anschließend in ihrer Schwindsucht zu Tode hustet, die hat es real in Paris gegeben, und Dumas-Junior gehört auch zu ihrem Kundenkreis. Es ist möglich, dass Vater und Sohn Dumas zusammen in Arcachon weilen, denn Dumas kommt quasi auf Bestellung, als PR-Maschine nach Arcachon.
Der ältere Alexandre Dumas war ein Vielschreiber, man nennen ihn auch den König der Leihbibliotheken. Er lebt permanent in selbstverschuldeten Existenznöten, schuftet, von seinen Gläubigern bedrängt, in einem literarischen Hamsterrad. Dumas kauft billige Manuskripte, veredelt sie dramaturgisch und verhökert sie für ein Vielfaches an seine gierigen Verleger. So unternimmt er beispielsweise eine Rundreise durch die nordafrikanischen Länder als bestellter PR-Schreiber. Ähnlich auch seine "Reise an die Ufer des Rheines". Dumas schreibt seine "Reisenotizen" in wöchentlichen Fortsetzungen für gleich zwei konkurrierende französische Blätter, und gibt sie anschließend als Reisebestseller heraus.
Und so wird Dumas auch nach Arcachon eingeladen. Dumas bekommt tolle Honorare und Reisekosten und verdient mehrfach, indem er seine "Suppe" - Pardon, Herr Dumas - in seiner literarischen Mikrowelle neu aufwärmt. Wie Dumas sein Geld verdient, so wirft er es für die Liebe und die Frauen, in jedweder Form, mit vollen Händen wieder raus.
Dumas' Sohn reist teilweise mit dem Vater zusammen, arbeitet mit am Fließband und bringt es zu einem Bestseller: die Kameliendame. Erst als Roman, 1852 als Bühnendrama. Und der Fließbandkomponist Giuseppe Verdi reißt ihm ein Jahr später "La dame aux camelias" aus der Hand und baut daraus seine Oper "La Traviata".
Und Arachon baut aus dem früheren Nest der Mückenplagen neben der Winterstadt auch eine Sommerstadt. Das ist hier unten direkt am Strand. Es soll auch eine Frühlingsstadt geben. Arcachon - eine Stadt für alle Jahreszeiten. Und im modernisierten alten Kurtheater von Arcachon, wo die Bernhardt früher die Kameliendame gehustet hat, da spielen heute Musiker zum Sonntagskonzert aus Vivaldis Jahreszeiten den Frühling ein.
Ein altes Bild zeigt den Herrn Oberbahnhofsvorsteher mit gezücktem Zylinder, der die Majestäten mit tiefem Bückling begrüßt. Und das funkelnagelneue Bahnhofsgebäude wird dann auch flugs zum "Kaiserbahnhof" befördert, welch eine Ehre. Blumengaben für die Kaiserin, devotes Hofgeknickse. Und wir lesen über das Pläsier des Reisens mit den neuen Dampfrössern bei Alexandre Dumas.
Die Lokomotive ließ ihr scharfes Atmen vernehmen. Die gewaltige Maschine setzte sich in Bewegung. Man hörte das kreischende Beben des Eisens. Die Laternen jagten vorüber wie die Fackeln der Kobolde beim nächtlichen Hexensabbat, eine lange Feuerspur auf unserem Wege zurücklassend.
Aus einer anderen Quelle lesen wir über die Anfänge von Arcachon:
Ehedem lag hier alles völlig einsam, verarmt. Lediglich ein Ziel für obskure Wallfahrer nach Santiago de Compostela. Dann wurde dieses Becken von Arcachon durch die dritte französische Eisenbahnlinie Paris-Bordeaux erschlossen. Und im gleichen Programm entstand dann ein kleiner Kurort. Und die Mode tat, wie im mondänen Biarritz oder im Atlantikbad Deauville, das Übrige. Sehen und gesehen werden war in der "Ville d'Hiver", in der Winterstadt, ein Gebot der Eleganz.
Überall im alten, kalten Europa ist Gründerzeitstimmung. Bankenspekulanten kaufen das spottbillige Land um Arcachon auf, Sümpfe werden abgeleitet. Wir denken uns noch weiter zurück, auf den Pfaden der Jakobspilger.
Der Saumpfad der Pilger führte durch eine absolut menschenleere Region. Vom Meer bläst, selbst an friedlichen Sommertagen, ein stetiger Wind. Die Pilger auf ihrem langen Weg waren am Ende ihrer Kräfte. Die Zunge schmeckte nach Salz, das Gesicht von der Sonne verbrannt. Um die Ohren summten und stachen die Mücken, die Wegelagerer der Region. Es war eine Route der Leiden und Plagen.
Leiden, wie eine achte biblische Plage. An sich keine Topadresse für einen neuen Kurbetrieb, den sich damals nur ein Publikum der gehobenen Kreise leisten kann. Aber man könnte das Gesundheitsrezept von Arcachon auch genau andersherum formulieren. Es ist genau dieser stetige Wind, der die mikrofeinen, jodhaltigen Wassertröpfchen von den Meereswellen abkämmt. Und die asthma- und bronchienkranken, die hüstelnden "Kameliendamen", auf die kommen wir noch explizit zurück, und die tuberkulösen Herrn im Gehrock, so sehe ich sie auf alten Fotos; so spazieren die Herrschaften damals, tief einatmend. Dazu inhalieren sie in Kurwannen Fichtennadel- und Harzextrakte, abgezapft von den Kiefern der nahen Pinienwälder. Und auch Thomas Mann beschreibt doch ähnliche elitäre "Hustenburgen" in gesunder Bergluft mit allerlei amourösen Abhuste-Übungen. Wir können uns heute, schweinegrippengeimpft, die tuberkulösen Massenerkrankungen nicht mehr vorstellen. Nur ein Stichwort:
Im Juli 1810 stirbt plötzlich die populäre preußische Königin Luise, erst 34 Jahre alt. Dahinter steckte eine nicht erkannte Lungenkrankheit. Luise war trotz aller ärztlichen Kapazitäten der berühmten Berliner Charité nicht mehr zu retten.
Und dieses Arcachon war dann wohl ein nobles Genesungssanatorium, in einzelnen Villen untergebracht. Und während ich Ihnen das erzähle, sind wir unten vom Bahnhof in der höher gelegenen "Winterstadt" angekommen. Sie liegt auf einer ehemaligen Wanderdüne.
Diese Düne ist - damals - bautechnisch so verändert, bepflanzt, mit einer Art von Windkaminen und Hohlwegen umgebaut worden, dass hier oben der harte Wind vom nahen Atlantik - der ist ja nur ein Kilometer entfernt - hier nicht auftritt. Hier oben verweht der Wind zu einem milden Lüftchen. Jede der Villen in lichter Bauweise, großen Fenstern, die frische Luft und Sonne hereinlassen. Amelie Reveleau:
"Wir sind auf dem Hügel von Arcachon, der heißt Sante Cäcilia. […] Und Napoleon III. ist eine berühmte Persönlichkeit, die hier in Arcachon ein Seebad machte. Zeitungen sprechen davon: Die Aristokratie kommt. Das ist das Debüt. Das heißt, die Aristokratie kam hierher, um ein Spezialaufenthalt zu haben: 'Ich bin in Arcachon. Ich bin eine berühmte Persönlichkeit. Ich mache eine Kur in Arcachon.'"
Also auch ein Sehen und Gesehenwerden. Und ja nicht vergessen, die Verbeugung zu machen, weil man ja vielleicht auch aus geschäftlichen Gründen mit dieser einen oder der anderen Familie sehr gerne einen Kontakt hätte. Und man musste natürlich auch ein bisschen Geld dabei haben.
"Nur ein bisschen Geld. Das sind reiche Künstler, die hier bleiben, um Spaß zu haben. Ein schöne, ein wunderbarer Überblick über das Becken zu haben und so."
Schwarz-Weiß-Fotos zeigen den Bau des fünfstöckigen Fünf-Sterne-"Grandhotels". Da soll unter anderem der Maler Henri Toulouse-Lautrec gewohnt haben. Ab 1896, da ist er 29 Jahre alt, weilt er mehrfach in Arcachon. Wir lesen:
Der Maler und Grafiker Henri Toulouse-Lautrec wird als Heranwachsender nach mehrmaligen Brüchen seiner Beine, wegen genetisch bedingter Schäden, adelige Vorfahren hatten öfter nahe Cousins oder Cousinen geheiratet, zum Krüppel. Durch sein exzessives Leben im Alkohol ist er in seinen letzten, gleichwohl noch jungen Lebensjahren psychisch und physisch zerrüttet.
Und dieser Lautrec hinterlässt ja eine Vielzahl von - ich nenn das mal Sozialreportagen - eines großbürgerlichen Milieus von hektischer Vergnügungssucht und bigotter Doppelmoral. Und dieses Vergnügen konnte man wohl auch hinter den Gardinen in Arcachon leben; oder sich im nahen Bordeaux besorgen lassen. Die Frauenporträts und Tanzstudien von Toulouse-Lautrec könnte man unter dem Stichwort Moulin-Rouge zusammenfassen. Und diese käuflichen "Kameliendamen", die Lautrec malt, die schwindsüchtig auf dem letzten Loch pfeifen und sich als Edelkurtisanen vielleicht durchaus eine Kur leisten könnten? Toulouse-Lautrec ist hier vom Suff schon "demoliert", aber er zeichnet noch. Er besucht, beispielsweise die Proben zu einer Operette von Jaques Offenbach, und hält eine Szene mit einer hinreißend hingeworfenen Tuscheskizze fest. Und jetzt kommen wir auf den Punkt.
Einer, der aussieht wie Lautrec, verkrüppelt, dazu bekifft, war immer streng öffentlich. Man war Kurgespräch, man war Teil der Therapie. Ich habe hier ein Foto ausgegraben. Es zeigt Lautrec entspannt auf dem Rücken im Wasser schwimmend. Sein bärtiger Kopf guckt aus dem Wasser, man erkennt seinen Körper in der Größe eines - vielleicht - 14-Jährigen. Und wir lesen:
Lautrec weilt an der Bucht von Arcachon. Er mietet eine Villa und erholt sich vom Morgen bis zum Abend, was er sehr nötig hat. Er rudert, begleitet die Fischer auf See oder geht an Bord der Jacht eines Bekannten. An Land verursacht er unliebsame Aufmerksamkeiten. Die Leute schütteln die Köpfe und schicken dem Zwerg missbilligende Blicke nach. Lautrec humpelt den Strand lang und zieht an einem langen Strick den Kormoran Tom hinter sich her, der genauso watschelt. Lautrec fischt mit Tom in der Bucht und lässt ihm im Café Absinth vorsetzen Er ist auf den Geschmack gekommen, meint Lautrec.
Später knallt ihm – hier - ein Jäger den Vogel ab. Lautrec kommt noch einige Male nach Arcachon zurück, gewinnt auch eine Regatta. Schließlich bricht er 1901 hier in der Bucht mit einem Anfall zusammen. Er stirbt, nur 36 Jahre alt, im Schloss seiner Mutter, unweit von Bordeaux.
Zurück in die Winterstadt, in den "Maurischen Park":
"Hier im 'Maurischen Park' können in dieser Epoche viele Künstler und Aristokraten eine Promenade machen, weil: Im Zentrum von diesem 'Maurischen Park' existiert ein maurisches Kasino, das nach verschiedenen Stilen der Architektur gebaut wurde."
Diese maurische Idee: Die Franzosen kannten Tunesien, sie kannten Algerien und so weiter. Die Künstler haben ja teilweise Fantasien gehabt, das sei das Paradies gewesen. Und ein bisschen von diesem maurischen Paradies hat man sich hier nach Arcachon geholt.
"Das ist dieses Gefühl, weil: Das ist eine Mischung vom Arabischen, Maurischen, Elisabethanischen, Gregorianischen. Und das ist exotisch. Dieses Gefühl zu haben … So ein mildes Klima …"
Blättern wir uns kurz durch den exotischen Adressenkasten der Prominenz, die im milden Klima kurt, kokst oder sich anderswie vergnügte.
Napoleon III., König Alfons XIII. von Spanien, der Schriftsteller Guy de Maupassant. Die Schauspielerin Sarah Bernhardt, die in ihrer Paraderolle der "Kameliendame" auftritt. Winston Churchill, Jean Cocteau, Jean-Paul Sartre. Die Komponisten Debussy und Gounod. Oder der italienische Schriftsteller Gabriele d'Annunzio, der hier seine große Liebe mit einer russischen Gräfin erlebt. Er vergleicht das Bassin von Arcachon "mit einer jungen, hübschen Frau, die nach einer Liebesnacht erwacht".
So prosaisch kann man das formulieren. Auch der preußische Botschafter in Paris, Otto von Bismarck, 47 Jahre alt, badet 1862 im Atlantik. Auch Bismarck erliegt einer Liaison mit einer russischen Adeligen. Kaiser Napoleon III. ist durch seine "Schlapphüte" immer auf dem aktuellsten Stand. Bismarck schreibt an seine Frau:
Die ersten Bäder in dem warmen, salzigen Wellenschaum bekamen mir so vortrefflich, dass ich hierblieb. Nach jedem Bad fühle ich ein Jahr weniger auf dem alternden Haupt. Und wenn ich es auf 30 bringen sollte, so siehst du mich als Göttinger Studenten wieder.
17 Jahr, blondes Haar. Aber wir müssen uns etwas korrigieren. Bismarck kurt nicht in Arcachon, sondern etwas südlicher. Aber es ist der gleiche Silbersand, es sind die gleichen schäumenden Wellen, ergo der gleiche Jungbrunnen, die gleiche gesunde, jodhaltige und harzige Luft.
Und erst jetzt greifen wir auch Alexandre Dumas heraus. Er hat hier oben in der Winterstadt, in dieser Villa in der Rue Alexandre Dumas, gewohnt. Aber welcher Dumas? Dumas, der Ältere, der die Abenteuer-Bestseller "Die drei Musketiere" und den "Grafen von Monte Christo" geschrieben hat? Oder Alexandre Dumas-Junior, der Sohn? Aus der Feder des Jüngeren stammt der tragische Roman "Die Kameliendame". Und diese extravagante Kameliendame, die sich dann anschließend in ihrer Schwindsucht zu Tode hustet, die hat es real in Paris gegeben, und Dumas-Junior gehört auch zu ihrem Kundenkreis. Es ist möglich, dass Vater und Sohn Dumas zusammen in Arcachon weilen, denn Dumas kommt quasi auf Bestellung, als PR-Maschine nach Arcachon.
Der ältere Alexandre Dumas war ein Vielschreiber, man nennen ihn auch den König der Leihbibliotheken. Er lebt permanent in selbstverschuldeten Existenznöten, schuftet, von seinen Gläubigern bedrängt, in einem literarischen Hamsterrad. Dumas kauft billige Manuskripte, veredelt sie dramaturgisch und verhökert sie für ein Vielfaches an seine gierigen Verleger. So unternimmt er beispielsweise eine Rundreise durch die nordafrikanischen Länder als bestellter PR-Schreiber. Ähnlich auch seine "Reise an die Ufer des Rheines". Dumas schreibt seine "Reisenotizen" in wöchentlichen Fortsetzungen für gleich zwei konkurrierende französische Blätter, und gibt sie anschließend als Reisebestseller heraus.
Und so wird Dumas auch nach Arcachon eingeladen. Dumas bekommt tolle Honorare und Reisekosten und verdient mehrfach, indem er seine "Suppe" - Pardon, Herr Dumas - in seiner literarischen Mikrowelle neu aufwärmt. Wie Dumas sein Geld verdient, so wirft er es für die Liebe und die Frauen, in jedweder Form, mit vollen Händen wieder raus.
Dumas' Sohn reist teilweise mit dem Vater zusammen, arbeitet mit am Fließband und bringt es zu einem Bestseller: die Kameliendame. Erst als Roman, 1852 als Bühnendrama. Und der Fließbandkomponist Giuseppe Verdi reißt ihm ein Jahr später "La dame aux camelias" aus der Hand und baut daraus seine Oper "La Traviata".
Und Arachon baut aus dem früheren Nest der Mückenplagen neben der Winterstadt auch eine Sommerstadt. Das ist hier unten direkt am Strand. Es soll auch eine Frühlingsstadt geben. Arcachon - eine Stadt für alle Jahreszeiten. Und im modernisierten alten Kurtheater von Arcachon, wo die Bernhardt früher die Kameliendame gehustet hat, da spielen heute Musiker zum Sonntagskonzert aus Vivaldis Jahreszeiten den Frühling ein.