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Kursiv: Historische Utopie

Nirgendwo, da ist Utopia. Der Begriff stammt aus dem Griechischen. Er ist aus den Worten "nicht" und "Ort" zusammengesetzt. Das Wort ist uns heute so geläufig, weil Thomas Morus es 1516 als Titel für einen Roman wählte. In Form eines fiktiven Gespräches erzählt der englische Politiker und Philosoph darin die Geschichte eines Seemannes, der eine Zeitlang bei den Utopiern gelebt haben will, in einer idealen Gesellschaft mit demokratischen Grundzügen, geprägt von Gleichheit, Fleiß und dem Streben nach Bildung: Ein Gegenentwurf zur Welt des 15. und 16. Jahrhunderts, zum Zeitalter der Reformation also. Herfried Münkler hat es für uns noch einmal zur Hand genommen.

Rezensiert von Herfried Münkler |
    Das Gründungsdokument der europäischen Sozialutopien, Thomas Morus' Utopia, hat seine Interpreten vor ein Rätsel gestellt: ein sozialreformerischer Text mit radikalen Vorschlägen zur Veränderung der Gesellschaft, verfasst von einem zutiefst konservativen Autor, der für seine Treue zur katholischen Kirche schließlich aufs Schafott ging. Eduard Bernstein hat Morus in die Reihe der Frühsozialisten aufgenommen und vor allem die gesellschaftliche Egalität herausgestellt, die auf der Insel Utopia herrscht. Der Historiker Hermann Oncken dagegen schrieb im Vorwort zur deutschen Übersetzung der "Utopia" die 1922 als Erster Band der Reihe "Klassiker der Politik" erschien, Morus' Buch sei eine treffliche Beschreibung des britischen Imperialismus: vom Gebrauch des Goldes, um potenzielle Kontrahenten gegeneinander auszuspielen, bis zum Einsatz von Söldnern, die für die Utopier deren Kriege führen. Aber beide Deutungen, die sozialistische wie die imperialistische, treffen Morus' Intentionen nicht. Für Morus war die Niederschrift der "Utopia" eine intellektuelle Fingerübung, in der er die Möglichkeiten politischen Einwirkens auf die gesellschaftliche Ordnung durchspielt. In dem Gespräch, zu dem man sich in Brügge trifft, geht es nämlich um die Frage, ob ein kluger, moralisch integrer Mann einen segensreichen Einfluss auf Politik und Gesellschaft nehmen könne, wenn er den Zugang zum Machthaber gefunden habe. Das Ergebnis, zu dem die Runde der welterfahrenen Männer in Morus' Buch kommt, ist überraschend: Der integre Politikberater scheitere, da er entweder selbst bald korrupt werde und dasselbe Spiel treibe wie die anderen auch oder aber ob seiner Korruptionsresistenz kaltgestellt und aufs Abstellgleis geschoben werde. Man müsse die gesamte Ordnung ändern, wenn man wirklich etwas bessern wolle. Damit beginnt der Bericht des Weltreisenden Raphael Hythlodeus darüber, wie er auf eine abgelegene Insel verschlagen wurde und dort die Gesellschaft der Utopier kennenlernte.
    Utopia liegt auf dem Globus genau auf der gegenüberliegenden Seite von England, und tatsächlich stellt seine Gesellschaft in jeder Hinsicht das Gegenteil der englischen Gesellschaft dar. In all dem orientiert sich Morus an der Beschreibung des besten Staates, wie sie in Platons Politeia zu finden ist: Die Unterschiede zwischen Männern und Frauen sind eingeebnet, über den Aufstieg zu Leitungsaufgaben im Staat entscheidet die Leistungsfähigkeit und nicht das soziale Herkommen, usw.. Der Humanist Morus hat seinen gelehrten Bekannten und Freunden ein Beispiel seiner eigenen Gelehrsamkeit geliefert. In Platons Dialog nämlich fragt einer der Gesprächspartner Sokrates, nachdem der die theoretisch beste Ordnung des Staates entworfen hat, ob dieser wunderbare Staat auch einmal Wirklichkeit werden könne. Und Sokrates antwortet, in irgendwelchen Zeiten und irgendwelchen Räumen, da sei er sich sicher, werde man auch einmal auf einen solchen Staat stoßen. Als Morus seine Utopia schrieb, lag die Entdeckung Amerikas gerade einmal zwei Jahrzehnte zurück, und Morus nutzt dies, um den Berichterstatter Hythlodeus auf seinen Reisen auch Utopia entdecken zu lassen. Dessen fiktiver Bericht bestätigt die Richtigkeit von Sokrates' Annahme: Ja, der beste Staat ist kein bloßes Hirngespinst, sondern kann realiter besichtigt werden. Aber Morus spielt bloß mit dieser Idee, und deswegen gibt er dem endlich aufgefundenen Idealstaat den Namen Utopia – zu deutsch: Nirgendwo – und nennt den, der davon berichtet, Hythlodeus, was so viel heißt wie "Schaumschläger". Morus hat das Ganze nicht sonderlich ernst genommen, sondern eine intellektuelle Spielerei angestellt. Das war in Humanistenkreisen nicht unüblich. Aber während die meisten dieser Spielereien vergessen gingen oder folgenlos blieben, ist das bei der Utopia anders. Durch sie inspiriert, schrieb Tommaso Campanella seinen Sonnenstaat, Francis Bacon Neu-Atlantis, und schon bald überboten sich die politischen Autoren mit Projekten, in denen eine bessere und gerechtere Welt entworfen wurde. Morus' kleine Spielerei hatte und hat eine gewaltige Wirkung – bis heute.


    Thomas Morus:Utopia. Er ist 1516 zum ersten Mal erschienen, damals auf Latein, heute ist er in vielfältigen Ausgaben in deutscher Übersetzung erhältlich.