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Kursiv International
Indiens Debatte um die Benachteiligung der Armen

Es gibt das Indien der Armen, der Slums und der Kasten, der Analphabeten und der benachteiligten Frauen. Die Regierungen haben versagt - zu diesem Resultat kommen zumindest Amartya Sen und Jean Drèze. Ihr Buch wird heftig diskutiert.

Von Sabina Matthay |
    Als Amartya Sen und Jean Drèze sich an die Arbeit zu diesem Buch machten, sonnte sich Indien noch im Abglanz seines Rufs als aufstrebende Wirtschaftsmacht. Doch bei Bildung, Gesundheit, Infrastruktur hinkt die größte Demokratie der Welt schon lange selbst ärmeren Nachbarn hinterher.
    "Die Mängel im Gesundheitswesen, der Mangel an einigermaßen guten Schulen und anderen grundlegenden Einrichtungen, die für das menschliche Wohlbefinden und für Grundfreiheiten wichtig sind, kettet die Mehrheit der Inder auf eine Weise an soziale Benachteiligung, die in anderen Ländern, die versuchen voranzukommen, selten ist."
    Viele indische Grundschüler beherrschen weder das Alphabet noch die Grundrechenarten. Kinderlähmung ist beseitigt, doch bei anderen Krankheiten ist die Impfrate so niedrig wie fast nirgends sonst. Ein Drittel aller Inder lebt ohne Strom, die Hälfte verrichtet ihre Notdurft nach wie vor auf freiem Feld. Amartya Sen, 1998 für seine Arbeiten zur Wohlfahrtsökonomie mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet, spricht von riesigen Versäumnissen des indischen Staates:
    "Für diese Versäumnisse gibt es zu wenig Bewusstsein. Die Spaltung des Volkes ist so groß, dass die vom Glück Begünstigten oft nicht mal wissen, wie furchtbar das Leben der anderen ist."
    Ob dieses Buch, das bislang nur auf Englisch erschienen ist, die Privilegierten aufrütteln wird, bleibt dahingestellt. Sen und Drèze beschreiben, dass Indiens politische Elite - überwiegend Männer aus hohen hinduistischen Kasten - kaum Interesse hat an der Verbesserung der Lebensumstände ihrer weniger privilegierten Landsleute. Die Armen stellen zwar die Mehrheit der Wähler des Landes, seien jedoch vom öffentlichen Diskurs so gut wie ausgeschlossen. Das hat Folgen:
    "Was ein demokratisches System erreicht, hängt weitgehend davon ab, welche Themen in den politischen Diskurs eingebracht werden."
    In dieser Hinsicht kreiden die Autoren auch den indischen Medien schwere Versäumnisse an, die sich ihrer Ansicht nach vor allem mit Boulevardthemen beschäftigen. Dennoch hat Amartya Sen, der wie sein Koautor Drèze der regierenden Kongresspartei nahesteht, seinen Glauben an die Kraft der Demokratie nicht verloren:
    "In Indien müssen die Prioritäten unbedingt neu geordnet werden. Indien ist ein demokratisches Land und ich halte Demokratie für ein gutes System. Es hat viele Vorzüge, einer davon ist, dass Unzufriedene Fragen stellen, rufen, agitieren können."
    Im Kern argumentieren Sen und Drèze, dass Wirtschaftswachstum ohne Umverteilung an die Unterprivilegierten sinnlos ist. Der indische Staat müsse deutlich mehr in Bildung, Gesundheitswesen und Arbeitsmarkt investieren. Doch schon jetzt gibt es zahlreiche sozialstaatliche Wohltaten, sie versickern allerdings weitgehend in der korrupten indischen Staatsmaschinerie. Sen und Drèze argumentieren, mehr Staat müsse in Indien nicht zwangsläufig zu mehr Korruption führen. Doch ihr Vergleich wirkt realitätsfremd:
    "In den meisten Ländern, die im internationalen Vergleich als "am wenigsten korrupt" gelten, beispielsweise Schweden, Dänemark, Kanada und Singapur, ist der Anteil des öffentlichen Sektors an der Wirtschaft deutlich größer als in Indien."
    "An Uncertain Glory" hat in Indien einen heftigen Streit über die richtige Entwicklungspolitik ausgelöst. Besonders die renommierten Volkswirte Jagdish Bhagwati und Arvind Panagariya stemmen sich gegen die von Sen und Drèze geforderte Ausweitung des Sozialstaats und treten für die weitere Liberalisierung der Wirtschaft ein, ihrer Ansicht nach kann nur Wachstum Arbeitsplätze schaffen und Armut senken. Weil Indien jetzt in einer schweren Wirtschaftskrise steckt und weil die Wahlen näher rücken, macht der Streit der Ökonomen Schlagzeilen. Auch ohne diesen aktuellen Rahmen ist "An Uncertain Glory" aber ein wichtiges, auch verstörendes Buch, denn es katalogisiert die sozialen Missstände Indiens umfassend. Doch erst, wenn der indische Staat transparenter wird, wenn Korruption und Nepotismus eingedämmt sind, wäre der Ausbau des Sozialstaats, wie Sen und Drèze ihn fordern, gerechtfertigt. Denn erst dann würden jene Inder von ihm profitieren, die ihn brauchen.