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Kursiv: Klassiker der politischen Literatur

Es kommt nicht allzu häufig vor, dass ein Buch noch zu Lebzeiten des Autors zum Klassiker avanciert - dem 1975 verstorbenen Juristen und Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel ist es mit seinem Buch "Deutschland und die westlichen Demokratien" gelungen.

Von Rainer Kühn |
    Erst 1951 kehrte Ernst Fraenkel aus dem Exil nach Westberlin zurück - voller Skepsis und Unbehagen gegenüber dem einst so geschätzten Land, aus dem er als Jude vor rassischer Verfolgung fliehen musste. Dennoch wurde er zu einem der Begründer der modernen Politikwissenschaft hierzulande.

    In den Worten des renommierten Zeithistorikers Karl Dietrich Bracher: Er war einer der "geistig-politischen Väter und wichtigsten Helfer der zweiten deutschen Demokratie". Einer Demokratie nicht nur dem Namen nach, sondern einer echten Demokratie; was für Fraenkel gleich bedeutend war mit pluralistisch. Wo also organisierte Interessengruppen im Mit- und Gegeneinander demokratisch legitimierte Entscheidungen herbeiführen sollten - die letztlich von allen akzeptiert würden.

    Diese pluralistische Demokratie war für Fraenkel weit mehr als ein abstraktes Regierungssystem. Vielmehr betrachtete er sie als generelle Grundhaltung und als Aufforderung an jeden, sich engagiert an den das Gemeinwesen tragenden Gruppierungen zu beteiligen. Oder, wie er selbst es in der RIAS-Funkuniversität erläuterte:

    "Das isolierte Individuum ist in der modernen Massengesellschaft am stärksten der Ansteckungsgefahr durch den Totalitarismus ausgesetzt. Erst durch aktive Mitarbeit in außerstaatlichen Gebilden vermag es, sich voll zu entfalten."
    Fraenkel wurde 1898 in Köln geboren. Vor den Nazis floh er 1938 in die USA, studierte dort amerikanisches Recht, wurde US-Staatsbürger und ging als Militärberater nach Südkorea. Erst 1951 kehrte Fraenkel nach Deutschland zurück.

    Fraenkels Denken kulminiert in seiner Neopluralismus-Theorie, die er vor allem in dem Werk "Deutschland und die westlichen Demokratien" darlegt. Ausgangspunkt ist für ihn, dass er in Deutschland stets der Gruppe der jüdischen Minderheit zugerechnet wurde:

    Das Gruppenproblem, dass so eng mit dem Phänomen des Pluralismus verknüpft ist, bildet mein politisches Ur-Erlebnis.
    Fraenkel grenzt sich mit seiner Neo-Pluralismustheorie von zwei älteren Konzepten ab: Zum einen von dem, das er bei seinem Lehrer Otto Sinzheimer kennen gelernt hatte, dem ersten deutschen Arbeitsrechtler. Dieser hatte dafür geworben, dass in einem Staat gesellschaftliche Gruppen selbstbestimmt wirken und untereinander, aber außerhalb staatlicher Kontrolle ihre Interessen vertreten sollten. Wie etwa die Sozialpartner, die - eben - autonom Verträge über Löhne oder Arbeitsbedingungen aushandeln.

    Zum anderen grenzte er sich von amerikanischen staatsskeptischen Pluralismus-Konzepten ab, die die Organisation der Gesellschaft so weit wie möglich den unterschiedlichen Gruppen überantworten wollten und letztlich ein derart neutrales Konzept von Gruppenaktivitäten entwarfen, das selbst Mussolini mit seinem ständischen Faschismus es für sich nutzen konnte.

    Gegenüber beiden Ansätzen beharrte Fraenkel auf dem normativen Charakter seines "Neo"-Pluralismus: Ein fester und von allen anerkannter Kanon an Werten soll dabei sicherstellen, dass der Staat im Widerstreit der Interessengruppen nicht wieder - wie 1933 - vom Weg der Demokratie abkommt.

    "Wenn wir von Demokratie sprechen, schließen wir die Negierung von Autokratie, Diktatur und Totalitarismus ein."
    Für Fraenkel ist das Politische zweigeteilt in einen streitigen und einen nicht-streitigen Bereich. Im "kontroversen Sektor" herrschen Interessenvielfalt, Interessenkonflikt und freie Interessenwahrnehmung. Das Gemeinwohl ergibt sich erst am Ende eines Entscheidungsprozesses, an dem Parlament, Regierung, Parteien, Interessengruppen und öffentliche Meinung gleichberechtigt partizipieren. Unabdingbar für diesen Willensbildungsprozess sind rechtsstaatliche Rahmensetzung sowie soziale Absicherung des Einzelnen. Erst so entstehe die für alle westlichen Demokratien als Idealtypus angestrebte

    autonom-pluralistisch-sozial-rechtsstaatliche Ordnung.

    Entscheidend ist für Fraenkel aber, dass neben diesem streitigen Sektor ein "nicht-kontroverser Sektor" existiert, dass also die vorherrschende politische Kultur als allgemeines Fundament akzeptiert wird.

    Sind diese äußerst knapp skizzierten neopluralistischen Überlegungen aber für eine moderne Gesellschaft, die vom Phänomen der "Individualisierung" geprägt ist, noch zutreffend?
    Fraenkel selbst ist bei der Suche nach "Strukturfehlern der Demokratie" auf "Lethargie und Apathie der breiten Masse" gestoßen. Er machte dafür allerdings nicht den gesellschaftlichen Wandel, sondern - so wörtlich - die "Verbonzung" der Parteien verantwortlich, der er mit flexiblen Mitwirkungsmöglichkeiten begegnen wollte.

    Letztlich aber bleibt er bei seinem normativen Credo: Nämlich dass Staaten nur dann lebensfähig sind, wenn sich zum einen die Einzelnen aktiv in Großgruppen engagieren und wenn zum anderen Interessengruppen und Parteien nicht nur Sonderinteressen, sondern immer auch das allgemeine Interesse berücksichtigen.

    In unserer Rubrik Kursiv war das Rainer Kühn über Ernst Fraenkels: "Deutschland und die westlichen Demokratien". Derzeit ist das Buch nur antiquarisch erhältlich - wir empfehlen einen Blick in das Internet: unter www.zvab.de - also im Zentralen Verzeichnis antiquarischer Bücher ist der Band beispielsweise in der Ausgabe des Stuttgarter Kohlhammer Verlages aus dem Jahre 1968 schon für Euro 9,00 zu finden. Die kartonierte Ausgabe des Suhrkamp-Verlages aus dem Jahr 1990 kostet Euro 39,90. Übrigens ist im Campus Verlag unlängst eine umfassende Biographie erschienen: Ernst Fraenkel, ein politisches Leben, heißt der Band von Simone Ladwig-Winters. Er hat 447 Seiten und kostet 34,90 Euro.