"Sprache ist mehr als Blut". Dieser Ausspruch des jüdischen Religionswissenschaftlers Franz Rosenzweig, 1929 verstorben, setzt die gesellschaftlich-kulturelle Prägung vor die Biologie. Dem jüdischen Romanisten Victor Klemperer diente dieser Satz als Leitgedanke bei seiner Studie über die Sprache des Dritten Reiches. Blut war in der Nazi-Ideologie ein Schlüsselwort. Ständig faselte sie von "Blutreinheit" und meinte damit eine nichtjüdische Menschengruppe oder, in ihrer Terminologie, die arische, die nordische Rasse.
Klemperer war bis zu Beginn der Hitlerherrschaft Ordinarius an der Technischen Universität Dresden. 1935 verlor er seine Professur. Er verlor seine Freunde. Er lebte mit seiner nichtjüdischen Ehefrau in so genannter "privilegierter Mischehe", was ihn vor der Deportation lange bewahren konnte. Er wohnte in einem Dresdner Vorort, später in einem so genannten "Judenhaus". Er musste Fabrikarbeit leisten. Immer blieb ihm die Sprache: die eigene, als sein Instrument, und die seiner Gegner, als Objekt seiner Untersuchung.
In den Alltag hineinhören
"Ich ließ mich damals nicht irremachen, ich stand jeden Morgen um halb vier auf und hatte den vorigen Tag notiert, wenn die Fabrikarbeit begann. Ich sagte mir: du hörst mit deinen Ohren, und du hörst in den Alltag, gerade in den Alltag, in das Gewöhnliche und das Durchschnittliche, in das glanzlose Unheroische hinein … Und dann: Ich hielt ja meine Balancierstange, und sie hielt mich …"
Victor Klemperer führte Tagebuch. Er war ein besessener, ein begnadeter Diarist. Er war dies schon lange vor seiner Entlassung gewesen und blieb es nach dem Ende der Hitlerei. Vieles, was er in "LTI" (Lingua Tertii Imperii) aufschrieb, stand zunächst in seinem Diarium; erstmals ist das "Notizbuch eines Philologen" 1947 gedruckt worden und erlebte hernach zahlreiche Nach- und Neuauflagen.
Klemperers Material sind Zeitungen, Zeitschriften, öffentliche Reden, Bücher, Alltagsgespräche. Betrachtet werden Nazi-Schlüsselbegriffe wie "heldenhaft, Bewegung, gleichschalten, Alljuda, fanatisch, total, Gefolgschaft, körperliche Ertüchtigung". Klemperer beschreibt die Überhitzung der nazistischen Offizialsprache durch die ständige Verwendung von Superlativen, die er einen Fluch nennt.
"Der bösartige Superlativ der LTI ist für Deutschland eine erstmalige Erscheinung, deshalb wirkt er vom ersten Augenblick an verheerend, und danach liegt es eben zwanghaft in seiner Natur, dass er sich immerfort bis zur Sinnlosigkeit, bis zur Wirkungslosigkeit, ja bis zur Bewirkung des seiner Absicht entgegengesetzten Glaubens übersteigern muss."
Nazi-Worte ins Massengrab legen
Klemperer registriert die agitatorische Wiederholung von Sprachstereotypen und ihre manipulativen Effekte. Er beugt sich über Belletristik. Er vergleicht den deutschen mit dem italienischen Faschismus. Er vergleicht Mussolini mit Hitler. Er erzählt immer wieder ausführlich von sich selbst.
Philologische Konsequenz: "Das Gift der LTI deutlich zu machen und vor ihm zu warnen - ich glaube, das ist mehr als bloße Schulmeisterei. Wenn den rechtgläubigen Juden ein Essgerät kultisch unrein geworden ist, dann reinigen sie es, indem sie es in der Erde vergraben. Man sollte viele Worte des nazistischen Sprachgebrauchs für lange Zeit, und einige für immer, ins Massengrab legen."
Das Buch "LTI" war, als es herauskam, ein Ereignis. Es steht gleichberechtigt neben anderen damals verlegten Zeugnissen wie Eugen Kogons "Der SS-Staat" und hatte eine ähnliche Wirkung. Es ging dem "Wörterbuch des Unmenschen" voraus, 1957 erschienen; die lexikalisch geordnete, in der Tendenz ähnliche Arbeit schrieben Dolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm E. Süßkind.
Victor Klemperer starb 1960. Nach 1945 hatte er, bereits im Emeritus-Alter, noch einmal eine akademische Karriere antreten können: an ostdeutschen Hochschulen. Obschon von bürgerlicher Herkunft und ausgestattet mit einem bürgerlichem Wissenschaftsverständnis, ließ er sich von der DDR politisch vereinnahmen, anfangs wohl in der Meinung, die Feinde seiner Feinde müssten seine Freunde sein.
Er erkannte dies bald als Irrtum. Schaudernd nahm er Ähnlichkeiten wahr zwischen Nazismus und Stalinismus, was er freilich alles in seinem Tagebuch verschloss. Veröffentlicht worden sind seine Diarien erst lange nach seinem Tod, ab Mitte der 1980er-Jahre. Die Aufzeichnungen von 1933 bis 1945, sie tragen den Titel "Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten", wurden zu einem Welterfolg.
Intellektuelles Überlebensmittel
Zuvor war der Romanist Victor Klemperer von allmählichem Vergessen bedroht. Seine schönen Maupassant-Übersetzungen wurden nicht mehr gedruckt. Seine literarhistorischen Publikationen über Voltaire und über Rousseau, in ihrer Haltung alles andere als marxistisch, wurden nicht mehr aufgelegt und kaum mehr gelesen. Nur seine Schüler hielten die Erinnerung an ihn wach, und die "LTI" blieb weiterhin zugänglich in Ost wie in West.
In der DDR griffen oppositionelle junge Leute begierig danach. In den Beschreibungen des Dritten Reichs und seiner formalisierten Sprache erkannten sie vieles wieder von der Wirklichkeit des ostdeutschen Staates, dessen Kinder sie waren; das Buch schärfte ihren kritischen Verstand, es bedeutete ihnen ein intellektuelles Überlebensmittel.
Zu den erwähnten Schülern Victor Klemperers habe ich gehört. Der kleine Mann, der so glänzend zu reden und zu lehren verstand, der unerhört gebildet, witzig, liebenswürdig, souverän, anteilnehmend war, er hat mich nachhaltig geprägt. Ein Text, den ich einmal über ihn geschrieben habe, schließt mit den Worten: "Ich weiß, ich habe ihn sehr geliebt."
Victor Klemperer: "LTI. Notizbuch eines Philologen"
Reclam Verlag, 385 Seiten, 9,90 Euro
Reclam Verlag, 385 Seiten, 9,90 Euro