Deutschlands Gelehrte können nicht aus dem Vollen schöpfen – auch nicht der "repräsentative Historiker der Berliner Republik", zu dem die taz Heinrich August Winkler voller Hochachtung ernannt hat. Kein Vorzimmer, kein lederner Schreibtischsessel. Und trotzdem: Glücklich sei er, sagt Winkler, dass er nach seiner Emeritierung überhaupt noch einen Raum in der Humboldt-Universität habe. Man glaubt es ihm.
Zwei aneinander geschobene grauen Schreibtische vor dem Fenster, drei Meter Billy-Regal weiß, in der Ecke drei gelbe Cocktailsessel mit grazilen, hölzernen Armlehnen. Dazu ein niedriger Tisch, der ebenso den Charme der 1960er atmet. Winkler setzt sich in einen Cocktailsessel, zupft die Krawatte zurecht, und erzählt, wie er das zentrale Thema seines Forscherlebens gefunden hat:
"Ich bin 1961, als ich in Londoner Archiven arbeitete als Student, in einer Buchhandlung auf ein Buch gestoßen mit dem Titel 'The German Idea of Freedom' – die deutsche Freiheitsidee – von einem amerikanischen Historiker mit einem deutschen Namen: Leonard Krieger. Und darin wurde die Idee der deutschen Abweichung vom Westen historisch seit der Reformation so überzeugend entwickelt, dass ich dachte: Daran muss man arbeiten!"
Das hat Winkler getan. Jahrzehntelang. Der deutsche Sonderweg – sein Thema. Deutschland - ein Land, das diesen Weg gegangen ist, bis zur deutschen Katastrophe, bis in den Zweiten Weltkrieg und in die Vernichtungslager des NS-Staates. Vor elf Jahren erschien sein zweibändiges Werk über diesen deutschen Sonderweg. "Der lange Weg nach Westen". Irgendwann während der Arbeit daran muss Winkler dann eine Lücke in seiner Bibliothek entdeckt haben. Eine Lücke, die zwischen all den Nationalgeschichten, Ideengeschichten und Ereignisgeschichten nicht nur in seiner Bibliothek klaffte. Es gab kein Buch, das die Geschichte Europas und Nordamerikas zusammenfasste, es gab keine Geschichte des Westens.
"Obwohl alles das, was wir unsere Werte, gerne auch die europäischen Werte nennen, in Wirklichkeit westliche, transatlantische Werte sind. Die Grundideen, auf die wir uns immer berufen: die Ideen der unveräußerlichen Menschenrechte, der Gewaltenteilung, der Herrschaft des Rechts, der repräsentativen Demokratie. Das ist, was ich das normative Projekt des Westens nenne."
2009 erschien der erste Band von Winklers "Geschichte des Westens", der von den Anfängen bis in 20. Jahrhundert reicht. 1343 Seiten stark. Im diesem Sommer folgte der zweite, der auf 1350 Seiten die "Zeit der Weltkriege 1914 bis 1945" umfasst. Winkler beschreibt Ursprung und Entwicklung des Westens und seines Wertekanons. Und er beschreibt, wie der Westen selbst diese Werte fortgesetzt ignoriert hat – im Dreißigjährigen Krieg, in der Zeit des Imperialismus, in Auschwitz. Zu sagen, Winklers Werk sei von der Kritik gefeiert worden, wäre eine Untertreibung. Mit blanker Bewunderung attestierten ihm die Rezensenten, eine gigantische Materialfülle für sein Werk bewältigt zu haben. Das sei keine große Sache, sagt er lächelnd und mit einer anständigen Portion Understatement. Man müsse eben an die auszuwertende Literatur nur mit einer klaren Fragestellung herangehen. Als würde allein das die Bücherberge schon schrumpfen lassen, die er für seine Forschung ausgewertet hat. Heinrich August Winkler ist seit 50 Jahren SPD-Mitglied, schon immer hat er sich in aktuelle politische Debatten eingemischt. Was ihn im Moment umtreibt, das lässt ihn jetzt im Eifer der Argumentation auf die vordere Kante seines Sessels rutschen. Es ist das Phänomen der Wutbürger und ihre Art auf Politiker und Parlamente herabzuschauen:
"Ich beobachte oft bei sogenannten Straßeninterviews, wie da über die Politiker gesprochen wird. In letzter Zeit geht das oft einher mit einer Verächtlichmachung der Politik, auch des Parlaments. Und da wir das in Weimar schon einmal in krasser Form erlebt haben, finde ich, ist es notwendig, diesen Vorurteilen gegenüber der repräsentativen Demokratie zu widersprechen."
Der Historiker breitet auf dem Tisch ein Dutzend Blätter aus, allesamt mit der Hand beschrieben. Akkurat aufgelistet und mit rotem und blauem Textmarker bearbeitet, stehen dort Zitate aus einem Buch, das ihn in diesem Jahr besonders gut gefallen hat. "Die erregte Republik" heißt es. Winkler hat es nicht nur gelesen. Er hat es durchgearbeitet. Der Verfasser: Thymian Bussemer. Sein Buch – ein Plädoyer gegen die plebiszitäre Demokratie. Bussemer schwimmt gegen den Strom, urteilt Winkler voller Anerkennung:
"Bussemer hat bei seiner Beobachtung von Volksabstimmungen eine Beobachtung gemacht, die ich für richtig halte: Oft sind es ziemlich egoistische Ziele, die da vertreten werden. Oft die Ziele von privilegierten Minderheiten. Oft ist es mehr der Bourgeois als der Citoyen, der sich da artikuliert. Das ist legitim, aber es ist keine legitimere Form von Demokratie."
Bei diesem Thema sprudelt es förmlich aus dem Historiker hervor. Sokrates sei schließlich von einer aufgeputschten Volksversammlung zum Tode verurteilt worden, sagt er. Und schon die Autoren der Federalist-Papers, des ersten Kommentars zur US-Verfassung, hätten vor dem Einfluss von Demagogen auf Volksabstimmungen gewarnt. Argumente eines Historikers, die seiner Meinung nach zu kurz kommen, wenn über Stuttgart 21 oder den Bau des Berliner Flughafens debattiert wird.
Winkler greift sich jetzt Bussemers Buch mit dem grellgelben Schutzumschlag und blättert, sucht nach einer Passage, die ihm besonders gut gefällt. Die auf den Punkt bringt, dass die Wutbürger alle möglichen Interessen vertreten, aber nicht die der Gesamtgesellschaft, sagt er – und zitiert:
"Wagt es die Politik, Privilegien infrage zu stellen, setzt sofort ein ungebändigter Proteststurm ein. Was aber Sorgen machen muss, ist die dahinterstehende Haltung: Politikverachtung, die sich mit fundamentalistischer Besitzstandswahrung paart."
Zurück zu seinem noch unvollendeten Werk. Derzeit arbeitet Heinrich August Winkler am dritten Band seiner "Geschichte des Westens", der sich bis in die Gegenwart erstreckt. Bis in die Spätphase der Ära Kennedy hat er sich schon vorgekämpft, sagt er. Geht alles gut, wird das Buch 2014 erscheinen. Und welches Fazit wird am Ende stehen? Welche Zukunft gibt er dem Westen?
"Eine Hoffnung würde ich schon jetzt ausdrücken wollen. Das normative Projekt des Westens ist unvollendet, weil die Menschenrechte nicht allgemein anerkannt werden. Aber ich glaube, dass dieses Projekt den Westen als machtpolitischen Faktor überleben könnte und überleben sollte."
Bis er dieses Fazit zu Papier bringt, sind aber noch fast 50 Jahre der Geschichte des Westens durchzuarbeiten. Am Schreibtisch in seinem Büro, gleich um die Ecke vom Gendarmenmarkt.
Thymian Bussemer: "Die erregte Republik. Wutbürger und die Macht der Medien." Verlag Klett-Cotta, 253 Seiten, 19,95 Euro, ISBN: 978-3-608-94620-8
Zwei aneinander geschobene grauen Schreibtische vor dem Fenster, drei Meter Billy-Regal weiß, in der Ecke drei gelbe Cocktailsessel mit grazilen, hölzernen Armlehnen. Dazu ein niedriger Tisch, der ebenso den Charme der 1960er atmet. Winkler setzt sich in einen Cocktailsessel, zupft die Krawatte zurecht, und erzählt, wie er das zentrale Thema seines Forscherlebens gefunden hat:
"Ich bin 1961, als ich in Londoner Archiven arbeitete als Student, in einer Buchhandlung auf ein Buch gestoßen mit dem Titel 'The German Idea of Freedom' – die deutsche Freiheitsidee – von einem amerikanischen Historiker mit einem deutschen Namen: Leonard Krieger. Und darin wurde die Idee der deutschen Abweichung vom Westen historisch seit der Reformation so überzeugend entwickelt, dass ich dachte: Daran muss man arbeiten!"
Das hat Winkler getan. Jahrzehntelang. Der deutsche Sonderweg – sein Thema. Deutschland - ein Land, das diesen Weg gegangen ist, bis zur deutschen Katastrophe, bis in den Zweiten Weltkrieg und in die Vernichtungslager des NS-Staates. Vor elf Jahren erschien sein zweibändiges Werk über diesen deutschen Sonderweg. "Der lange Weg nach Westen". Irgendwann während der Arbeit daran muss Winkler dann eine Lücke in seiner Bibliothek entdeckt haben. Eine Lücke, die zwischen all den Nationalgeschichten, Ideengeschichten und Ereignisgeschichten nicht nur in seiner Bibliothek klaffte. Es gab kein Buch, das die Geschichte Europas und Nordamerikas zusammenfasste, es gab keine Geschichte des Westens.
"Obwohl alles das, was wir unsere Werte, gerne auch die europäischen Werte nennen, in Wirklichkeit westliche, transatlantische Werte sind. Die Grundideen, auf die wir uns immer berufen: die Ideen der unveräußerlichen Menschenrechte, der Gewaltenteilung, der Herrschaft des Rechts, der repräsentativen Demokratie. Das ist, was ich das normative Projekt des Westens nenne."
2009 erschien der erste Band von Winklers "Geschichte des Westens", der von den Anfängen bis in 20. Jahrhundert reicht. 1343 Seiten stark. Im diesem Sommer folgte der zweite, der auf 1350 Seiten die "Zeit der Weltkriege 1914 bis 1945" umfasst. Winkler beschreibt Ursprung und Entwicklung des Westens und seines Wertekanons. Und er beschreibt, wie der Westen selbst diese Werte fortgesetzt ignoriert hat – im Dreißigjährigen Krieg, in der Zeit des Imperialismus, in Auschwitz. Zu sagen, Winklers Werk sei von der Kritik gefeiert worden, wäre eine Untertreibung. Mit blanker Bewunderung attestierten ihm die Rezensenten, eine gigantische Materialfülle für sein Werk bewältigt zu haben. Das sei keine große Sache, sagt er lächelnd und mit einer anständigen Portion Understatement. Man müsse eben an die auszuwertende Literatur nur mit einer klaren Fragestellung herangehen. Als würde allein das die Bücherberge schon schrumpfen lassen, die er für seine Forschung ausgewertet hat. Heinrich August Winkler ist seit 50 Jahren SPD-Mitglied, schon immer hat er sich in aktuelle politische Debatten eingemischt. Was ihn im Moment umtreibt, das lässt ihn jetzt im Eifer der Argumentation auf die vordere Kante seines Sessels rutschen. Es ist das Phänomen der Wutbürger und ihre Art auf Politiker und Parlamente herabzuschauen:
"Ich beobachte oft bei sogenannten Straßeninterviews, wie da über die Politiker gesprochen wird. In letzter Zeit geht das oft einher mit einer Verächtlichmachung der Politik, auch des Parlaments. Und da wir das in Weimar schon einmal in krasser Form erlebt haben, finde ich, ist es notwendig, diesen Vorurteilen gegenüber der repräsentativen Demokratie zu widersprechen."
Der Historiker breitet auf dem Tisch ein Dutzend Blätter aus, allesamt mit der Hand beschrieben. Akkurat aufgelistet und mit rotem und blauem Textmarker bearbeitet, stehen dort Zitate aus einem Buch, das ihn in diesem Jahr besonders gut gefallen hat. "Die erregte Republik" heißt es. Winkler hat es nicht nur gelesen. Er hat es durchgearbeitet. Der Verfasser: Thymian Bussemer. Sein Buch – ein Plädoyer gegen die plebiszitäre Demokratie. Bussemer schwimmt gegen den Strom, urteilt Winkler voller Anerkennung:
"Bussemer hat bei seiner Beobachtung von Volksabstimmungen eine Beobachtung gemacht, die ich für richtig halte: Oft sind es ziemlich egoistische Ziele, die da vertreten werden. Oft die Ziele von privilegierten Minderheiten. Oft ist es mehr der Bourgeois als der Citoyen, der sich da artikuliert. Das ist legitim, aber es ist keine legitimere Form von Demokratie."
Bei diesem Thema sprudelt es förmlich aus dem Historiker hervor. Sokrates sei schließlich von einer aufgeputschten Volksversammlung zum Tode verurteilt worden, sagt er. Und schon die Autoren der Federalist-Papers, des ersten Kommentars zur US-Verfassung, hätten vor dem Einfluss von Demagogen auf Volksabstimmungen gewarnt. Argumente eines Historikers, die seiner Meinung nach zu kurz kommen, wenn über Stuttgart 21 oder den Bau des Berliner Flughafens debattiert wird.
Winkler greift sich jetzt Bussemers Buch mit dem grellgelben Schutzumschlag und blättert, sucht nach einer Passage, die ihm besonders gut gefällt. Die auf den Punkt bringt, dass die Wutbürger alle möglichen Interessen vertreten, aber nicht die der Gesamtgesellschaft, sagt er – und zitiert:
"Wagt es die Politik, Privilegien infrage zu stellen, setzt sofort ein ungebändigter Proteststurm ein. Was aber Sorgen machen muss, ist die dahinterstehende Haltung: Politikverachtung, die sich mit fundamentalistischer Besitzstandswahrung paart."
Zurück zu seinem noch unvollendeten Werk. Derzeit arbeitet Heinrich August Winkler am dritten Band seiner "Geschichte des Westens", der sich bis in die Gegenwart erstreckt. Bis in die Spätphase der Ära Kennedy hat er sich schon vorgekämpft, sagt er. Geht alles gut, wird das Buch 2014 erscheinen. Und welches Fazit wird am Ende stehen? Welche Zukunft gibt er dem Westen?
"Eine Hoffnung würde ich schon jetzt ausdrücken wollen. Das normative Projekt des Westens ist unvollendet, weil die Menschenrechte nicht allgemein anerkannt werden. Aber ich glaube, dass dieses Projekt den Westen als machtpolitischen Faktor überleben könnte und überleben sollte."
Bis er dieses Fazit zu Papier bringt, sind aber noch fast 50 Jahre der Geschichte des Westens durchzuarbeiten. Am Schreibtisch in seinem Büro, gleich um die Ecke vom Gendarmenmarkt.
Thymian Bussemer: "Die erregte Republik. Wutbürger und die Macht der Medien." Verlag Klett-Cotta, 253 Seiten, 19,95 Euro, ISBN: 978-3-608-94620-8