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Kurzgeschichten
Das Universum eines genialen Erzählers

Zu seinem 80. Geburtstag hat der Mexikaner Sergio Pitol seine besten Kurzgeschichten in einem Band zusammengestellt. Die Erzählungen sind zwischen 1965 und 1980 entstanden und geben einen Einblick in die Arbeit eines Autors, der durch das Übersetzen zum Schreiben fand.

11.11.2013
    Sergio Pitol gehört neben dem 2012 verstorbenen Carlos Fuentes zu den weltgewandten Autoren Mexikos, dessen Romane und Erzählungen in viele Sprachen übersetzt und mit renommierten Literaturpreisen wie Premio Villarrutia, Premio Juan Rulfo, Premio Cervantes - ausgezeichnet wurden.
    Der frühe Tod der Eltern - der Vater starb an Meningitis, die Mutter ertrank in einem Fluss – überschattete seine Kindheit auf der im Bundesstaat Veracruz gelegenen Zuckerrohrplantage El Potrero. Sergio Pitol litt jahrelang an Malaria und wurde im Krankenbett zum leidenschaftlichen Leser der Romane von Mark Twain, Jules Verne und Louis Stevenson, die ihm seine Großmutter besorgte.
    Sergio Pitol studierte Jura und ging 1961 nach Europa. Er arbeitete in Rom, Barcelona, Paris und anderen Städten als Lektor und Verlagsgutachter, vor allem jedoch als literarischer Übersetzer, der über vierzig Romane ins Spanische übertrug, darunter Witold Gombrowicz, Henry James, Jane Austen, Nicolas Gogol und andere Romanciers von Weltrang. Er hat außerdem an verschiedenen Universitäten unterrichtet, war Kulturattachée in Frankreich Ungarn, Polen und Russland und Botschafter in Prag, ehe er 1988 definitiv nach Mexiko zurückkehrte und sich in der Nähe von Xalapa niederließ. Zu Sergio Pitols achtzigstem Geburtstagstag – er wurde am 18. März 1933 in Puebla geboren - hat der Wagenbach Verlag, der bereits mehrere seiner Romane sowie den Erzählband "Mephistowalzer" herausbrachte, mit "Drosseln begraben" eine Auswahl seiner besten Erzählungen vorgelegt, die Margrit Klingler - Clavijo für uns gelesen hat.
    Die in diesem Band zusammengestellten Erzählungen - sie sind allesamt zwischen 1965 und 1980 entstanden - eignen sich gut als Einstieg in das literarische Universum eines genialen Erzählers, der über das Lesen und Übersetzen zum Schreiben fand.
    Das Grundmuster seiner tiefgründigen und verstörenden Erzählungen sieht so aus: Ein Autor sitzt irgendwo auf der Welt in einem Café einem Hotelzimmer, einem Eisenbahnabteil oder auf einem Schiffsdeck. Er geht seine Tagebücher und Notizhefte durch und überlegt, ob er eine Romanskizze weiter ausgestalten oder eine Erzählung, die ihm nicht von der Hand ging, wieder aufnehmen soll. Doch dann schweift er ab, verirrt sich im Labyrinth seiner Erinnerungen, Zweifel und Zwangsvorstellungen. Er verliert den Faden, weiß nicht mehr, wie er, der dem Leser doch die mysteriösen Entstehungsprozesse seiner Erzählungen veranschaulichen wollte, weitermachen könnte. Er zweifelt an sich und der Welt, fängt an, seine Sicht auf die Dinge und die Welt infrage zu stellen, bis etwas Unerwartetes geschieht und den Weg für etwas Neues freigibt.
    "Es ist Pitols Stil, diesen grässlichen Personen zu entkommen, die voller Gewissheiten sind. Sein Stil ist es, das zu verdrehen, was er anschaut. Sein Stil ist es, zu reisen und Länder zu verlieren und immer eine oder zwei Brillen, alles zu verlieren. Wahrscheinlich schrieb Juan Villoro deshalb, dass Pitols Erzählungen nichts zu klären versuchen, sondern das verzerren, was er sieht."
    So beschreibt Enrique Vila – Matas im Vorwort der spanischen Ausgabe von Pitols "Besten Erzählungen" die stilistischen Eigenheiten seines langjährigen Freundes, der wie er das kaleidoskopartige Erzählen liebt, die Metaliteratur und die Gratwanderungen zwischen Fiktion und Realität, ganz zu schweigen von den veränderten Bewusstseinslagen wie sie durch Alkoholgenuss, Fieberanfälle oder Träume hervorrufen werden. Sergio Pitols Entwicklung zum Meistererzähler, der trotz gegenteiliger Betörungen die Fäden seiner verschachtelten Erzählungen stets in der Hand hält, lässt sich am Besten aufzeigen an den beiden Erzählungen über die Kindheit, mit denen der Erzählband anfängt und endet. In seiner ersten, 1957 erschienene Erzählung "Victorio Ferri erzählt eine Geschichte" hält er sich an traditionelle Erzählmuster und zeigt in Schwarz-Weiß Manier einen Sohn, der sich vergeblich abmüht, dem vernichtenden Einfluss seines despotischen Vaters zu entkommen. Der Vater raubt dem Sohn buchstäblich die Lebenskraft, so dass er vor dem übermächtigen Vater stirbt, der hier zur Inkarnation des Bösen wird.
    In "Drosseln begraben", der letzten Erzählung, auf die der Titel des Bandes verweist, stellt Pitol seine Virtuosität unter Beweis, wenn er nach Jahrzehnten der zeitlichen und räumlichen Distanz noch einmal auf die Anfangsjahre seines Lebens zurückblickt, die Kindheit in "el Potrero" während des II. Weltkriegs evoziert und einem reifen Autor das Wort erteilt, der sich
    "einen Jungen vorstellt, dessen Familie, Nachbarn und Freunde, und der den Zeitpunkt beschreibt, an dem er zum ersten Mal dem Bösen begegnet, oder besser gesagt den Zeitpunkt, an dem er seine eigene Schwäche entdeckt, seine mangelnde Widerstandskraft gegen das Böse."
    Die übrigen Erzählungen handeln vom Reisen in China, Italien und Osteuropa, vom schwer zu stillenden Lebenshunger und vergeblicher Sinnsuche, Momenten der Einsamkeit und der Begegnung, Erinnerungen und Träumen und dem Zurückgeworfensein auf sich Selbst im ständigen Unterwegssein.
    In der Erzählung "Gen Warschau" lädt eine alte Polin nach einer langen Zugfahrt einen Mexikaner zu sich nach Hause ein, dessen italienische Großeltern dereinst nach Mexiko ausgewandert waren. Er kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus, als ihm die alte Dame die Urne mit der Asche seines Großvaters zeigt, die den Kaminsims des Wohnzimmers ziert. In der Erzählung AUFGEBAHRT muss sich der mexikanische Self Made Man Daniel Guarneros in Rom nach zuviel Cognac eingestehen, dass ihn seine Frau anödet. Dabei hatte er vor Jahren mit ihr in Rom herrliche Flitterwochen verbracht. Doch trüb war nun der Rückblick auf das Erreichte – "elegante Ehefrau, Wohnsitz in Pedregal, Januar in Acapulco, Herbst in Europa", - wovon der ambitionierte Emporkömmling jahrelang geträumt hatte.
    "Meine Erzählungen waren ein Logbuch, das meine Bewegungen verzeichnet. Ein Spektrum meiner Sorgen, glücklicher und unglücklicher Augenblicke, Lektüren, Unschlüssigkeiten und Mühsale.“
    So bezieht sich Sergio Pitol in seinem wohl persönlichsten, 2007 erschienenen Roman "Die Kunst der Flucht" auf sein Erzählwerk und verschweigt, dass man sich diesen Erzählungen mit viel Weltgehalt und psychologischem Tiefgang nicht entziehen kann.
    Sergio Pitol: Drosseln begraben. Berlin, Wagenbach, 2013, Übersetzung aus dem Spanischen: Angelica Ammar, Preis: 19,90 Euro