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Kurzgeschichten über digitale Entgiftung
„DETOX“ Episode 3: Aufstand

Leben ohne mobiles Netz - ein Paradies. Doch plötzlich taucht die Sucht nach dem Smartphone wieder auf, Bürger starten eine Revolution. Das Ministerium greift nicht ein - denn es gibt keine Politiker mehr, nur noch Künstliche Intelligenz. Und die wiedererlangten Handys werden zur Lebensgefahr.

Von Maximilian Schönherr |
    Kurzgeschichten über digitale Entgiftung - "DETOX" Episode 3: Aufstand
    Detox-Revolution? Nicht unter der neuen Herrschaft der Künstlichen Intelligenz - Panzer rollen heran .... (Deutschlandradio / Hans-Jörg Brehm)
    Das Ministerium hatte lange tatenlos zugesehen. Das, was unser Leben ausmacht, das Zwischenmenschliche, der lebendige Kontakt zu den Mitmenschen, war über die Jahre weitgehend verloren gegangen, demokratische Wahlen wurden über sogenannte soziale Netzwerke von korrupten Unternehmen gekapert. Das war nur durch die massenweise Nutzung von Smartphones möglich geworden.
    Mit überwältigender Mehrheit verabschiedete das Parlament folgerichtig die digitale Entgiftung: das Detox-Gesetz. Es hatte weitreichende Konsequenzen. Handys sollten an zentralen Stellen abgegeben werden, dafür bekam man dann lebenslang Festnetz oder garantiert jeden Herbst einen Sack Bioäpfel oder täglich ein neues Schokoladenherz zum Umhängen.
    "Ein Schokoherz, jeden Tag!"
    Was sich niemand vorstellen konnte, ein Leben ohne mobiles Netz, und was anfangs allen so weh tat, führte innerhalb weniger Monate zu fast paradiesischen Zuständen im Land. Die Menschen wählten ihre Politiker mit Bedacht. Kinder konkurrierten nicht mehr über soziale Netzwerk-Apps. Pärchen lernten sich in Cafés kennen und nicht mehr über Dating-Portale.
    "Der Wahnsinn, dass ich dich gefunden habe. Ohne App!"
    Man sprach wieder miteinander, Eltern sahen ihre Kinder richtig lange und meist voller Zuneigung an – und nicht die Selfies der Kinder. Es gab gar keine Selfies mehr, nur Spiegel.
    "Mama, schon wieder ein Pickel. Tu den Spiegel weg!"
    Weil die Politik seit Detox wie geschmiert lief, ließen sich Politiker immer seltener blicken. Sie mussten nicht mehr um Anerkennung buhlen. Die Wahlbeteiligung war wegen der großen Zufriedenheit der Bürger hoch wie nie zuvor. Quasi eine kollektive Danksagung. Nur einmal trat die Ministerin kurz vor die Mikrofone, um sich für eine Grundgesetzänderung zu entschuldigen. Die sei auf Fremdeinflüsse zurückzuführen, wahrscheinlicher aber einfach versehentlich geschehen, quasi unterlaufen:
    Artikel 1: Die Würde der Künstlichen Intelligenz ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
    Offenbar ließ sich das nicht zurückdrehen.
    "Ist aber eh nicht weiter schlimm", sagte die Ministerin.
    Revolution gegen Detox
    Wie immer, wenn alles rund läuft, wenn alles gut ist, gab es Störer, Leute, die nachts auf die Dächer kletterten, die LTE-Masten kurzschlossen, um sich ihren privaten Netzempfang für ihr Handy einzurichten. Solch unnötige Aktionen waren nicht verboten, aber nicht im Sinn einer detoxifizierten Gesellschaft.
    "Was tun Sie da oben, so spät?"
    "Netz holen."
    "Musste man da immer aufs Dach klettern, um Netz zu bekommen?"
    Nicht mehr so lustig war, dass eine Gruppe von Unbekannten das Depot für abgelieferte Handys im Brandenburgischen Rheinsberg aufbrachen und einige zigtausend Smartphones mitnahmen. Die waren eigentlich zu nichts zu gebrauchen, aber weil inzwischen einige Antennen im Land Brandenburg durch Vandalismus wieder aktiviert wurden, dann eben doch. Es sprach sich wie ein Lauffeuer, ganz ohne mobiles Netz, herum, wo mobiles Netz zu empfangen war.
    Als hätte Detox das Volk in einen zuckersüßen Tiefschlaf versetzt, wachten nun immer mehr Bürger auf, wollten ihre Smartphones zurück haben, und zwar legal. Auf dem Schwarzmarkt lag der Preis für Handys bei einigen zigtausend Euro.
    "He, komm, ich hab das früher mal für 300 Euro gekauft."
    "Früher, ja früher."
    Das Ministerium ließ verkünden, dass jeder, der sein Handy zurück hat, sein lebenslanges Festnetz verliert.
    Ganz Brandenburg hatte binnen weniger Wochen wieder mobiles Netz. Weil schon lange kein Bus mehr fuhr, konnte man jetzt wieder die Stadt besuchen, indem man über eine App Fahrgemeinschaften organisierte, wie früher, in selbstgesteuerten Automobilen.
    Der kleine Detox-Aufstand wuchs sich zu einer Revolution aus. Er begann, sich von Brandenburg ins benachbarte Mecklenburg-Vorpommern auszubreiten. Das Ministerium blieb bemerkenswert gelassen, ja stumm.
    Autonome Panzer rollen ein
    Dann geschah es: Im Morgengrauen – es war noch stockdunkel – fuhren die Panzer in die Dörfer ein. Sie schossen nicht, sie besetzten stumm strategische Stellen im Ort – die Häuser mit den Mobilfunkantennen.
    Die Fahrzeuge waren nicht von Menschen gesteuert, sondern bewegten sich autonom. Das Ministerium meldete übers Fernsehen, dass es nichts zu sehen gäbe. Man solle das Radio einschalten. Im Radio sprach dann eine sehr natürliche synthetische Stimme von "außerordentlichen Maßnahmen für außerordentliche Situationen."
    Als die Ministerin vor die Kameras trat, war nicht klar, ob sie selbst es war oder ein Avatar. Sie sprach etwas eigenartig in einem endlosen Loop den Artikel 1 des Grundgesetzes:
    Die Würde der KI ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Die Würde der KI ist unantastbar. Sie zu achten …
    Niederschlagung des Aufstands
    Inzwischen waren etwa eine Million Handys reaktiviert worden. Seit das Ministerium die Panzer ausgerollt hatte, erschien nach Neustart auf den Displays der Geräte die Meldungen:
    "Wenn Sie mich nicht innerhalb 24 Stunden ins Depot zurückbringen, explodiere ich."
    "Wie soll das denn gehen, explodieren?"
    Es ging, denn die KI hatte das Ministerium und die digitale Infrastruktur übernommen. Komplett.
    "Deswegen war ewig kein Politiker mehr zu sehen. Wir werden nicht mehr von Politikern regiert, sondern von Künstlicher Intelligenz!"
    Und buff machte ein Smartphone nach dem anderen. Es gab Schwerverletzte. Wenn es sich in der Hosentasche befand, sprengte es die Hoden weg. Sah sich die Anwenderin gerade Tweets von regierungsfeindlichen Bots an, gab es einen Knall und Scherben, die sie blind und taub machten, taub für einige Tage, blind für immer. Die Feinpartikel des explodierten Displays arbeiteten sich toxisch in die vorderen Hirnbereiche vor. Seltene Erden mitten im Kopf – gar nicht gut.
    Die Panzer zogen ab. Das Detox-Paradies griff wieder um sich, auch am platten Land. Ganz so, als sei nichts geschehen.