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Kyiv statt Kiew

20 Jahre nach seiner Unabhängigkeit ist die Ukraine aus dem Schatten ihres großen Nachbarn Russland getreten. Doch die Bemühungen um klare Grenzziehung gehen weiter – auch in der Sprache.

Von Roman Goncharenko |
    Platz der Unabhängigkeit in Kiew. Zu jeder vollen Stunde spielt die Uhr am Haus der Gewerkschaften die Melodie eines Walzers, in dem die Schönheit der ukrainischen Hauptstadt besungen wird. In der ukrainischen Sprache heißt diese im fünften Jahrhundert gegründete Stadt eigentlich 'Kyjiw'. Eine linguistische Herausforderung für viele Ausländer, die den typisch ukrainischen Laut "y" kaum aussprechen können und daraus lieber einen "i" machen -'Kiew'.

    Doch Vorsicht ist geboten. 'Kiew' ist die russische Schreib- und Sprechweise. Sie wird von manchen Ukrainern als eine Anspielung auf die frühere Vorherrschaft Russlands gedeutet. Bohdan Aschnjuk ist Leiter einer Sprachenabteilung an der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften.

    "Für einen Ukrainer ist es schon wichtig, wie es geschrieben wird. Man kann T-Shirts kaufen, auf denen 'I love Kiev' steht und solche, auf denen 'I love Kyiv' geschrieben ist. Das hat eine symbolische und eine identifizierende Bedeutung. Auch wenn der Name der Stadt mit lateinischen Buchstaben geschrieben wird, dann deutet 'Kiev' auf einen russischen kulturellen und sprachlichen Kontext hin."

    Es ist ein Fall, bei dem Orthografie auf Geopolitik trifft: Wer die russische Variante 'Kiev' wählt, signalisiert damit eine pro-russische Haltung, ohne sich unter Umständen dessen bewusst zu sein. 20 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion tut sich Russland immer noch schwer mit der Souveränität der ehemaligen Schwesterrepublik. Moskau betrachtet die Ukraine als seine Einflusssphäre, egal ob es um Politik, Wirtschaft, Kultur oder Religion geht. Die ukrainische Hauptstadt Kiew wird in russischen Geschichtsbüchern als die "Mutter russischer Städte" bezeichnet. Der altslawische Staat Kiewer Rus gilt als Vorläufer für das spätere russische Reich.

    In der Ukraine selbst gibt es viele Menschen, die bis heute alles Ukrainische ablehnen. Als die Ukraine im August 1991 ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion erklärt hatte, war Russisch die dominierende Sprache. Das Ergebnis einer Jahrhunderte langen Russifizierung. Nur in der Westukraine hatte Ukrainisch überlebt, das sich vom Russischen etwa so unterscheidet wie Deutsch und Niederländisch. In der unabhängigen Ukraine wurde Ukrainisch zur Staatssprache erklärt. Bald stellte sich die Frage, wie denn ukrainische Eigennamen - also Namen von Personen und geografische Namen - aus dem Kyrillischen ins Lateinische übertragen werden sollen? Die Antwort gab 1993 eine Konferenz der ukrainischen Sprachwissenschaftler.

    "Es gab viel Polemik rund um technische und orthografische Fragen. Doch alle waren sich einig darüber, dass die Staatssprache des Landes, also das Ukrainische, bei der Wiedergabe von Eigennamen benutzt werden sollte."

    Nach den neuen Regeln soll der ukrainische Boxweltmeister 'Wolodymyr' und nicht wie im Russischen 'Wladimir' Klitschko genannt werden. Der Fluss, an dem die ukrainische Hauptstadt liegt, soll 'Dnipro' und nicht 'Dnjepr' heißen. Aus 'Kiew' soll 'Kyjiw' werden. Eine Änderung, die sich bis heute nicht durchgesetzt hat. Bei der Fußball-Europameisterschaft im kommenden Jahr wird der Name der ukrainischen Spielorte so geschrieben, wie diese Städte im Ukrainischen heißen - Kyiv, Kharkiv oder Lviv. Doch im Ausland halten sich viele Menschen und Medien immer noch an der alten, an das Russische angelehnten Version.

    Auch im Deutschen hat sich der russische Name der ukrainischen Hauptstadt durchgesetzt, was Mychajlo Jurtschenko ärgert. Der 33-Jährige ist Übersetzter beim Goethe-Institut in der ukrainischen Hauptstadt.

    "Bei Behörden gilt, dass Kiew mit 'ie' geschrieben wird, da es im Duden so steht. Ich bin der Meinung, dass die ukrainische Schreibweise eine Grundlage für die Schreibweise in der deutschen Sprache bilden soll. Ich würde mir wünschen, dass es im Duden bald stehen wird: sowohl Kiew als auch Kyjiw - K-Y-J-I-W."

    Redaktion der Kiewer Wochenzeitung 'Kyiv Post'. Ein halbes Dutzend junger Frauen sitzt in einem Raum und schreibt Artikel. Auf Englisch. Das Zielpublikum: Diplomaten und ausländische Geschäftsleute. 'Kyiv Post' gibt es seit 1995, sagt Redakteurin Julia Popowa:

    "Anfangs hieß unsere Zeitung 'Kiev Post', doch diesen Namen haben wir nach einigen Jahren geändert. Unsere Leser haben darauf hingewiesen, dass unsere Zeitung in einer unabhängigen Ukraine erscheint, deshalb ist es wichtig, die Namen der Städte, nicht nur "Kyiv", nach der ukrainischen Schreibweise zu übertragen - und nicht nach der russischen."

    Trotzdem kommt es vor, dass auch in 'Kyiv Post' mal die alte 'russische' Schreibweise 'Kiev' auftaucht - zum Beispiel in Anzeigen. Das verwirrt den einen oder den anderen Leser, doch ein großes Problem scheint es nicht.

    Anmerkung der Redaktion: Im Vorspann wurde ein Zeitbezug korrigiert.