Ein Abendessen wie das im weltentrückten Gokanosho oben in den Bergen, das hätten wir uns noch nicht einmal träumen lassen. Wir sind die einzigen Gäste des Minshuku, einer traditionellen Familienpension. In Kimonos sitzen wir, drei Frauen und zwei Männer, um einen achteckigen Tisch, in dessen Mitte, in einer mit Sand bedeckten Vertiefung, ein Feuer brennt. Auf dem Gedeck ein Blatt mit handgetuschten japanischen Zeichen - das Menü aus 18 mehrteiligen Speisefolgen. Mit uns am Tisch im Kimono sitzt Ken Takenaga, unser japanischer Begleiter. "Dies ist ein Dinner-Tisch im alten Stil. So hat man in den Familien noch vor fünfzig Jahren zu Abend gegessen. Heute sieht man solche Einrichtungen nicht mehr. Hier ist einer der wenigen Orte in Japan, wo man diese Atmosphäre noch genießen kann. Eine phantastische Atmosphäre. Der Hausherr, Mister Matsuoka, bereitet gerade warmen Sake, starken traditionellen Reiswein in Bambus, vor. Hier existiert das alte Japan noch."
Ken erklärt uns all die Köstlichkeiten in unzähligen Schälchen und Töpfen: Forellen- und Wildschwein-Sashimi, Seidentofu, Miso-Suppe, gegrilltes Reh mit Ingwer, Fischeier, fremdes Gemüse und Waldpilze in Soja-Wasabi-Soßen. Alles serviert von der Pensionswirtin Tayoko Matsuoka, die eine himmelblaue Batikbluse mit dazu passendem Käppi trägt, und gekocht von ihrem Mann, Hajime Matsuoka. Aus einem Bambusrohr, am Morgen frisch geschnitten, schenkt er uns den Sake ein. Er sei in Gokanosho geboren, sagt er. "In der Stadt Kumamoto habe ich dann die Highschool und ein College besucht und dort ein Jahr als Buchhalter gearbeitet. Als ich 23 Jahre alt war, habe ich meine Eltern in Gokanosho besucht. Das war im November, und zum ersten Mal habe ich die wunderschöne Verfärbung der Laubwälder bewusst wahrgenommen. Da habe ich beschlossen, hier zu bleiben. Von Verwandten habe ich dieses Gehöft erworben und für Gäste hergerichtet. Das ist nun schon 36 Jahre her."
Das Gästehaus der Familie Matsuoka besteht aus drei großen leeren Räumen, jeweils mit einer separaten Toilette und einem Waschbecken auf der Veranda. Ein Kimono mit wollener Weste liegt bereit, auf einem niedrigen Tischchen heißes Wasser und grüner Pulvertee. Später wird Frau Matsuoka einen Futon auf den Boden legen, dazu ein Reiskopfkissen und reichlich Decken.
Im Dorf der fünf Familien
Vorm Abendessen geht man ins Badehaus unten am rauschenden Fluss, wie üblich in Japan Männer und Frauen getrennt. Man duscht sich gründlich und steigt dann in die bereitstehende, abgedeckte Badewanne mit sehr heißem Wasser - Sauna auf Japanisch.
Im "Dorf der fünf Familien", so die Bedeutung von Gokanosho, leben nur wenige hundert Menschen. Es sind eigentlich fünf Weiler, verstreut in dieser abgeschiedenen Bergregion, manche so klein, dass sie nur aus einem Gehöft bestehen. Viele Bewohner sind Nachkommen eines Samurai-Clans, der sich vor mehr als 800 Jahren in die Unwegsamkeit des bis zu 1769 Meter hohen Gebirgsdschungels im Herzen von Kyushu, der südlichsten Hauptinsel Japans, flüchtete. "Damals hatte es eine große Schlacht zwischen zwei Samurai-Clans gegeben. Ein Clan hieß Genji, sie waren die Sieger der Schlacht. Die Verlierer waren die Heike, deren Nachkommen hier leben. Bei der letzten großen Schlacht im Jahr 1185 wurden sie von den Genji-Samurai vernichtend geschlagen, verfolgt und zu Tausenden getötet. Nur wenigen gelang es, zu entkommen und sich hier, in diesem zerklüfteten Gebirge, zu verstecken."
Bald gerieten die Heike-Samurai und ihre Nachfahren an diesem wilden Rückzugsort in Vergessenheit. Im Nachbarort Hagi, in der Pension des passionierten Jägers Seiichi Ogata, führt uns Ken durch das 300 Jahre alte Holzhaus eines früheren Clan-Chefs der Heike. Herr Ogata ist stolz darauf, dass er seinen Stammbaum 49 Generationen bis zu den Heike-Samurai zurückverfolgen kann. Es geht eine steile Treppe hoch. "Das Familienoberhaupt in jedem Dorf war Regierungschef, Richter und Polizeichef in einer Person. Wenn sich zum Beispiel ein Jäger in die Bergeinsamkeit verirrte, wollten die Heike nicht, dass er zurückkehren und sie verraten könnte. Deshalb töteten sie ihn. Dies ist eine Kammer, wo man ihm den Kopf abschlug und die getrockneten Schädel aufbewahrte. In einer Schrank-schublade."
Heute ist Gokanosho mit seinen dichten Wäldern, Wildwassern und Schluchten ein Paradies für Wanderer. Hauptsächlich Japaner kommen hierher, aus Deutschland kaum hundert Touristen im Jahr. Ein bisschen Mut braucht es allerdings schon, über die unglaublich langen Hängebrücken zu spazieren, die sich über tiefe Canyons von Berghang zu Berghang spannen. Weniger nervenaufreibend, aber genauso schön sind die kleinen Holzbrücken und Steinstufen, die uns an einem Wasserfall entlang bis zu einem Platz mit Blick auf die Gipfel führen, an denen bis heute besonders im Herbst den Naturgottheiten gehuldigt wird.
Die Fahrt hinunter an die Westküste von Kyushu bringt uns mit einem Handwerk in Berührung, das seit mehr als zweitausend Jahren in diesem Land Tradition hat: die Kunst der japanischen Messerschmiede. In höchsten Ehren gehalten wird sie von Familienbetrieben wie Moritaka Hamono in der Hafen-stadt Yatsushiro. Im Jahre 1293 wurde die Schmiede gegründet, um Schwerter für buddhistische Priester herzustellen.
Das uralte Verfahren, aus gefaltetem Stahl Klingen zu schmieden, wird nun seit fünf Generationen für die Herstellung von Messern angewendet. Per Hand werden sie in der Schmiedewerkstatt hergestellt, 300 Messer im Monat. Der Lärm des Schleifens und Hämmerns dringt bis in den separaten Raum zu Meister Takuzo Moritaka, der in einem himmelblauen Overall auf den Knien hockt. Er will uns die Schätze der Familie aus den Zeiten der Samurai zeigen. Einem goldgeschmückten Schrank, der eher einem Altar gleicht, entnimmt er ein 700 Jahre altes Schwert mit sehr langer Klinge. "Dieses Schwert stammt aus der Mitte des 14. Jahrhunderts. Nur Samurai brauchten damals Schwerter, niemand sonst. Und sie sind alle verschieden. Diese Klinge hier ist sehr scharf. Die Waffe hat heute einen Wert von geschätzten 10.000 Euro. Möchte sie jemand halten? - Ja, natürlich, gern. Aber nicht die Klinge anfassen!"
Dann nimmt Takuzo Moritaka ein kurzes Harakiri-Schwert aus dem Schrank. "Ende des Zweiten Weltkriegs, als die Amerikaner alle japanischen Schwerter einkassierten und mit Metalldetektoren überall nach ihnen suchten, hat die Familie Moritaka die Waffen ihrer Vorfahren oben in den Bergen in einem Schrein versteckt. Darunter war dieses Harakiri-Schwert, das mein Vorfahre Genji Moritaka 1614 hergestellt hat. Wenn man den Griff entfernt, sieht man auf der Klinge Sanskrit-Zeichen. Hatte sich ein Krieger nach dem Ehrenkodex der Samurai getötet, wurde sein Schwert ohne Griff in die Erde gesteckt - es wurde zum Grabstein. Die Zeichen bedeuten, dass jener Samurai, der durch den „Seppuku“ genannten rituellen Selbstmord stirbt, erleuchtet wird und zum Himmel aufsteigt."
Nachmittags sind wir zum Tee geladen bei Lord Naoyuki Matsui, dem Nachfahren der Fürstendynastie von Yatsushiro. Im Teehaus des idyllisch gelegenen Palastes soll im Jahre 1959 Kaiser Hirohito nebst Gattin nicht nur Tee getrunken, sondern auch übernachtet haben. Nun hocken wir im Schneidersitz auf jener mit Reisstrohmatten ausgelegten Terrasse, die sich zu einem perfekten japanischen Garten mit See öffnet, Lord Matsui in schwarzem Anzug, weißem Hemd und Krawatte kniend in gebührender Entfernung. Eine japanische Süßigkeit aus Reispaste mit viel Zucker, Wagashi genannt, wird uns zu einer Schale aufgeschäumten Grünteepulvers serviert. "Die Vorstellung ist, dass man etwas Süßes im Mund haben soll, bevor man den bitteren grünen Tee trinkt. Den runden Kuchen hier vor euch sollt ihr mit dem kleinen Bambusstab in drei Teile zerlegen, ein Stück in den Mund nehmen, dann einen Schluck des bitteren Tees hinterher, und weiter mit dem zweiten und dritten Happen, bis die Schale geleert ist."
Auf den Spuren des Christentums in Japan
Genauso soll die Teezeremonie schon im zwölften Jahrhundert nicht nur bei Kaiser und Hofadel, sondern auch unter den Samurai praktiziert worden sein. Von Yatsushiro führt eine schöne Straße zu den vorgelagerten Amakusa-Inseln, die größeren sind über fünf Brücken mit dem Festland verbunden. Über Hundert kleine und kleinste unbewohnte Inselchen ragen wie Perlen im stillen blaugrünen Meer auf, vor dem Panorama saftiggrüner Hügel und einzelner steiler Berge, die sich gegen den Himmel abzeichnen. In eine verwunschene Bucht auf der Insel Shimoshima schmiegt sich das Fischerdörfchen Sakitsu, das zu den 100 malerischsten Dörfern Japans zählt. Als wir durch die stillen Straßen spazieren, stoßen wir plötzlich auf eine gotische Kirche aus grauem Stein. "Diese Kirche wurde von französischen Missionaren wieder aufgebaut, nachdem das Verbot des Christentums im späten 19. Jahrhundert aufgehoben worden war. In den Dörfern dieser Gegend leben 800 Menschen, die meisten sind Christen. Früher mussten sie sich verstecken und ihren Glauben im Untergrund praktizieren, weil sie von der Regierung grausam verfolgt wurden."
Die Anfänge des Christentums in Japan gehen auf den Jesuiten Francisco de Xavier zurück, der im Jahre 1549 die südliche Inselwelt erreichte. Sechs Jahre zuvor waren portugiesische Kaufleute auf ihrer Reise nach China mit ihrer Dschunke in Seenot geraten und auf der Insel Tanegashima gestrandet. Sie hatten den Einheimischen zum Dank für ihre Hilfe einige Gewehre überreicht. Diese erste Begegnung mit Europäern gilt als Beginn der Epoche der Feuerwaffen in Japan – und zugleich als Anfang vom Ende der Samurai. Den Kaufleuten folgten die Missionare, vor allem portugiesische Padres der Societas Jesu. Mit enormem Erfolg: Ihren Zeugnissen zufolge soll es bereits Ende des 16. Jahrhunderts 200.000 Christen gegeben haben, hauptsächlich auf der Insel Kyushu.
Im Amakusa Collegio Museum erzählt Miyashita Kanichi die Geschichte von vier Jungen, zwölf bis vierzehn Jahre alt, die 1582 mit einem portugiesischen Schiff, begleitet von Priestern, auf Mission nach Europa geschickt wurden
und nach zweieinhalbjähriger Reise den Papst trafen. Als sie acht Jahre später nach Japan zurückkehrten, im Gepäck europäische Musikinstrumente und eine Gutenberg-Druckmaschine, hatte sich das Land verändert. Das Christentum war inzwischen verboten worden. "Es wareine schlechte Zeit heimzukehren. Bei ihrer Abreise aus Japan waren sie Helden, jetzt waren sie Kriminelle, sagt Herr Kanichi. Ihr Schicksal sei eine Tragödie gewesen."
Im Museum steht eine Nachbildung der originalen Druckmaschine, mit der im damaligen Collegio noch sieben Jahre lang insgesamt 1500 Buchexemplare in Latein mit japanischen Schriftzeichen gedruckt wurden: Lexika, Lehrbücher, Literatur, darunter das klassische Werk über den Krieg zwischen Heike- und Genji-Samurai und 200 Bibeln. Die meisten Originale sind wahrscheinlich zerstört worden.
Überall erinnern Gedenkstätten und Museen an den Aufstand der geknechteten christlichen Landbevölkerung, angeführt von herrenlosen Samurai - eine verzweifelte Revolte, die im Jahre 1638 nach 123 Tagen auf der Halbinsel Shimabara in der Hara-Burg am Meer mit dem Tod von 37.000 Männern, Frauen und Kindern endete. Danach wurden Missionare und Ausländer des Landes verwiesen, und Japan schottete sich bis Mitte des 19. Jahrhunderts vom Rest der Welt ab.
Mit einer Fähre fahren wir nach Shimabara hinüber. In der Mitte der Halbinsel erheben sich die Unzen-Vulkane, gezeichnet von einem gewaltigen Ausbruch, der sich 1990 ereignete und fünf Jahre dauerte. In der „Mount Unzen Disaster Memorial Hall“, einem interaktiven Museum, können Besucher die Explosion des Vulkangipfels Fugen noch einmal erleben.
Der Berg schleuderte riesige Gesteinsbrocken hinab, begrub unter Glutlawinen und Lavaströmen die Häuser zu seinen Füßen, 44 Menschen starben. Im Krater des zerborstenen Gipfels wurde ein neuer Berg geboren, Heisei Shinzan genannt, der jüngste Vulkan Japans.
Heiße Quellen und Vulkane
Fast alpin wirkt das Städtchen Unzen in den Ausläufern des Vulkanmassivs mit seinen Giebelhäuschen und Souvenirläden, gäbe es da nicht die blubbernd wie aus einem Höllenschlund aufsteigenden Dämpfe und Fumarolen. Es sind Unzens fast kochend heiße vulkanische Thermalquellen, die in den Onsen, den Bädern der traditionellen Ryokan-Hotels, genutzt werden. Das erste und älteste des beschaulichen Ortes ist das Yumei Hotel, gegründet 1904, mit Zimmern im japanischen Stil und Badebecken, in denen das Wasser aus den Quellen auf 43 Grad heruntergekühlt wird. Der betagte Hotelbesitzer Kurihara Tateo liebt es, zehn Minuten im heißen Wasser zu bleiben. Als wollte er sich kochen, übersetzt Ken. "Besser, man kommt nach kurzer Zeit raus, kühlt sich ab, geht wieder hinein und wiederholt es. Die Onsen hier sind sehr heilsam bei Arthritis und Rheuma."
Beim Abendessen im Separée, wo tausend Köstlichkeiten aufgetragen werden, beklagen Herr Tateo und seine Frau Toshea, dass die meisten Gäste heutzutage Japaner seien, die nur eine Nacht blieben, genauso wie auf Reisen durch Europa. "Früher haben meine Eltern vor allem westliche Gäste beherbergt. Sie haben Schwyzerdütsch und Englisch gesprochen. Dieses Haus war das populärste Sommerresort des fernen Ostens. Wir hatten einen Tanzsaal und einen Tennisplatz. Der Kurort Unzen, der übrigens die Schwesterstadt von Baden-Baden ist, legte 1913 sogar den ersten Golfplatz Japans an. Der liegt nun leider brach, weil Japaner keine Zeit haben, ihn zu nutzen."
Auch wir haben keine Zeit zu bleiben. Per Bus und Fähre geht es zurück zur Hauptinsel Kyushu und zum „Feuerland Kumamoto“, wie der gewaltige Vulkan Aso im Zentrum der Insel genannt wird, mit einem Krater von so riesenhaften Ausmaßen, dass er zu den größten der Welt zählt. Mitten im Vulkankrater von 28 Kilometern Durchmesser liegt der Onsen-Ort Aso, in dem 90.000 Menschen leben, umgeben von fünf kleineren Vulkanen, von denen einer, der Nakadake, aktiv ist. Am Rande des steil abfallenden Kraters erblicken wir tief unten einen brodelnden türkisgrünen See, aus dem Rauch und übel riechende Gase aufsteigen. Es ist die meistbesuchte Sehenswürdigkeit auf Kyushu.
Bleibt uns noch ein Abschiedsbesuch in der großen Stadt Kumamoto, wo Herr Matsuoka aus Gokanosho einst als Buchhalter arbeitete. Ob der junge Hajime wohl manchmal sonntags der Burg von Kumamoto einen Besuch abstattete, einer der drei berühmtesten Festungen Japans?
Noch im Jahr 1877 wurde sie 50 Tage belagert von Saigo Takamori, dem legendären „letzten Samurai“ und seinen Kriegern. Umkämpft und zerstört war die Fürstenburg, abgebrannt, wieder aufgebaut, schließlich ist sie in unserer Zeit umfangreich rekonstruiert und restauriert worden. Auf dem weitläufigen Gelände spazieren Samurai in Rüstungen umher, bewaffnet mit Schwertern, Harakiri-Messern und langen Speeren, manche mit hoch aufgetürmten Helmen, manche drohend, Kampfrufe ausstoßend, losstürmend. Ach, es ist nur ein Spiel. Es sind Studenten der Universität von Kumamoto. Die Zeit der Samurai ist für immer vorbei.