Thielko Grieß: Am 11. April 1945 zerfällt das Nazi-Reich immer mehr. Nördlich von Weimar, auf dem Ettersberg, dringen amerikanische Truppen bis zum Konzentrationslager Buchenwald vor und befreien die Überlebenden. Buchenwald und Weimar gedenken dieses Tages an diesem Wochenende. Überlebende von damals und Befreier von damals haben sich gestern getroffen.
Viele Anlagen von Buchenwald sind von August 1945 an weiter genutzt worden, wieder als Lager. Die sowjetische Besatzungsmacht inhaftierte im Speziallager Nummer zwei auch politische Häftlinge, viele unter ihnen Funktionäre des besiegten NS-Regimes. Die Erinnerung an diesen Ort, an Buchenwald, ist deshalb vielschichtig und problematisch. Und deshalb haben wir ein Gespräch geführt, mit Rikola-Gunnar Lüttgenau. Er ist stellvertretender Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Meine erste Frage an ihn: Wie unterscheidet sich die Erinnerung an Buchenwald von derjenigen an andere Konzentrationslager?
Rikola-Gunnar Lüttgenau: Zunächst hat das erst einmal mit den Bedingungen der Befreiung zu tun, denn das Konzentrationslager Buchenwald war das erste Lager, das durch die Westalliierten befreit wurde. Und vor Buchenwald hat sich die Welt noch kein Bild davon gemacht, was ein Konzentrationslager ist. Es ging nicht, weil man hatte noch keins gesehen. Und als die Amerikaner dann nach Buchenwald kamen, sahen sie etwas, was sie eben tatsächlich vorher noch nicht gesehen hatten. Und General Eisenhower, der spätere US-Präsident, damals Oberbefehlshaber der Alliierten Streitkräfte, besichtigte das Lager und schreibt in seinen Memoiren, nichts hat ihn je so erschüttert wie dieser Anblick. Das heißt, die Welt hat anhand der Befreiung von Buchenwald, kurz darauf dann auch von Bergen-Belsen, gelernt, was es heißt, ein nationalsozialistisches Konzentrationslager vor sich zu haben. Und dieses ja geradezu Schockerlebnis hat dann doch weite Teile der Nachkriegspolitik dominiert.
Symbol für den industriellen Massenmord
Grieß: Inwieweit hat denn dieses auch ikonografische Gedächtnis von Buchenwald, die Erinnerung daran, womöglich auch einen Schwerpunkt gesetzt, der eben für Buchenwald womöglich adäquat ist, aber womöglich nicht für andere Konzentrationslager?
Lüttgenau: Zum einen sind damals Bilder in die Welt gekommen, die tatsächlich ja durchaus nicht falsche Symbole sind, wie eben ein Krematorium, das dort damals vorgefunden wurde in Buchenwald. Woanders waren sie zerstört, und in Buchenwald fand man eben ein funktionierendes Krematorium als Beispiel des unmenschlichen, pietätlosen Umgangs mit den Toten und beziehungsweise auch natürlich mit den Menschen. Und als solches war es auch ein Symbol für den industriellen Massenmord, der in anderen Konzentrations- und Vernichtungslagern stattfand. Das ist also ein zutreffendes Symbol. Verbunden mit der Geschichte Buchenwalds ist dann natürlich sehr stark, dass die DDR - die Amerikaner gaben dann ja Thüringen als Besatzungszone sozusagen an die Sowjets ab, und die DDR hat später aus Buchenwald eine nationale Mahn- und Gedenkstätte gemacht. Und dabei ist der Teil, der die Amerikaner betrifft, in Bezug auf die Befreiung unter den Tisch gefallen, und es wurde ein anderer Teil, den ich jetzt noch nicht erwähnt habe, wurde nach oben gezogen.
Grieß: Das ist die sogenannte Teilbefreiung von innen.
Lüttgenau: Genau. Und es hat zwar nicht einen Sturm auf das Lagertor durch die Häftlinge gegeben, wie es teilweise in DDR-Veröffentlichungen dargestellt wurde, aber tatsächlich gibt es eine Besonderheit Buchenwalds, was es in der Geschichte von allen anderen Konzentrationslagern unterscheidet, nämlich dass es so eine starke illegale Organisation im Lager gab. Und die hat zum Beispiel dazu geführt, dass wir heute noch eben über 70 Überlebende von Buchenwald in Weimar begrüßen können, denn es wurden über 900 Kinder gerettet vor dem sicheren Tod, durch die illegale Organisation im Lager, zum Beispiel dadurch, dass in diesen letzten Tagen, wo die SS das gesamte Lager noch evakuieren wollte, den Kindern ihr Judenstern runtergenommen wurde - sie wurden sozusagen umgelabelt und bekamen einen roten Winkel. Und die Blockältesten haben die Karteien der Inhaftierten zerstört, sodass die SS (für) die Häftlinge ihren normalen Verwaltungsapparat eben nicht mehr benutzen konnte. Und das hat eben dazu geführt, dass überhaupt noch 21.000 Häftlinge befreit werden konnten.
Auch die Sowjets nutzten Buchenwald als Lager
Grieß: Gelungene Sabotage also in der letzten Woche, in den letzten Tagen dieses Lagers. Ab August 1945 ist Buchenwald dann weiter genutzt worden von den dann Mächtigen, von der sowjetischen Besatzungsmacht, für Häftlinge, die früher NS-Funktionäre zum Beispiel gewesen sind. Rechtsstaatliche Verfahren hat es nicht gegeben. Können Sie uns die Denkfigur erklären, die es ermöglicht hat, diesen Ort des Grauens umstandslos umzuwidmen?
Lüttgenau: Jetzt geht es darum, nimmt man die heutige Denkfigur? Und dann muss man sagen, dass die Menschen aushalten müssen, dass sich Gewalt und menschenverachtendes Verhalten nicht aus einer Quelle speist, sondern es gibt also ganz unterschiedliche Quellen und ganz unterschiedliche gesellschaftliche Formationen, die zu einem menschenfeindlichen Verhalten führen können. Und in Bezug auf das Konzentrationslager ist es da auch der Kampf gegen den politischen Gegner, aber vorrangig ist es doch ein rassistisches Konzept einer rein arischen Volksgemeinschaft, die alle, die nicht dazugehören sollen, wie Homosexuelle, wie Juden, wie Sinti und Roma eben versucht, aus der Volksgemeinschaft rauszubringen. Und das ist ein total anderes Konzept als der stalinistische Terror, der viel stärker auf Einschüchterung ohne Beachtung der rassischen Herkunft oder was anderes schaut. Das heißt, es wäre fatal, eine Denkfigur zu nutzen, um beide Lager zu verstehen. Damit würde man der Geschichte beider Lager nicht gerecht werden.
Grieß: Gelingt es denn in der Erinnerung an diesen Ort, nenne ich es einmal, mit diesen zwei Lagertypen diese Erinnerung überein zu bringen oder miteinander zu kombinieren?
Es sind unterschiedliche Verbrechensgeschichten
Lüttgenau: Eben. Man kann es eben nicht so einfach übereinbringen. Aber wenn man sich drauf einlässt, dass es unterschiedliche Verbrechensgeschichten sind, ich glaube, dann wird man umso wacher eben auch auf heutige Ausgrenzungsprozesse, Missachtungsprozesse, Kontrollprozesse von Staaten einen Blick zu werfen. Weil man geschulter darin ist, spezifische historische, gesellschaftliche Formationen wahrzunehmen. Und insofern, das versuchen wir auch, diese Form von differenziertem Blick zu entwickeln als kritisches Geschichtsbewusstsein, damit man auch besser auf die Gegenwart schauen kann.
Grieß: Diese Doppelgeschichte oder zumindest ein Teil davon ist zu DDR-Zeiten nicht erzählt worden, ausgeblendet worden. Inwieweit würden Sie meine Einschätzung teilen, dass dieses Geschichtsbild immer noch das Dominante ist?
Lüttgenau: Es gibt sehr viele Geschichtsbilder, mit denen wir vor Ort in Buchenwald konfrontiert sind. Da gibt es das westdeutsche Geschichtsbild, sehr vereinfachend, also jetzt gerade in anderen Interviews hatte ich das auch präsent, wo das Konzentrationslager Buchenwald rein als Judenlager gesehen wird, als Bestandteil des Holocaust. Und dann gibt es das DDR-Geschichtsbild, in dem es vorrangig um politische Häftlinge geht. Und beide Bilder werden dem europäischen Charakter und sehr rassistisch ausgerichteten Charakter der Konzentrationslager nicht gerecht. Und beide existieren noch. Und beide sind eben tatsächlich durch hartnäckiges Bohren der dicken Bretter sozusagen immer wieder zu destruieren, um den Leuten zu zeigen, dass diese Schnellschüsse – und Schnellschüsse sind es natürlich, wenn man mit vorurteilsbelasteten Bildern an einen derartigen Ort kommt – und wir versuchen, diese häufig auch vereinfachenden Bilder, weil man sich eben dann mit bestimmten Geschichten nicht auseinandersetzen muss. Also, wenn man ein Konzentrationslager nur sieht, dort sind Juden inhaftiert gewesen - in Buchenwald war das ein Viertel etwa jüdischer Häftling - aber die anderen Ausgrenzungsprozesse in Bezug auf Obdachlose, in Bezug auf Homosexuelle, weil man das alles ausblendet, muss man sich natürlich mit vielen Problemen, braucht man sich dann gar nicht auseinanderzusetzen. Und wir versuchen, in einer ruhigen, lakonischen Form zu zeigen, dass es eben sehr viele unterschiedliche Geschichten gibt.
Wie ein zweiter Geburtstag
Grieß: Tun Sie das auch an diesem Gedenkwochenende, oder sind solche Gedenkwochenenden nicht auch immer eine Form der Zuspitzung und womöglich auch Vereinfachung?
Lüttgenau: Nicht per se Zuspitzung und Vereinfachung. Aber ein Gedenkwochenende hat, wie der Name schon sagt, natürlich etwas anderes als ein Tagesseminar, was wir mit Schülern machen, wo wir sehr offen versuchen, denen einen Raum zu geben, offen mit ihren Fragen umzugehen. Und das ist etwas anderes, in einem Modus zu sein, ich gedenke jetzt der Toten. Und Bestandteil eines Gedenkwochenendes ist es tatsächlich natürlich, der Toten auch zu gedenken. Aber ein Tag wie die Befreiung von Buchenwald ist für die, gerade die Überlebenden, die heute nach Buchenwald und Weimar gekommen sind, natürlich auch ein zweiter Geburtstag. Das heißt, es gibt etwas zu feiern. Die Menschen feiern ihren Geburtstag. Und das miteinander zu verknüpfen, das heißt, das Nachdenken über die Geschichte mit dem Feiern, das versuchen wir zum Beispiel in einem neuen Format, in einem großen Theaterfest im Deutschen Nationaltheater Weimar, wo Hunderte von Menschen zusammenkommen, um sowohl über die heutige Situation von Ausgrenzungsprozessen mit Flüchtlingen in Deutschland, in Ungarn, in Russland nachzudenken, wo verschiedene Überlebende aus den 19 Nationen, die jetzt nach Weimar kommen, aus ihren Ländern berichten. Es gibt also Zeitzeugengespräche, es gibt Podien, es gibt genauso gut aber Theater, Konzerte und Musik.
Grieß: Oder Nachdenken kann in einem solchen Gespräch geschehen. Danke schön, Rikola-Gunnar Lüttgenau, der Stellvertretende Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, heute bei uns im Deutschlandfunk!
Lüttgenau: Noch einen schönen Tag!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.