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La Liga mit animierten Zuschauern
Nie gab es für das Echte einen schlechteren Ersatz

Pixel-Köpfe und Playback-Jubel: Da Fußballfans den Stadien cononabedingt fernbleiben müssen, besetzt die spanische La Liga die Zuschauerränge virtuell. Arno Orzessek tun in seiner Glosse die spanischen Fans leid: Sich selbst so peinlich und miserabel gefakt zu sehen – eine Entwürdigung!

Von Arno Orzessek |
Animierte Zuschauerränge bei der Fernsehübertragung des "La Liga"-Spiels Osasuna vs Atletico de Madrid im El Sadar Stadion in Pamplona am 17. Juni 2020
Etwas pixeliger als das Original - animierte Zuschauerränge bei der Fernsehübertragung der spanischen Fußballliga La Liga (imago images / Cordon Press / Miguelez Sports)
Zuerst die gute Nachricht für alle, die nicht so genau wissen, was ein Kulturschock ist: Ihnen kann geholfen werden! Denken Sie kurz an die Dinosaurier in Steven Spielbergs "Jurassic Park", an die seltsamen Wesen in James Camerons "Avatar" oder an die Untoten in der ewigen Netflix-Serie "The Walking Dead".
Dann sind wir uns bestimmt einig: Computer-Animationen funktionieren im Film seit Jahrzehnten ganz prima. Und gucken Sie sich nun – bitte erst nach dieser Sendung – bei Youtube irgendeinen frischen Spielbericht aus La Liga an, der ersten spanischen Fußball-Liga.
Playback und Pixel gegen Gruft-Atmosphäre
Sie werden angesichts der lächerlichen, unfertigen Pixelei auf den Tribünen und dem Playback-Gejubele ein äußerstes Befremden spüren – und selbiges nennt man: Kulturschock. Der nicht kleiner wird, wenn wir Ihnen einige Hintergrundinformationen an die Hand geben. Im Gegenteil. La Liga fand es zwar toll, dass die hiesige Bundesliga mittels Geisterspielen den Corona-Bann fürs Profi-Kicken gebrochen hatte.

Aber, man kann es nachvollziehen: Die tieftraurige Gruft-Atmosphäre in unseren gigantischen Ballspiel-Kathedralen, die fand La Liga nicht so toll. Diese irre Menge toten Betons, diese Schreie, die wie aus einem Hieronymos Bosch'schen Jenseits in die TV-Übertragungen hallen – also, da lässt sich doch wohl ein bisschen Leben in die Bude animieren!
Die Sitze in den Reihen des menschenleeren Olympiastadions sind hochgeklappt. 
Fußball-Bundesliga - Gedankenspiele über die Rückkehr der Fans
In der Fußball-Bundesliga sind Spiele ohne Zuschauer, momentan noch alternativlos. Nach dem Neustart der Saison denken aber Vereine und Politik über eine vorsichtige Öffnung für die Fans nach.
Nein, lässt sich eben nicht. Nie gab es für das Echte schlechteren Ersatz. Und das liegt nicht daran, dass sich La Liga bei der Animation auf irgendwelche schwitzigen Nerds in einer Hinterhof-Klitsche in der Extremadura verlassen hätte.
Die Entwürdigung der Fans
Um die Ränge virtuell voll zu kriegen, war die renommierte norwegische 600-Mitarbeiter-Medien-Firma Vizrt am Start; für akustische Bambule sollte EA Sports sorgen, der US-amerikanische Videospielentwickler, der mit dem Klassiker "Fifa International Soccer" den Weltmarkt beherrscht.

Fragen Sie uns jetzt nicht, warum die Animation von Leuten und Lauten innerhalb einer TV-Live-Übertragung technisch unendlich komplizierter zu sein scheint, als Zombies und Dinosaurier in glaubhafter Aktion zu zeigen.

Wir sagen nur: Was da in Spanien läuft, haben die Fans nicht verdient. Ihr kalter Entzug von der Stadion-Droge ist ohnehin hart genug. Aber sich selbst so peinlich, so niederschmetternd miserabel gefakt zu sehen – eine Entwürdigung!

Während der ersten Pixel-Partie, dem Lokalderby Betis gegen FC Sevilla, sind die Fans noch während des Spiels in Scharen aus den spanischen Kneipen geflüchtet. Und man kann nur hoffen, dass einige direkt zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte durchmarschiert sind, um die animierte Niedertracht anzuzeigen.
Animierte Zuschauerränge bei der Fernsehübertragung des "La Liga"-Spiels Osasuna vs Atletico de Madrid im El Sadar Stadion in Pamplona am 17. Juni 2020 
Echte Fans sehen irgendwie anders aus - Fernsehübertragung des La-Liga-Spiels Osasuna gegen Atletico de Madrid am 17. Juni 2020  (imago images / Cordon Press / Miguelez Sports)
Verlorene Seelen
Denn wirklich wahr: Hören Sie sich auf der Internetseite fanchants.com mal die dort archivierten 1.326 spanischen Fußballgesänge an. Klar, nicht jede lautliche Äußerung klingt nach Enrico Caruso oder Montserrat Caballé. Aber es handelt sich doch um Kultur oder wenigstens um Folklore; es klingt lebendig, es hat Atem und Seele, lateinisch: anima. Den TV-Animationen jedoch fehlt es komplett an anima. Sie wirken so mausetot wie die Siliziumchips in den Computern, die ihr Erscheinen auf dem Bildschirm regeln.

Unser Urteil jedenfalls steht fest: Lieber postapokalyptische Gruft-Atmosphäre als Optik und Sound eines flackernden Videospiels aus den 80er Jahren. Die höhere Erkenntnis allerdings bleibt hier wie dort dieselbe: Ohne Fans ist das alles fast nichts.
Arno Orzessek. Seit 1966 Arbeiter- und Bauernsohn, geboren in Osnabrück. Studierte in Köln Philosophie und anderes. Dank "unverlangt eingesandt": "SZ"- und "Dlf"-Autor; auch: zwei Romane. Lebt seit 2000 rundfunktreu in Berlin. Angesichts der Unordnung der Dinge thematisch unspezialisierter Stoffwechsel-Spezialist. Welt-Erfahrung per Motor- und Rennrad, plus Lektüre. Radio-Ideal: Geistvolles in sinnlicher Sprache; Ziel: Gedankenübertragung; Methode: Arbeit am Text; Verfassung: der Nächste bitte!