"Ich schiebe es hier rüber."
Andrea Oder schiebt ein Flipchart in die Mitte ihres kleinen Büros im Erdgeschoss eines Berliner Mietshauses und blättert durch die großen Papierbögen. Auf eines der Blätter hat sie einen großen Kreis gezeichnet, aus dessen Mitte mehrere Linien sternförmig nach außen verlaufen. Sie tragen Bezeichnungen wie Karriere und Beruf, Beziehungen, Familie, Gesundheit oder Geld.
"Hier geht es um ein Beispiel dafür, wie unser Leben mit den verschiedensten Aspekten vielleicht in Harmonie oder in Ungleichgewicht ist. Um mal zu gucken, auf meiner eigenen Zufriedenheitsskala von null bis zehn, wo stehe ich da, wo denke ich, möchte ich im Laufe der Zeit noch hinkommen."
Andrea Oder ist Sabbatical-Coach. Sie berät Menschen, die eine berufliche Auszeit nehmen wollen, aber noch nicht genau wissen, wie sie es anstellen sollen. Mit ihrer Skala will sie ergründen, warum ihre Klienten eine Pause brauchen.
"Die einen sagen, ich weiß schon, was ich will, ich brauche noch ganz strukturierte Hilfe bei ganz bestimmten Fragen, zum Vertrag, zur Vorbereitung, zur Planung. Und die anderen, die sagen, ich weiß gar nicht, wo anfangen, ich merke nur, ich muss einfach raus."
Viele Gründe für ein Sabbatical
Erholung, die lang erträumte Weltreise, die Pflege eines Verwandten oder eine berufliche Umorientierung – es gibt viele Gründe für ein Sabbatical. Aber der Nutzen gehe über persönliche Vorteile hinaus, sagt Philip Wotschack vom Wissenschaftszentrum Berlin (WZB). Er hat das Für und Wider von Sabbaticals in einer Studie untersucht, die von der Rosa-Luxemburg-Stiftung gefördert wurde.
"Es geht nicht nur darum, dass es ein individueller Luxus ist, dass wir alle gerne mal Zeit für etwas Anderes hätten oder mal verschnaufen. Sondern es geht auch darum, dass man sieht, es hat positive Arbeitsmarkteffekte, es geht darum, dass die Leute dadurch motivierter, gesünder, länger am Erwerbsleben teilnehmen können."
Das erfuhren die WZB-Forscher in Gesprächen mit Unternehmensführungen und Arbeitnehmern in Deutschland, die Erfahrungen mit Sabbaticals gesammelt haben. Zudem verglichen sie die hiesigen Bedingungen mit denen in Schweden und Dänemark, wo Sabbaticals als arbeitsmarktpolitisches Instrument genutzt wurden, sowie in Belgien, wo ein Rechtsanspruch auf ein Sabbatical besteht.
In Deutschland besteht kein Rechtsanspruch
Wer hierzulande eine Auszeit nehmen will, ist auf die Bereitschaft der Arbeitgeber angewiesen. Und die sind der Studie zufolge oft skeptisch. Personalverantwortliche schrecken allein davor zurück, eine Vertretung zu organisieren. Beschäftigte sorgen sich, ob ein Sabbatical negative Folgen für die Karriere haben könnte - und scheuen sich häufig, den Chef darauf anzusprechen. Das erfährt auch Sabbatical-Coach Andrea Oder immer wieder.
"Wie kann ich jetzt mein Bedürfnis bei meinem Arbeitgeber rüberbringen, sodass er merkt, das ist mir jetzt ein Bedürfnis. Aber das heißt nicht, dass ich keine Lust mehr an dieser Arbeitsstelle habe."
Philip Wotschack vom WZB glaubt, dass ein Rechtsanspruch diesen Schritt erleichtern würde.
"Damit würde man sicherstellen, dass es formal alle einfordern können. Ob sie das tatsächlich tun, ist eine andere Frage, weil es natürlich andere Barrieren gibt."
Denn ein Sabbatical zeichnet sich in der Regel dadurch aus, dass diejenigen, die die Pause einlegen, weiterhin ein Gehalt gezahlt bekommen, kranken- und sozialversichert sind und nach dem Ende der Auszeit wieder in den Job zurückkehren. Dafür müssen die Arbeitnehmer Geld ansparen, indem sie entweder eine Zeit lang Vollzeit arbeiten, aber nur das Geld für eine Teilzeitstelle erhalten oder mit einem Arbeitszeitkonto Überstunden und nicht genommenen Urlaub sammeln. Das Problem sei, dass nicht alle Beschäftigten gleichermaßen die Möglichkeit dazu hätten, sagt WZB-Experte Wotschack.
"Bei Gruppen mit geringem Einkommen fehlen einfach die finanziellen Spielräume, um wirklich auf Einkommen zu verzichten für eine Weile. Bei Gruppen, die mit hohen außerberuflichen Belastungen konfrontiert sind, vor allem Frauen, wenn es um Kinderbetreuung oder Pflegeaufgaben geht, ist es natürlich schwer möglich, auf Zeit zu verzichten, Zeit auf Konten einzusparen, weil die Zeit im Alltag schon fehlt."
Viele sind vom Sabbatical ausgeschlossen
Damit seien gerade die Menschen vom Sabbatical ausgeschlossen, die es besonders gut gebrauchen könnten. Das Wissenschaftszentrum schlägt deshalb vor, Auszeiten besser durch betriebliche Vereinbarungen zu integrieren und womöglich staatlich zu fördern. Auch könne die Bundesagentur für Arbeit helfen, indem sie Unternehmen berät und bei Bedarf qualifizierte Arbeitslose für die Überbrückung der Auszeit vermittelt.
Bis es vielleicht einmal so weit ist, fällt es Beraterinnen wie Andrea Oder zu, Arbeitnehmer und mitunter auch Unternehmen über das Wie einer Auszeit zu beraten. Und dann bleibt bei aller Organisation immer noch offen, was eigentlich herauskommen soll bei einem Sabbatical. Deshalb stellt sie ihren Klienten stets eine wichtige Frage:
"Was soll, wenn man aus dem Sabbatical zurückkommt, anders sein? Also als welcher Mensch möchten Sie nach dem Sabbatical wieder da sein?"
Wenn die Frage geklärt ist, das ist Andrea Oders Erfahrung, ist der erste Schritt in die Auszeit schon gemacht.