"I'm not a lover oft he European Union."
Die lebhafte Diskussion war schon fast vorbei, als Jeremy Corbyn die jungen Briten im Studio und die Zuschauer zuhause mit diesem Satz verblüffte. Das war ehrlich. Corbyn ist tatsächlich kein Liebhaber der Europäischen Union, eher schon ein kritischer Begleiter. Ein junger Mann hatte den Labour-Chef zuvor daran erinnert, dass er schon beim Referendum Mitte der 70er-Jahre gegen den Beitritt Groß-Britanniens zur EG gestimmt hatte. Anfang der 90er-Jahre lehnte Corbyn den Vertrag von Maastricht ab und es dauerte lange, bis er sich eindeutig für den Verbleib der Briten in der Europäischen Union aussprach. Als Vertreter des Establishments, wie es ihm eine junge Frau unterstellte, sieht er sich trotzdem nicht:
"Wir sollten drin bleiben, um die EU zu verbessern. Meine Meinung zur britischen Eisenbahn oder zu Privatisierungen hat sich überhaupt nicht verändert. Aber das heißt, ich würde gerne mit den Menschen in Europa zusammenarbeiten, wenn es um Privatbesitz geht oder um Umweltschutz und da würden wir viel erreichen."
Corbyn verteidigt Merkels Flüchtlingspolitik
Jeremy Corbyn bezeichnete sich als Sozialist. Er bekannte sich zur Forderung nach höheren Mindestlöhnen, verlangte Steueroasen auszutrocknen und Steuerbetrüger zu verfolgen. Außerdem kritisierte er die TTIP-Verhandlungen der EU. Die britische Regierung griff er an, weil sie sich zu wenig um den Bau von Häusern und Wohnungen kümmere. Die hohen Mietpreise vor allem in London führen die Brexit-Befürworter auf ausländische Investitionen zurück, zum Teil kommen sie aus EU-Ländern. Ganz im Vordergrund stand aber die Frage, ob mehr Flüchtlinge nach Großbritannien kommen werden. Corbyn wich auch dabei nicht aus, sagte, dass Flüchtlinge Menschen seien und keine Bedrohung, so wie die Befürworter des Brexit das aus seiner Sicht darstellten. Und dann verteidigte der Chef der britischen Labour-Party die Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel, weil sie die deutschen Grenzen im letzten Jahr geöffnet hatte:
"Ich habe Merkel nie getroffen und mit ihr darüber diskutiert, das würde ich gerne. Ich denke, hinter ihrem Handeln stand die Überlegung, dass die anderen Staaten ihren Teil beitragen und syrische Flüchtlinge aufnehmen. Aber der Aufstieg der Rechten hat das dann gestoppt."
Kritik an beidseitigen "Katastrophenszenarien"
Vor seinem jungen Publikum bedauerte Jeremy Corbyn, dass die Debatte um den Brexit nicht klar genug geführt werde. Er kritisierte, "Katastrophenszenarien", die beide Seiten ins Feld führten. Der Labour-Chef sagte, es reiche nicht mehr aus, Flugblätter zu verteilen und an Haustüren zu klingeln um junge Leute zu erreichen. Außerdem will er auch 16- und 17-Jährigen ermöglichen abzustimmen, schließlich gehe es gerade bei diesem Referendum um ihre Zukunft.
Corbyn war direkt von der Trauerfeier für die ermordete Labour-Abgeordnete Jo Cox ins Fernsehstudio gekommen, immer noch im schwarzen Anzug. Bevor die jungen Briten ihre ersten Fragen stellten, würdigte der Labour-Chef die ermordete Abgeordnete:
"In der Erinnerung an sie sollten wir darüber nachdenken, wie wir Politik machen und wie sich Hass ständig gegen die Allerärmsten richtet, Flüchtlinge, die als feindliche Bedrohung dargestellt werden. Wir sollten künftig etwas freundlicher und klüger sein und an sie denken."
Würdigung von Jo Cox
Bei der Trauerfeier im Parlament hatten alle Abgeordneten weiße Rosen an ihrer Kleidung getragen. Der Platz von Jo Cox blieb leer, auch darauf lagen Blumen. Schon im Unterhaus hatte Labour-Chef Corbyn zu einem behutsameren und weniger aggressiven Umgang in der britischen Politik aufgerufen.
Auch Premierminister David Cameron würdigte Jo Cox im Parlament:
"Ihre Entschlossenheit über Parteilinien hinweg für Anliegen zu arbeiten, die ihr wichtiger waren als Parteipolitik - Jo war im tiefsten Sinne menschlich. Eine leidenschaftliche Aktivistin, die sich auch für syrische Flüchtlinge einsetzte. Es gibt ganz einfach Menschen, die nur deshalb noch leben, weil Jo sich um sie gekümmert hat."
Jo Cox war eine Gegnerin des Brexit. Labour-Chef Corbyn und Premierminister Cameron vermieden es jedoch, einen direkten Zusammenhang zwischen dem Mord und dem Referendum herzustellen.