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Labour-Politikerin zum Brexit
"Wir stolpern mit verbundenen Augen Richtung Klippenrand"

Eine Verschiebung des Brexits mache einen geordneten Austritt Großbritanniens aus der EU nicht wahrscheinlicher, sagte die britische Labour-Abgeordnete Mary Creagh im Dlf. Sie sprach sich für ein zweites Referendum aus. Die Menschen sollten über das weitere Vorgehen abstimmen können.

Mary Creagh im Gespräch mit Christoph Heinemann |
Die britische Labour-Abgeordnete Mary Creagh
Die britische Labour-Abgeordnete Mary Creagh (imago/ZUMA press)
Hier können Sie das Interview in der englischen Fassung hören.

Christoph Heinemann: Heute ist der 1. März. Ende des Monats scheidet Großbritannien aus der Europäischen Union aus - so ist es bisher geplant. Dazu wird es aber voraussichtlich nicht kommen, denn immer mehr Abgeordnete des britischen Unterhauses fordern einen geordneten Brexit, also einen mit Abkommen zwischen Brüssel und London. Deshalb schließt nun auch Theresa May eine Verschiebung nicht aus. Und: Oppositionsführer Jeremy Corbyn brachte ein zweites Referendum über den Brexit ins Spiel. Darüber habe ich mit Mary Creagh gesprochen. Sie ist Abgeordnete der Labour-Partei und hat für einen Verbleib in der EU gestimmt. Ihr Wahlkreis Wakefield in Yorkshire hingegen mehrheitlich für den Brexit. Erste Frage an Mary Creagh: Sollte der Brexit verschoben werden: Wie kann man verhindern, dass in ein paar Monaten nicht das gleiche Chaos herrscht wie gegenwärtig?
Mary Creagh: Gute Frage. Da jetzt ein Weg ausgeschlossen wird, hoffentlich der eines Brexits ohne Abkommen, stellt sich eine ganze Reihe von Fragen. Der 12. März ist der späteste Zeitpunkt für die Abstimmung über die Austrittsbedingungen im Unterhaus. Wenn das nicht beschlossen wird, werden wir danach die Möglichkeit haben, gegen einen Austritt ohne Abkommen abzustimmen. Damit sind viele Fragen verbunden, etwa nach den Bedingungen für eine Verschiebung des Verfahrens nach Artikel 50. Deshalb befürchte ich, dass weiterhin Unsicherheit herrschen wird.
"Mays Taktik ist nicht Erfolg versprechend"
Heinemann: Sind Sie sicher, dass ein Austritt ohne Abkommen ausgeschlossen ist?
Mary Creagh: Dafür gibt es keine Garantie, bis die Regierung nicht die entsprechende legislative Änderung vorgenommen hat. Denn gegenwärtig besagt das EU-Austrittsgesetz, das im vergangenen Jahr beschlossen wurde, dass wir die EU am 29. März verlassen werden. Die Regierung muss also mit gesetzlichen Mitteln im Unterhaus sicherstellen, dass wir an diesem Tag nicht die EU verlassen werden. Und natürlich werden viele Leute dagegen stimmen. Es bleibt unvorhersehbar und instabil. Allerdings haben wir in früheren Abstimmungen deutlich zum Ausdruck gebracht, dass eine Mehrheit im Parlament einen Austritt ohne Abkommen ablehnt.
Heinemann: Halten Sie zwei oder drei zusätzliche Monate für ausreichend, um ein Abkommen zu beschließen?
Creagh: Nein. Und ich glaube, dass die EU nur dann eine Verlängerung des Artikel-50-Verfahrens gewähren wird, wenn damit eine bestimmte Absicht verbunden ist. Premierministerin Mays Taktik besteht darin, die Zeit einer Verlängerung für den Versuch zu nutzen, dass ihr Abkommen durchgeht. Ich halte diese Taktik nicht für Erfolg versprechend.
Symbolbild zum Brexit mit den Flaggen der EU und Großbritanniens
Mehr Beiträge zum Brexit finden Sie in unserem Portal „Countdown zum Brexit“ (AFP / Tolga Akmen)
"Der versprochene Brexit ist nicht der gelieferte Brexit"
Heinemann: Wenn zwei oder drei zusätzliche Monate nicht ausreichen, wie kann der Brexit dann verlängert werden, ohne dass das Vereinigten Königreich an der Wahl zum Europäischen Parlament teilnimmt?
Creagh: Wenn die Verlängerung, sagen wir, bis September dauern würde, könnten wir um diese Wahl herumkommen. Ich glaube, die Juristen und Politiker der Europäischen Union wären damit einverstanden. Für mich steht etwas anderes fest: Der Brexit, der den Menschen 2016 versprochen wurde, ist nicht der Brexit, der geliefert wird. In jedem Szenario wird unsere Wirtschaftsleistung geringer sein. Das sieht man an der Entscheidung von Honda, das Werk im Vereinigten Königreich zu schließen. Nissan verlagert die X-Trail-Produktion nach Japan zurück. Die Investitionswarnung von Jaguar Land Rover und die Auswirkungen auf die Arbeitsplätze. Schon vor dem Brexit sind Arbeitsplätze verloren gegangen. Es ist ein Brexit mit verbundenen Augen. Deshalb sollten die Menschen das Recht bekommen, der Regierung ihre Zustimmung für das weitere Vorgehen zu erteilen. Sie sollten darüber abstimmen können.
Heinemann: Was antworten Sie denjenigen, die sagen: Wir haben in einer Abstimmung beschlossen, die EU zu verlassen, deshalb müssen wir sie auch verlassen?
Creagh: Die Menschen haben aus verschiedenen Gründen für den EU-Austritt gestimmt. Einige wollten die Zuwanderung aufhalten. Und die Regierung hat klar gesagt, Zuwanderung wird nicht beendet. Einige Menschen haben dafür gestimmt, dass das staatliche Gesundheitssystem NHS mehr Geld bekommt. Jeder, der damit zu tun hat, weiß, dass der NHS nicht die Mittel bekommt, um die Krise zu beenden, in der er sich befindet. Einige wollten Souveränität, und dass Entscheidungen hier im Vereinigten Königreich getroffen werden. Viele unterschiedliche Gründe also. Außen vor blieben die Auswirkungen auf Arbeitsplätze und die Wirtschaft. Die Menschen haben jetzt das Recht, die vergangenen zwei oder drei Jahre der Verhandlungen und die künftigen Beziehungen zu bewerten.
"Unsere Autoindustrie und die chemische Industrie müssen Schläge einstecken"
Heinemann: Auf Ihrer Webseite habe ich eine Unterhausrede von Ihnen gehört über die schwierigen Auswirkungen des Brexits auf die chemische Industrie. Es waren etwa fünf bis zehn Abgeordnete im Unterhaus anwesend. Wie erklären Sie sich dieses geringe Interesse verglichen mit den großen Brexit-Debatten, wo konkrete Details keine Rolle spielen?
Creagh: 80.000 Menschen sind in der chemischen Industrie bei uns beschäftigt. Das ist unsere zweitgrößte Exportbranche in die EU nach der Autoindustrie. Die Automobilindustrie musste gerade einen harten Schlag einstecken. Und unsere chemische Industrie wird die nächste sein. Aber Sie haben recht: Die technischen Details des Austritts werden kaum verstanden. Die Regierung erlässt hastig Gesetze und tut dies, wie ich finde, schlecht. Wir alle meinen, wir wüssten ein bisschen, was Brexit bedeutet. Dabei gibt es viel offensichtlich Unbekanntes. Und Unbekanntes, das nicht leicht erkennbar ist. Und Letzteres raubt mir nachts den Schlaf: knappe Lebensmittel, steigende Lebensmittelpreise. Wenn es zum Brexit kommt, dann werden die Menschen zu bestimmten Politikern gehen und sie fragen: Wieso habt Ihr uns das nicht gesagt, warum habt Ihr das nicht aufgehalten? Unser Land macht das Falsche für die Menschen. Die kurzen Äußerungen im Fernsehen oder Radio besagen: Die Menschen haben abgestimmt, und wir müssen nun tun, was sie uns gesagt haben. Sie haben uns gesagt, sie wollen mehr Geld für das Gesundheitssystem, die Kontrolle zurückbekommen und die Zuwanderung stoppen. In zwei Jahren werden sie uns sagen, dass wir ihre Jobs sichern sollen, dass die Lebensmittelpreise stabil bleiben sollen, und dass wir für eine Versorgung mit sauberem Trinkwasser sorgen sollen. Mit der Zeit ändern sich die Wünsche grundlegend.
Heinemann: Waren Sie überrascht, als Jeremy Corbyn am Montag ankündigte, dass er ein zweites Referendum unterstütze?
Creagh: Ich habe das erhofft, denn das wurde dem auf Parteitag im September beschlossen. Er hat das Richtige gemacht …
"Unsere EU-Mitgliedschaft war gut für unser Land"
Heinemann: Warum hat Corbyn seine Meinung geändert?
Creagh: Wegen der demokratischen Sicht auf die Mehrheit der Parteimitglieder. Wir sind eine Partei für den Verbleib in der EU. Wir sind eine internationalistische Partei. Die Europäische Union war so wichtig für die Rechte der Arbeitnehmer, als Frau Thatcher in den 80er-Jahren vieles stillgelegt hat. Nur so konnten die britischen Gewerkschaften gerettet werden. Für unsere Umwelt war die EU großartig, für die Entwicklung digitaler kreativer Dienstleistungen, aber auch für die hochtechnologische Produktion. Unsere EU-Mitgliedschaft war gut für unser Land.
Heinemann: Sie haben für den Verbleib in der EU gestimmt. Ihr Wahlkreis mehrheitlich für den Brexit. Wie reden Sie mit den Leuten in Wakefield über den Brexit?
Creagh: Am vergangenen Samstag habe ich mit Leuten über den Brexit gesprochen. Ich habe mit einem Herrn gesprochen, der für Caterpillar arbeitet. Er konnte sich nicht daran erinnern, wie er abgestimmt hatte. Und das sagt mir, dass er vermutlich für den Austritt gestimmt hat. Ein erstaunlicher Fall von Amnesie. Er sagte, jeder in seinem Betrieb sei jetzt angesichts des Austritts entsetzt und sei für ein zweites Referendum, um für den Verbleib stimmen zu können.
Heinemann: Sie sind eine sehr erfahrene Abgeordnete. Wie ist die Atmosphäre im Unterhaus in diesen Tagen?
Creagh: Halbleere Bänke in der Fragestunde an die Premierministerin. Ein Gefühl von Müdigkeit und Erschöpfung. Positiv wird viel parteiübergreifend gearbeitet zwischen Labour, den Conservatives und den Unabhängigen, um diese drohende Katastrophe zu verhindern. Aber es gibt auch so ein Gefühl von Zerbrechlichkeit. Alles ist so unsicher und nicht vorhersehbar. Wir stolpern mit verbundenen Augen Richtung Klippenrand. Es erinnert mich an den Film Thelma und Louise: Entscheidend ist nicht, wie man über den Klippenrand kommt, sondern wie man auf dem Boden landet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Hier können Sie das Interview in der englischen Fassung hören.