Hier verbrachtest du die ersten Jahre
in der stolzen Renaissancestadt,
hier liefst du in Vorlesungen und zum Militärunterricht
im zu langen Uniformmantel –
und jetzt überlegst du, ob du
zurückkehren kannst zu der Begeisterung
jener Jahre, ob du noch so sehr
nicht wissen und so sehr begehren kannst,
und so sehr warten, ein wenig einschlafen
und so geschickt wieder aufwachen,
dass du den letzten Traum nicht vertreibst
trotz der Dunkelheit des Dezembermorgens.
Die Lange Straße, lang wie die Geduld.
Eine Straße, lang wie die Flucht vor dem Brand,
wie ein Wunschtraum, der niemals endet.
"Lange Straße" – so heißt dieses Gedicht und so lautete die erste Krakauer Adresse des jungen Adam Zagajewski. Damals, in den Sechzigern, war er in die Stadt gekommen, um Philosophie zu studieren und die Atmosphäre einer alten Kulturstadt zu genießen. Diese Zeit beschwört er in seiner Lyrik der letzten Jahre immer wieder herauf. Vor allem gilt das für den Band "Rückkehr", aus dem die Gedichte des ersten Teils der neuesten deutschen Auswahl stammen. Fast in jedem taucht er in die labyrinthische Topographie der Stadt ein, findet Orte und Menschen wieder, die ihn in seiner Jugend geprägt haben, registriert aufmerksam das Neue. Die Stadt kommt ihm gleichzeitig vertraut und fremd vor, das Damals und das Jetzt gehen ständig ineinander über.
Diese Doppelsicht von Krakau ist aber nicht nur ein Spiel mit dem eigenen Gedächtnis – sie führt den Dichter auch zu Selbsterkenntnissen anderer Art. Eine resultiert daraus, dass zu seinem Lebensstil seit Jahren intensives Reisen gehört. Um wie viele Erfahrungen, Eindrücke und Bilder er dadurch reicher geworden ist, merkt man dem ganzen Band an. Allerdings hat er inzwischen erkannt, dass dieser Reichtum überall zu finden ist. Etwa bei einem Spaziergang über den Krakauer Marktplatz, wenn er in die "Gesichter" der Passanten sieht.
Abends auf dem Marktplatz glühten Gesichter von Menschen,
die ich nicht kannte. Gierig betrachtete ich
die menschlichen Gesichter: Jedes war anders,
jedes sagte etwas, versuchte zu überzeugen,
lachte, litt.
Ich dachte – nicht die Häuser bilden die Stadt,
nicht Plätze, Boulevards, Parks, breite Straßen,
sondern die Gesichter, leuchtend wie Lampen,
wie die Brenner von Schweißern, die in der Nacht
in Wolken von Funken Eisen reparieren.
Ist das aber wirklich eine neue Erkenntnis? Hat er nicht irgendwann gesagt, dass seine Schreibweise auch dann die gleiche geworden wäre, wenn er Krakau niemals verlassen hätte? Dass er in ihr nur die Folge einer inneren Entwicklung und nicht die Funktion des geographischen Standorts sehe? Vielleicht deswegen bilden all die Gedanken, Eindrücke, Erinnerungen und Reflexionen, die in seine Lyrik einfließen, ein so harmonisches Ganzes – als würde eine "unsichtbare Hand" sie stets aufs Neue ordnen ...
"Ich kann mich noch erinnern, wie ich in der Schule anfing, Mathematik bzw. Algebra zu lernen. Und damit die ersten Gleichungen, in denen natürlich immer ein X vorkam. Es faszinierte mich, dass es einerseits Zahlen gab, die etwas sehr Konkretes an sich hatten, die man genau benennen konnte, und andererseits dieses X, ohne das eine Gleichung nicht möglich war. Später hörte ich auf, daran zu denken, aber irgendwann kam diese Faszination wieder. Und die 'unsichtbare Hand' ist für mich eben so ein X in der Gleichung. Wir haben unsere reale, sinnlich erfassbare Welt, aber wir haben auch unsere Gleichungen, in denen es immer ein X gibt. Ich habe überhaupt nicht den Ehrgeiz oder das Bedürfnis, dieses X zu definieren – im Gegensatz zu den Mathematikern, die ihre Gleichungen wirklich lösen. Meine Gleichung hat das an sich, dass sie gar nicht gelöst werden will."
Ein rein intuitiver Dichter, der in erster Linie nach effektvollen Bildern und Metaphern sucht, ist Adam Zagajewski dennoch nicht. Dazu steht ihm sein zweites literarisches Ich – das eines Essayisten – zu sehr im Wege. Er formuliert nicht nur seine Weltbetrachtungen, er reflektiert sie auch gern. Man findet in diesem Band viele Gedichte, die in diesem essayistischen Duktus geschrieben sind. Einige von ihnen, etwa die aus dem Teil "Antennen", haben aber gleichzeitig eine geradezu aphoristische Prägnanz. Manchmal sind sie lang und wirken wie eine Aneinanderreihung loser Gedankensplitter, und manchmal sind sie auch von einer aphoristischen Knappheit.
Nachts, hoch in den Alpen,
schlafen die Antennen nicht,
die Antennen wachen,
drehen sich aufmerksam
und flüstern:
Komm endlich, Messias.
Vor zehn Jahren publizierte Adam Zagajewski einen Essayband, der "Verteidigung der Leidenschaft" hieß. Den Titel könnte er auch zu seinem dichterischen Credo erklären. Denn auch in seinen Gedichten verteidigt er sein Anrecht auf die Intensität und Ambivalenz der Gefühle, auf Skepsis und Neugier, Lebensfreude und Selbstzweifel. Gleichzeitig strebt er ständig nach dem hohen Stil, nach tiefen ästhetischen und geistigen Empfindungen – nicht zuletzt aus dem Glauben heraus, dass die Kunst vor Vergänglichkeit, Schmerz und Verzweiflung schützen kann. Und vor Einsamkeit, dem Gefühl, das ihm am meisten vertraut ist. Wie allen, die lange Exiljahre hinter sich haben.
Adam Zagajewski: "Unsichtbare Hand".
Gedichte. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall.
Carl Hanser Verlag, München 2012, 130 Seiten, 14,90 Euro.
in der stolzen Renaissancestadt,
hier liefst du in Vorlesungen und zum Militärunterricht
im zu langen Uniformmantel –
und jetzt überlegst du, ob du
zurückkehren kannst zu der Begeisterung
jener Jahre, ob du noch so sehr
nicht wissen und so sehr begehren kannst,
und so sehr warten, ein wenig einschlafen
und so geschickt wieder aufwachen,
dass du den letzten Traum nicht vertreibst
trotz der Dunkelheit des Dezembermorgens.
Die Lange Straße, lang wie die Geduld.
Eine Straße, lang wie die Flucht vor dem Brand,
wie ein Wunschtraum, der niemals endet.
"Lange Straße" – so heißt dieses Gedicht und so lautete die erste Krakauer Adresse des jungen Adam Zagajewski. Damals, in den Sechzigern, war er in die Stadt gekommen, um Philosophie zu studieren und die Atmosphäre einer alten Kulturstadt zu genießen. Diese Zeit beschwört er in seiner Lyrik der letzten Jahre immer wieder herauf. Vor allem gilt das für den Band "Rückkehr", aus dem die Gedichte des ersten Teils der neuesten deutschen Auswahl stammen. Fast in jedem taucht er in die labyrinthische Topographie der Stadt ein, findet Orte und Menschen wieder, die ihn in seiner Jugend geprägt haben, registriert aufmerksam das Neue. Die Stadt kommt ihm gleichzeitig vertraut und fremd vor, das Damals und das Jetzt gehen ständig ineinander über.
Diese Doppelsicht von Krakau ist aber nicht nur ein Spiel mit dem eigenen Gedächtnis – sie führt den Dichter auch zu Selbsterkenntnissen anderer Art. Eine resultiert daraus, dass zu seinem Lebensstil seit Jahren intensives Reisen gehört. Um wie viele Erfahrungen, Eindrücke und Bilder er dadurch reicher geworden ist, merkt man dem ganzen Band an. Allerdings hat er inzwischen erkannt, dass dieser Reichtum überall zu finden ist. Etwa bei einem Spaziergang über den Krakauer Marktplatz, wenn er in die "Gesichter" der Passanten sieht.
Abends auf dem Marktplatz glühten Gesichter von Menschen,
die ich nicht kannte. Gierig betrachtete ich
die menschlichen Gesichter: Jedes war anders,
jedes sagte etwas, versuchte zu überzeugen,
lachte, litt.
Ich dachte – nicht die Häuser bilden die Stadt,
nicht Plätze, Boulevards, Parks, breite Straßen,
sondern die Gesichter, leuchtend wie Lampen,
wie die Brenner von Schweißern, die in der Nacht
in Wolken von Funken Eisen reparieren.
Ist das aber wirklich eine neue Erkenntnis? Hat er nicht irgendwann gesagt, dass seine Schreibweise auch dann die gleiche geworden wäre, wenn er Krakau niemals verlassen hätte? Dass er in ihr nur die Folge einer inneren Entwicklung und nicht die Funktion des geographischen Standorts sehe? Vielleicht deswegen bilden all die Gedanken, Eindrücke, Erinnerungen und Reflexionen, die in seine Lyrik einfließen, ein so harmonisches Ganzes – als würde eine "unsichtbare Hand" sie stets aufs Neue ordnen ...
"Ich kann mich noch erinnern, wie ich in der Schule anfing, Mathematik bzw. Algebra zu lernen. Und damit die ersten Gleichungen, in denen natürlich immer ein X vorkam. Es faszinierte mich, dass es einerseits Zahlen gab, die etwas sehr Konkretes an sich hatten, die man genau benennen konnte, und andererseits dieses X, ohne das eine Gleichung nicht möglich war. Später hörte ich auf, daran zu denken, aber irgendwann kam diese Faszination wieder. Und die 'unsichtbare Hand' ist für mich eben so ein X in der Gleichung. Wir haben unsere reale, sinnlich erfassbare Welt, aber wir haben auch unsere Gleichungen, in denen es immer ein X gibt. Ich habe überhaupt nicht den Ehrgeiz oder das Bedürfnis, dieses X zu definieren – im Gegensatz zu den Mathematikern, die ihre Gleichungen wirklich lösen. Meine Gleichung hat das an sich, dass sie gar nicht gelöst werden will."
Ein rein intuitiver Dichter, der in erster Linie nach effektvollen Bildern und Metaphern sucht, ist Adam Zagajewski dennoch nicht. Dazu steht ihm sein zweites literarisches Ich – das eines Essayisten – zu sehr im Wege. Er formuliert nicht nur seine Weltbetrachtungen, er reflektiert sie auch gern. Man findet in diesem Band viele Gedichte, die in diesem essayistischen Duktus geschrieben sind. Einige von ihnen, etwa die aus dem Teil "Antennen", haben aber gleichzeitig eine geradezu aphoristische Prägnanz. Manchmal sind sie lang und wirken wie eine Aneinanderreihung loser Gedankensplitter, und manchmal sind sie auch von einer aphoristischen Knappheit.
Nachts, hoch in den Alpen,
schlafen die Antennen nicht,
die Antennen wachen,
drehen sich aufmerksam
und flüstern:
Komm endlich, Messias.
Vor zehn Jahren publizierte Adam Zagajewski einen Essayband, der "Verteidigung der Leidenschaft" hieß. Den Titel könnte er auch zu seinem dichterischen Credo erklären. Denn auch in seinen Gedichten verteidigt er sein Anrecht auf die Intensität und Ambivalenz der Gefühle, auf Skepsis und Neugier, Lebensfreude und Selbstzweifel. Gleichzeitig strebt er ständig nach dem hohen Stil, nach tiefen ästhetischen und geistigen Empfindungen – nicht zuletzt aus dem Glauben heraus, dass die Kunst vor Vergänglichkeit, Schmerz und Verzweiflung schützen kann. Und vor Einsamkeit, dem Gefühl, das ihm am meisten vertraut ist. Wie allen, die lange Exiljahre hinter sich haben.
Adam Zagajewski: "Unsichtbare Hand".
Gedichte. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall.
Carl Hanser Verlag, München 2012, 130 Seiten, 14,90 Euro.