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Länder warten bei Sicherungsverwahrung "auf klare Vorgaben aus Berlin"

Mehrere Länder haben die Bundesregierung zu einer schnellen Neuregelung der Sicherungsverwahrung aufgerufen. Die Länder warteten händeringend auf Vorgaben aus Berlin, sagt der nordrhein-westfälische Justizminister Kutschaty. Gerade die baulichen Maßnahmen zur Unterbringung von Sicherungsverwahrten brauche Zeit.

Thomas Kutschaty im Gespräch mit Jasper Barenberg | 19.07.2011
    Jasper Barenberg: Acht Jahre lang hat ein heute 49-jähriger Mann aus Dortmund im Gefängnis gesessen, die letzten fünf in Sicherungsverwahrung. Als er im Sommer 2010 freigelassen werden muss, überwacht ihn die Polizei monatelang, sie beobachtet ihn auf Schritt und Tritt. Dann werden die Polizisten abgezogen. Inzwischen ist klar, oder scheint klar: Kurz darauf hat der Mann ein siebenjähriges Mädchen in eine Tiefgarage in der Innenstadt gelockt und sexuell missbraucht. Auch in Münster und in Duisburg wurden entlassene Sexualstraftäter offenkundig rückfällig.

    Kein Wunder, dass wieder über die sogenannte Sicherungsverwahrung diskutiert wird. Das wollen wir auch tun. Am Telefon ist jetzt Nordrhein-Westfalens Justizminister. Schönen guten Morgen, Thomas Kutschaty.

    Thomas Kutschaty: Schönen guten Morgen.

    Barenberg: Herr Kutschaty, die schlimmsten Befürchtungen sind wahr geworden: Entlassene Sicherungsverwahrte werden rückfällig. Welchen Teil der Verantwortung rechnen Sie sich als Justizminister zu?

    Kutschaty: Wir müssen ja sehen, dass es eine freiheitsentziehende Maßnahme ist, die Sicherungsverwahrung, das heißt hohe Hürden anzusetzen sind auch für die Gerichte. Die Gerichte prüfen mit großer Gewissenhaftigkeit, sind die gesetzlichen Voraussetzungen noch da. Wir hatten ja durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts jetzt eine völlige Neuausrichtung der Sicherungsverwahrung vorzunehmen. Das heißt, die Ansprüche sind deutlich gestiegen, wann ein Mensch noch in Sicherungsverwahrung behalten werden kann. Dementsprechend hat das zuständige Oberlandesgericht in diesem Fall entschieden, dass nach seiner Einschätzung die Voraussetzungen nicht mehr gegeben sind, den ehemaligen Sicherungsverwahrten noch weiterhin in Sicherungsverwahrung zu belassen.

    Barenberg: Und die Gutachten waren sorgfältig? Die Gutachten waren so, wie man sich das vorstellen muss?

    Kutschaty: Ich glaube, den Gutachtern kommt zukünftig noch eine deutlich wichtigere Funktion zu. Die Richter sind ja auf verlässliche Hinweise durch die Gutachten, durch die Gutachter angewiesen. Sie müssen es selbst entscheiden, aber brauchen natürlich die Hilfestellung. In diesem Falle war aus Sicht der Gerichte zumindest das vorliegende Gutachten oder die Gutachten nicht so schlüssig, nicht so aussagekräftig, dass noch immer zu erwarten war, dass die hinreichende Wahrscheinlichkeit für weitere Straftaten so gegeben war.

    Barenberg: Der Mann galt also nicht mehr als gefährlich, akut gefährlich, und deshalb wurden die Polizisten auch von der Überwachung abgezogen?

    Kutschaty: Es gab eine sogenannte Fallkonferenz. Das heißt, immer wenn ein Sicherungsverwahrter in Nordrhein-Westfalen in Freiheit entlassen wird, entlassen werden muss, setzen sich alle Beteiligten zusammen: Führungsaufsicht, Bewährungshilfe, Polizei, Landeskriminalamt. Dort wird genau besprochen, wie ist der Sicherungsverwahrte, der Ex-Sicherungsverwahrte zukünftig zu beobachten, welche Hilfestellungen muss man ihm geben, welche Auflagen muss man ihm aber auch machen. Er hat sich in den ersten Monaten nach seiner Freilassung sehr kooperativ verhalten. Es gab, so meine Informationen, aus Sicht der Polizei keinen Anhaltspunkt mehr dafür, dass akut von ihm weitere Straftaten ausgehen würden.

    Barenberg: Und Sie stehen zu dieser Beurteilung der Situation nach wie vor?

    Kutschaty: Im Nachhinein hat sich diese als falsch herausgestellt, das muss man auch so deutlich sehen. Sonst hätte es diese Rückfalltat nicht gegeben. Aber noch einmal: Wir können nicht in die Menschen reinschauen. Das heißt, wir können nur gucken, wie entwickeln sie sich, welche Gefährlichkeit zeigen sie, und in diesem Falle ist man offensichtlich zu dem im Nachhinein falschen Ergebnis gekommen, dass eine akute Gefahr für weitere Straftaten wohl nicht mehr ausgegangen sei.

    Barenberg: Kommen wir damit zu der bitteren Wahrheit, Herr Kutschaty, dass auch bei aller Sorgfalt wir akzeptieren, hinnehmen müssen, dass es Rückfälle gibt in Einzelfällen?

    Kutschaty: Das ist wahrscheinlich die bittere Wahrheit, dass wir keine hundertprozentige Sicherheit garantieren können. Menschen können wir nicht bis ins letzte Detail berechnen, das geht nicht. Wir wissen nicht, was einer wann wo tun wird. Wir müssen alles daran setzen, die Risiken zu minimieren, vielleicht zukünftig noch deutlicher, noch besser hinzuschauen. Aber eine hundertprozentige Garantie kann ihnen keiner geben.

    Barenberg: Wie kann denn noch besser hingeschaut werden? Sie haben ja erwähnt, dass es sorgfältige Gutachten gibt, und Sie haben auch erwähnt, dass Sie keine Kritik daran üben.

    Kutschaty: Ja wir müssen schon schauen, welche Aufgabe haben die Gutachter. Vielleicht muss man im Zweifel auch noch mal ein Zweitgutachten hinzuziehen. Aber ich mache noch einmal darauf aufmerksam: Auch die Richter sind natürlich an die Gesetze und an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und dann auch an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gebunden, wo ja natürlich enge Auflagen gemacht werden. Wir sprechen ja davon, dass der Staat die schärfste Waffe einsetzen kann, die er hat gegen den Bürger, nämlich einen Freiheitsentzug, und nicht deswegen, weil ein Mensch eine Straftat begangen hat – dafür haben die Sicherungsverwahrten ja ihre Haftstrafe schon abgesessen -, sondern weil von ihnen möglicherweise weitere Straftaten ausgehen können. Da sagt das Gericht, das Verfassungsgericht, das ist eine sehr hohe Hürde, einen Menschen, ich überspitze das jetzt mal, vorsorglich wegzusperren, damit keine weiteren Straftaten begangen werden. Und da immer die richtige Entscheidung und die Prognose zu treffen, ist natürlich schon ganz schwierig.

    Barenberg: Im Zweifel lieber einen Ungefährlichen mehr drin lassen als einen Gefährlichen rauszulassen, kann das eine Lösung sein?

    Kutschaty: Ja wir müssen abwägen natürlich zwischen den Freiheitsinteressen des Einzelnen und den Sicherheitsinteressen der Bevölkerung, und die Sicherheitsinteressen der Bevölkerung haben natürlich hohe Priorität auch.

    Barenberg: Bayerns Justizministerin Beate Merk, sie sagt, keiner der ehemaligen Sicherungsverwahrten darf frei herumlaufen, solange noch eine Gefahr von ihm ausgeht. Wie hilft uns das weiter in dieser Situation?

    Kutschaty: Ja das hört sich natürlich sehr populistisch an zu sagen, ich lasse auch keinen vielleicht raus. Das ist nicht eine Entscheidung einer Politikerin oder eines Politikers und auch nicht eines Ministers, jemanden rauszulassen oder nicht. Das sind gerichtliche Entscheidungen, das sind Freiheitsrechte, die beeinträchtigt sind, auf der anderen Seite die Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit abzuwägen. Aber ich kann es noch einmal betonen: Die Justiz ist an Recht gebunden, ist an Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebunden. Ich glaube, so einfach wie die Kollegin kann man sich das nicht machen.

    Barenberg: Sie und die anderen Kollegen der Justizminister in den Ländern müssen jetzt umsetzen, was die Gerichte geurteilt haben, müssen die Sicherungsverwahrung neu ordnen. Hat Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger denn ihre Hausaufgaben gemacht bis jetzt?

    Kutschaty: Bislang noch nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat ja mit aller Deutlichkeit im Mai diesen Jahres die von der damaligen Bundesregierung Ende letzten Jahres getroffenen Neuregelungen zur Sicherungsverwahrung komplett für verfassungswidrig erklärt. Wir haben zwar eine Übergangsfrist bis Mitte 2013 bekommen, die ganze Sache neu zu regeln. Wir als Länder warten händeringend auf neue gesetzliche Vorgaben aus Berlin, allein schon deswegen, weil wir uns darauf einstellen müssen, vorbereiten müssen, wie bringen wir zukünftig die Sicherungsverwahrten unter. Da fehlen uns noch klare gesetzliche Vorgaben aus Berlin.

    Barenberg: Ich habe immer gedacht, die liegen vor in Gestalt des sogenannten Therapie-Unterbringungsgesetzes. Reicht das noch nicht aus als Grundlage dafür, dass Sie handeln können?

    Kutschaty: Das Therapie-Unterbringungsgesetz sollte damals nur eine kleine Nische ausfüllen, nämlich die für die Fälle, die als sogenannte Parallelfälle, als Fälle, deren nachträgliche Befristung aufgehoben worden ist, frei gelassen werden müssen aufgrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Also ein ganz kleiner begrenzter Personenkreis, dafür ist das Therapie-Unterbringungsgesetz geschaffen worden, im übrigen bislang ohne praktische Anwendung bei uns in Nordrhein-Westfalen. Wir haben seit Anfang des Jahres eine entsprechende Einrichtung dafür zur Verfügung gestellt. Es ist noch kein Einziger in dieser Einrichtung, weil noch keine Einweisung stattgefunden hat.

    Nein, wir müssen über das Therapie-Unterbringungsgesetz generell neue gesetzliche Regelungen haben zur Frage primäre Sicherungsverwahrung, vorbehaltene Sicherungsverwahrung, was ist möglich zukünftig vielleicht noch mit nachträglicher Sicherungsverwahrung. Da warten wir einfach auf die klaren Vorgaben aus Berlin.

    Barenberg: Und was fordern Sie? Wie schnell muss es jetzt gehen, angesichts der Fälle, über die wir auch gesprochen haben?

    Kutschaty: Das muss zügig gehen, weil wir uns auch noch auf Baumaßnahmen einstellen müssen. Das Bundesverfassungsgericht hat uns ja allen gesagt, wir müssen deutlich die Sicherungsverwahrung von der normalen Strafhaft trennen. Das heißt, das Abstandsgebot muss gewahrt bleiben, den Sicherungsverwahrten müssen mehr Freiräume eingeräumt werden. Das heißt für Nordrhein-Westfalen unter anderem auch, die eine oder andere Baumaßnahme noch zu treffen. Und jeder weiß: Baumaßnahmen, gerade wenn es um so hoch brisante Bauvorhaben geht, lassen sich nicht innerhalb von wenigen Monaten realisieren. Insofern drängt die Zeit.

    Barenberg: Heute Morgen im Deutschlandfunk der nordrhein-westfälische Justizminister. Vielen Dank für das Gespräch, Thomas Kutschaty.

    Kutschaty: Vielen Dank.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.