Gerken sagte, seit seiner Gründung habe das "europäische Integrationsprojekt darunter gelitten", dass die Mitgliedsstaaten ihre eigenen nationale Interessen vertreten. Deutschland sei eines der wenigen Länder, die der europöischen Integration einen Eigenwert zumessen und die EU nicht als Mittel zum Zweck sähen. Deutschland habe damit eine ganz andere Interessenlage als viele andere Staaten.
Die von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vorgestellte Ausweitung seines Investitionsplan gegen Arbeitslosigkeit sieht Gerken skeptisch. Die Effekte des aktuellen Plans seien noch nicht abzuschätzen. Es sei zu früh für eine Verdopplung des Fonds.
Das Interview in voller Länge:
Christiane Kaess: Mit Spannung wurde die Grundsatzrede von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker erwartet, die er heute Vormittag in Straßburg gehalten hat. Große Themen der Europäischen Union wie den Austritt Großbritanniens, den Klimaschutz, die Arbeitslosigkeit und die geplanten Handelsabkommen mit Nordamerika hat Juncker angesprochen und er hat nicht mit Kritik gespart. Oft werde nur noch nationalen Interessen Vorfahrt eingeräumt, so einer der Vorwürfe.
Mitgehört am Telefon hat Lüder Gerken. Er ist Vorsitzender der Denkfabrik Centrum für europäische Politik. Guten Tag, Herr Gerken.
Lüder Gerken: Guten Tag, Frau Kaess.
Kaess: Juncker versucht ja, trotz seiner Kritik an der EU noch Zuversicht zu verbreiten. Er ist der Meinung, dass Brexit-Referendum wird die EU nicht auseinanderbrechen lassen. Sind Sie auch so optimistisch?
Gerken: Das wird man sehen müssen. Natürlich ist das Brexit-Votum als solches jetzt noch kein Grund, dass die EU zerbricht. Wir beobachten allerdings unabhängig von der Entwicklung in Großbritannien ja weitere Zerfaserungserscheinungen. Juncker hat es heute Morgen auch gesagt. Wir haben sehr starke Egoismen in diversen Mitgliedsstaaten. Er sagte, es gebe so wenige Gemeinsamkeiten nach seinem Eindruck zwischen den Mitgliedsstaaten wie niemals zuvor. Das sind sehr besorgniserregende Entwicklungen. Am Brexit allein wird die Europäische Union nicht scheitern, aber man wird sehen müssen, wie diese egoistischen Tendenzen in den politischen Führungen der Mitgliedsstaaten in vielen Ländern sich auf die weitere Entwicklung der Europäischen Union auswirken werden.
Grenzsicherung häufig an nationalen Egoismen gescheitert
Kaess: Sind denn im Moment, Herr Gerken, die Sicherheit an den Außengrenzen und die soziale Sicherheit überhaupt noch die einzigen gemeinsamen Themen, auf die man sich einigen kann?
Gerken: Die soziale Sicherheit als solche ist ja zunächst einmal gar nicht europäische Domäne. Sozialpolitik liegt ganz überwiegend in der Kompetenz der Mitgliedsstaaten.
Kaess: Ich meinte jetzt damit die Bemühungen, die Arbeitslosigkeit zu verringern in der EU.
Gerken: Auch das ist primär eine Aufgabe der Mitgliedsstaaten. Bei der Sicherheit an den Grenzen sieht es anders aus. Dort versucht die Europäische Union ja, seit geraumer Zeit mehr Kompetenzen, mehr Einflussmöglichkeiten zu gewinnen. Auch das ist in der Vergangenheit häufig an nationalen Egoismen gescheitert. Wir haben Frontex, Juncker hat heute angekündigt, dass Frontex zu einer umfassenden Agentur für die Außengrenzen ausgebaut werden soll. Ich hoffe, dass es auch in Bratislava weniger Widerstand als in der Vergangenheit dafür geben wird.
Kaess: Sie haben jetzt viel über die nationalen Egoismen und die Nationalstaaten gesprochen. Es ist ja aber so, dass man sich nicht einmal in den EU-Institutionen einig ist. Wenn Juncker von mangelnder Solidarität bei der Flüchtlingspolitik spricht und auf der anderen Seite der EU-Ratspräsident Donald Tusk sagt, Hunderttausende Flüchtlinge auf dem Weg durch Europa, die hätten ein Gefühl der Bedrohung bei vielen Europäern erzeugt, das ist ja diametral entgegengerichtet. Wie soll das überhaupt noch zusammengehen?
Gerken: Donald Tusk ist zunächst einmal der Vertreter der Mitgliedsstaaten und hat auch dort dafür zu sorgen, dass er die Meinungsbildung der Mitgliedsstaaten koordiniert. Er kann also nicht so freimütig für europäische Interessen sprechen, wie das Juncker tun kann.
Kaess: Glauben Sie denn, dass dieses Mehr an Solidarität, das Juncker fordert in der Flüchtlingskrise, dass sich das noch realisieren lässt?
Gerken: Es zeichnet sich derzeit leider nicht ab.
"Sehr abstrakte gemeinsame Werte"
Kaess: Wie soll das weitergehen?
Gerken: Das wird man sehen müssen. Derzeit sind ja die Grenzen relativ dicht. Es kommen wenige Flüchtlinge nach. Das ist eine Politik, die man jetzt seit etlichen Monaten fährt. Wenn es dabei bleiben sollte, denke ich, werden wir keine größeren Probleme bekommen. Wenn wieder Flüchtlingsströme wie 2015 auf uns zukommen, dann weiß heute niemand, wie das ausgehen wird.
Kaess: Aber bleiben wir noch einen Moment bei diesem Punkt. Juncker hat das heute ausgeweitet auf die Werte der EU. Er hat es konkretisiert in diesem Zusammenhang. Er hat von Griechenland und der EU gefordert, sich vor allem um unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zu kümmern. Und er sagt: Ohne den Schutz dieser Kinder verrate die Europäische Union ihre historischen Werte. Teilt die EU noch gemeinsame Werte?
Gerken: Irgendwo gibt es natürlich grundlegende gemeinsame Werte. Aber das europäische Integrationsprojekt hat von der Gründung an darunter gelitten, dass jenseits dieser sehr abstrakten gemeinsamen Werte die einzelnen Mitgliedsstaaten der EU immer knallhart nationale Interessen vertreten haben. Und das hat sich auch wieder in der Flüchtlingsproblematik gezeigt, wo ja die Mehrheit der Länder ihre Grenzen dicht gemacht haben und die Flüchtlinge, die dann zu einem großen Teil in Deutschland angekommen sind, nicht haben weiterziehen lassen. Diese Egoismen spielen eine sehr starke Rolle und Deutschland ist im Grunde genommen, die Bevölkerung in Deutschland ist im Grunde genommen eine der wenigen in der Europäischen Union, die sagt, die europäische Integration hat einen Eigenwert. Wenn Sie in Frankreich oder in Großbritannien oder in Spanien oder auch in Polen sich umhören, da wird die europäische Integration immer als Mittel zum Zweck der Durchsetzung nationaler Interessen gesehen. Das ist eine ganz andere Bewusstseinslage.
"Regierungen müssen natürlich auf das Volk hören"
Kaess: Aber man kann ja, Herr Gerken, nationale Interessen haben und dennoch gemeinsame Werte teilen. Deshalb noch mal meine Frage: Teilt man überhaupt gemeinsame Werte noch, wenn wir uns die Flüchtlingspolitik und auf der einen Seite jetzt mal die zwei Extreme Deutschland und auf der anderen Seite Ungarn ansehen?
Gerken: Wie gesagt: auf einem sehr abstrakten Niveau schon. Aber wenn es dann darum geht, das herunterzubrechen auf die konkreten politischen Vorgänge und Ziele und Aufgaben und Tätigkeiten, dann hören diese gemeinsamen Dinge sehr schnell auf und zergliedern sich in verschiedene Präferenzen und Strömungen. Das ist das Problem!
Kaess: Dass nationale Regierungen vor allem an nationale Interessen denken, das entspricht aber durchaus der Stimmung im Volk, oder?
Gerken: Ja, natürlich! Natürlich wollen auch die nationalen Regierungen und Parlamente wiedergewählt werden. Sie müssen natürlich auf das Volk hören. Das ist ja auch einer der Gründe, warum die Franzosen und die Polen und auch die Briten sich in einer ganz bestimmten Weise verhalten. Auch in Deutschland werden wir sehen, dass die Bundesregierung nicht unbeeindruckt bleiben wird von den Wahlergebnissen der AfD.
"Bei staatlich geförderten Investitionen sehr vorsichtig sein"
Kaess: Das heißt, Sie gehen davon aus, dass die Europaskepsis der Bürger auch noch weitergehen wird und die Politik dann darauf eingehen wird?
Gerken: Das wird man sehen müssen. Man wird versuchen, hier einen Weg zu gehen, dass die Politik die Bürger zurecht versucht zu überzeugen, dass die europäische Integration einen ganz massiven Mehrwert hat und dass man auf diesem Weg vorangehen sollte. Aber auch da geht es wieder los: Wir Deutschen haben eine ganz andere Vorstellung von der weiteren Integration wie etwa die Polen oder auch die Briten, und darüber hat man sich in der Vergangenheit auf europäischer Ebene nicht verständigen können. Nehmen wir den europäischen Verteidigungsfonds, den Herr Juncker heute vorgeschlagen hat. Das geht zurück auf ein Grundsatzpapier von Thierry Breton, dem ehemaligen Finanz- und Wirtschaftsminister unter Chirac. Er hat einen solchen europäischen Verteidigungsfonds vorgeschlagen. Zunächst sagen alle, es ist sehr sinnvoll. Es gab ja auch Zustimmung zu diesem Vorhaben, das Juncker heute vorgetragen hat. Wenn man das Papier von Breton sich genauer anschaut, steht dahinter die Finanzierung dieses Fonds über Eurobonds. Da werden die Deutschen sagen, mit uns nicht, und schon droht dieses Projekt wieder zerredet zu werden.
Kaess: Lassen Sie uns zum Schluss noch einen Aspekt herausgreifen, auch einen wirtschaftlichen. Es geht um die Arbeitslosigkeit. Juncker will diesem schon milliardenschweren Plan für Investitionen verdoppeln. Er will ihn auf 630 Milliarden Euro aufstocken. Was bringt dieser Investitionsplan?
Gerken: Das ist eine große Frage. Man muss bei staatlich geförderten Investitionen immer sehr vorsichtig sein, weil man nicht genau weiß, ob diese Investitionen wirklich marktfähig und damit nachhaltig sind. Der Investitionsfonds mit den 315 Milliarden, der bisher, wie Juncker sagt, zu etwa einem Drittel jetzt wirksam geworden ist, ist so jung, dass man heute entsprechende Effekte noch gar nicht abschätzen kann. Deswegen erscheint es mir relativ früh zu sagen, wir wollen diesen Fonds, weil er erfolgreich sei, verdoppeln.
Kaess: Sagt Lüder Gerken. Er ist Vorsitzender des Centrums für europäische Politik. Danke für Ihre Zeit heute Mittag.
Gerken: Danke, Frau Kaess.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.