"Keines dieser Kinder kann wirklich ruhig schlafen," sagte Ebel. Täglich müssten sie im Korridor auf dem Boden liegen, um sich vor Bomben zu schützen. "Das trifft die Kinder extrem, auch auf lange Sicht." Zur Schule gingen nur wenige von ihnen - sofern die Schule nicht zerstört sei und die Sicherheitslage es zulasse. Denn es gebe auch Scharfschützen, die auf Kinder schössen, so Ebel, unter anderem auf dem Schulweg.
Viele hätten außerdem ihre Familien verloren und lebten auf der Flucht auf der Straße. "Wir versuchen, die Kinder wieder mit den Familien zu vereinen oder Angehörige zu finden." Viele Kinder müssten arbeiten, um zum Familieneinkommen beitragen zu können. "Für niemanden in Aleppo gibt es einen normalen Alltag. Und das ist besonders für die Kinder sehr nachhaltig." Viele schreckten bei jedem Geräusch zusammen - sie hätten jegliches Vertrauen verloren, so Ebel. "Wir wollen ihnen wieder ein Sicherheitsgefühl geben. Aber das kostet Zeit und braucht viele Psychologen." Und nicht für alle werde diese Art von Begleitung und Therapie funktionieren.
"Das ist alles sehr gefährlich, sehr wackelig"
Das Kinderdorf in Aleppo war nach dem in Damaskus das zweite, das wegen der Sicherheitslage geschlossen werden musste. Die Organisation baue aber derzeit in der umkämpften Stadt eine Nothilfe auf, so Ebel. Viele Flüchtlinge seien in den Osten Aleppos gebracht worden, dort bauten ihre Mitarbeiter eine Suppenküche auf und versorgten Mütter mit Baby-Kits sowie Nahrung und Kleidung. Außerdem soll es geschützte Orte für Kinder und Mütter geben. Die Hilfe sei nicht einfach: "Die Situation ist so volatil - eine Ecke, die bis vor einer Woche sicher war, ist jetzt unter Beschuss."
Auch die Besorgung von Hilfsgütern sei extrem schwierig, da beispielsweise die Versorgung aus Damaskus unmöglich geworden sei. Die Organisation habe jedoch Versorger im Umland aufgetrieben. "Das ist alles sehr gefährlich, sehr wackelig. Wir müssen sehr flexibel sein." Die Mitarbeiter gingen ein hohes Risiko ein. Sie seien zudem auch selbst von den Kämpfen betroffen, so Ebel. "Alle unsere Mitarbeiter kommen aus Aleppo und haben ihre Familien da. Sie wurden zum Teil auch schon mehrfach vertrieben."
"Die Wirkung einer Luftbrücke wäre minimal"
In die eroberten Gebiete im Osten Aleppos zu gelangen, sei derzeit nicht möglich. "Dazu brauchen wir die Zusage von allen Parteien, dass sie uns nicht beschießen und die ist sehr schwer zu bekommen. Das ist fast unmöglich."
Die Einrichtung einer humanitären Luftbrücke hält Ebel für schwierig: Nur wenn beide Kriegsparteien leiden würden, gäbe es Interesse daran. Schon die Einrichtung der Fluchtkorridore sei schwierig gewesen. Auch sei eine Luftbrücke wenig nachhaltig: "Die Wirkung wäre minimal. Was die Leute wirklich brauchen, ist ein lang anhaltender Waffenstillstand und Frieden."
Das Interview in voller Länge:
Doris Simon: Eine Luftbrücke für Aleppo, das ist der jüngste Vorschlag, um die Not der Menschen in Syriens zweitgrößter Stadt ein wenig zu lindern. Er kommt von Bundesaußenminister Walter Steinmeier, der will heute darüber mit dem russischen Außenminister Lawrow sprechen. Nahrungsmittel, Medikamente, Trinkwasser aus der Luft – dort, wo bislang nur Bomben abgeworfen werden. Wird das Assad-Regime auf der einen und die eingeschlossene Opposition auf der anderen Seite, von gemäßigten Rebellen bis zu radikalen Gruppen, werden die da zustimmen? Katharina Ebel arbeitet für die SOS-Kinderdörfer im Nahen Osten und koordiniert die Hilfe für Syrien. Vor der Sendung habe ich mit ihr gesprochen und sie gefragt, ob sie denn daran glaubt, dass es eine diplomatische Lösung geben könnte für Aleppo.
Katharina Ebel: Eine diplomatische Lösung für Aleppo – nur wenn eine Seite glaubt, sie verliert. Ansonsten werden beide Seiten so lange kämpfen, bis sie nicht mehr können. Davon bin ich, nach dem, was wir bis jetzt gesehen und gehört haben, ziemlich überzeugt.
"Für unsere Mitarbeiter ist es extrem hart"
Simon: Frau Ebel, Sie halten ja immer noch Kontakt zu Ihren Mitarbeitern in Aleppo. Was hören Sie, wie erleben die die Situation?
Ebel: Für unsere Mitarbeiter ist es extrem hart. Gerade versuchen wir eine Nothilfe auf die Beine zu stellen, um den mehrfach geflüchteten Familien zu helfen, die wirklich nichts mehr haben. Für unsere Mitarbeiter ist es aber gleichermaßen hart, weil die ihre Familien auch in Aleppo haben. Wir haben Mitarbeiter, die sind hochschwanger, die wissen nicht, wie sie gebären sollen. Das heißt, die Krankenhäuser sind extrem unsicher. Es gibt nie Strom, Babys sterben. Und denen fehlt es eigentlich an allem. Und ja, unsere Mitarbeiter gehen auch ein extremes Risiko ein, weil die Situation so unvorhersagbar ist, dass man eigentlich nur von Minute zu Minute entscheiden kann, ob man jetzt eine Operation, eine Hilfsoperation durchführt oder nicht.
Simon: Was für Hilfsoperationen sind denn noch möglich in Aleppo?
Ebel: Wir machen jetzt eine Nothilfeoperation, das heißt, viele der Flüchtlinge wurden in die östlichen Gebiete von Aleppo gebracht, ungefähr 2.500 Familien. Dort ist unser Team. Die bauen dort eine Suppenküche auf, um die Familien mit warmen Mahlzeiten zu versorgen. Die geben Baby-Kits an Familien mit Kleinkindern, die geben Babynahrung aus. Sie geben Kleidung aus. Sie bauen einen – wir nennen es Child Friendly Space – auf, wo Kinder geschützt spielen können, wo Unterricht stattfinden kann. Und es wird auch geschützte Orte geben, wo Mütter ihre Kinder baden und auch stillen können.
Simon: Wie geschützt können die sein in einer Situation, wo diese Stadt, die ja unter Jahren unter Beschuss ist, massiv jeden Tag bombardiert wird?
Ebel: Das ist sehr relativ. Wie ich auch schon sagte, die Situation ist so volatil, das heißt also, die Ecke, die bis vor einer Woche noch sicher war, wo wir auch unsere Einrichtungen hatten, ist jetzt komplett unter Beschuss. Da leben die Leute auf der Straße, und wir haben jetzt gerade die Entscheidung getroffen, dass wir die Familien, die auf der Straße leben, obwohl wir das Zentrum geschlossen haben, lieber einladen, nach drinnen zu kommen, damit sie wieder wenigstens ein Dach über dem Kopf haben, als sie draußen stehen zu lassen. Aber Schutz können wir ihnen in dem Sinn nicht bieten.
"Dort zu helfen, ist echt schwierig, und man geht sehr große Risiken ein"
Simon: Wenn Sie Hilfe leisten mit den SOS-Kinderdörfern in Aleppo vor Ort über Ihre Mitarbeiter, wie kommen Sie dann an die Hilfsgüter heran?
Ebel: Das ist nicht ganz einfach. Wir hatten erst gedacht, wir können sie über Damaskus nach Aleppo bringen. Das ist nicht möglich, weil die Straße einfach zu unsicher ist. Hilfsgüter in Aleppo zu besorgen, in einer Stadt, in der Wasser und Lebensmittel sowieso schon dünn gesät sind, ist auch extrem schwierig. Aber wir haben im Umland jetzt tatsächlich Versorger aufgetrieben, die uns Gemüse zur Verfügung stellen. Wir haben selber in Aleppo einen Brunnen, der jetzt auf Hochtouren läuft, der 24 Stunden läuft, der Leute mit Wasser versorgen kann, mit noch mehr Wasser als vorher. Insofern ist es alles sehr gefährlich, es ist alles sehr wackelig. Wir müssen sehr, sehr flexibel sein, selbst was Geldtransfers angeht. Ein Beispiel: Wir haben Geld überwiesen, und in dem Moment, wo unsere Mitarbeiter das abholen wollen, geht da eine Rakete runter. Das ist nur eine schwierige Situation. Die nächste ist dann, dass die Straße gesperrt ist, die man benutzen muss. Und das ist auch der einzige Zugang zu dem Gebiet, wo man helfen will, und man muss das Ganze verschieben und weiß aber nicht, wie lange man das verschieben muss. Also, dort zu helfen, ist echt schwierig, und man geht sehr große Risiken ein.
Simon: In das derzeit belagerte Ost-Aleppo kommen Sie aber auch nicht rein mit Ihrer Hilfe?
Ebel: Nein. Da haben wir auch keine Chance. Vor allen Dingen, wenn wir in solche, wir nennen das Hard-to-reach-Areas, reingehen –
Simon: Also schwer zu erreichende Gebiete.
Ebel: Genau. Oder umzingelte Gebiete reingehen, dann brauchen wir die Zusage von allen Parteien, dass sie uns nicht beschießen. Und diese Zusage ist leider extrem schwer zu bekommen. Also dass sie verlässlich bleibt und verlässlich ist, ist fast unmöglich.
"Ich glaube, dass keines dieser Kinder noch wirklich ruhig schlafen kann"
Simon: Sie haben ja 2012 das Kinderdorf in Aleppo, das zweite nach dem Kinderdorf in Damaskus, schließen müssen. Die Kinder wurden mit den Müttern nach Damaskus gebracht. Sie haben aber immer noch Mitarbeiter da. Sie haben gerade geschildert, was die alles tun. Ist das auch so ein bisschen für Sie als Hilfsorganisation ein Zwiespalt? Sie wollen auf der einen Seite helfen, auf der anderen Seite sind Ihre Mitarbeiter da ja in allergrößter Gefahr.
Ebel: Unsere Mitarbeiter kommen alle aus Aleppo, das heißt, die haben auch alle ihre Familien da. Den Mitarbeitern – also wir haben eine Mitarbeiterin, die ist jetzt im achten Monat schwanger, der haben wir angeboten, dass sie nach Damaskus kommen kann, und stellen ihr auch ein Haus zur Verfügung bis nach der Geburt. Und die Leute, die da sind, sind auch freiwillig da. Sie arbeiten auch freiwillig für uns, und natürlich sagen wir zu jedem, okay, ihr müsst das nicht machen, es ist eure eigene Entscheidung. Wir freuen uns natürlich sehr, wenn sie es machen, und viele machen das, ohne groß darüber nachzudenken. Auf der anderen Seite haben wir die Zentren, und alle unsere Büros sind mittlerweile voll mit Familien unserer Mitarbeiter, weil auch unsere Mitarbeiter schon mehrfach vertrieben wurden. Das heißt, auch die sind aus ihren Häusern geflüchtet mitsamt ihren Familien und wohnen zum Großteil jetzt in Büros, wohnen in Einrichtungen, die wir vorher geschlossen haben, weil es zu unsicher wurde. Aber wie gesagt, die Lage in Aleppo verändert sich so schnell, dass ein Teil, der vorher sicher war, jetzt unsicher ist, und umgekehrt.
Simon: So, wie Sie das schildern – es gibt ja Hunderttausende von Kindern, die in Aleppo noch leben. Ist da irgendwas noch normal für die?
Ebel: Das glaube ich nicht. Ich glaube, dass keines dieser Kinder noch wirklich ruhig schlafen kann. Ich denke, Kinder sind sehr stark – einer unserer Mitarbeiter erzählte mir zum Beispiel neulich, seine Tochter ist sechs Jahre alt, und bis vor Kurzem kam sie mit der Situation eigentlich ganz gut klar, bis dann ungefähr vor einem Monat eine Bombe neben dem Kindergarten hoch ging. Und er sagt, seitdem ist bei ihr kein Halten mehr, wenn sie auch nur das Geräusch hört. Die haben täglich die Situation, dass sie im Korridor auf dem Boden liegen samt den Nachbarn, um sich vor Raketen und Bomben zu schützen und vor Beschuss, und das trifft die Kinder natürlich extrem, also auch auf lange Sicht.
"Kinder gehen in die Schule, wenn es die Sicherheitslage zulässt"
Simon: Gehen die Kinder noch zur Schule in Aleppo?
Ebel: Manche. Sie gehen in die Schule, wenn die Schule nicht zerstört ist, und sie gehen in die Schule, wenn die Sicherheitslage es zulässt. Aber Sie können sich denken, dass das sehr, sehr unregelmäßig ist. Und man hat auch leider Scharfschützen, die auch auf Kinder schießen, auch auf dem Schulweg.
Simon: Manche der Kinder oder die meisten der Kinder haben ja noch Familie. Aber Familie ist ja nach fünf Jahren Bürgerkrieg auch nicht mehr das, was sie vor dem Krieg war. Wie sehr sind die Kinder in diesen umkämpften Gebieten – es ist ja nicht nur Aleppo, es sind ja viele Gebiete in Syrien umkämpft, auf sich selbst gestellt?
Ebel: Viele verlieren zwischendurch ihre Familien. Das heißt, sie sind entweder auf der Flucht, oder sie haben ein Elternteil verloren. Teilweise leben sie auf der Straße, und sie kommen dann zu uns, durch Behörden zum Beispiel, und wir versuchen dann, diese Kinder wieder mit ihren Eltern zu vereinen beziehungsweise Eltern ausfindig zu machen oder Angehörige. Viele Kinder arbeiten mittlerweile, um zum Familieneinkommen irgendwie beitragen zu können. Es ist für alle eine extrem schwierige Situation, und für niemanden vor allem aus Aleppo gibt es, glaube ich, noch einen normalen Alltag. Und gerade bei Kindern ist das, glaube ich, sehr nachhaltig, diese Erfahrung.
Simon: Frau Ebel, wir sprechen hier in Deutschland im Zusammenhang mit Flüchtlingen und deren Fluchterlebnissen viel von Traumatisierung. Die Kinder und die Erwachsenen in Aleppo werden, falls sie überleben, wohl nie eine Traumabehandlung bekommen. Aber wenn ich Sie höre, bräuchten die eigentlich alle eine, oder?
Ebel: Viele sind erstaunlich widerstandsfähig, aber die Kinder, die wir auch in den Übergangsunterkünften bei uns aufnehmen oder auch im Kinderdorf – viele sind sehr anders. Also viele haben einen absoluten Vertrauensverlust, viele schrecken bei jedem Geräusch zusammen. Wir verbringen sehr viel Zeit damit, denen ein Sicherheitsgefühl wiederzugeben und damit irgendwo auch ein normales Leben. Aber das kostet sehr viel Zeit, es braucht sehr viele Psychologen, und es geht leider auch nicht von heute auf morgen. Für manche wird es funktionieren, die werden in Zukunft ein normales Leben führen können. Bei einigen wird es sicherlich nicht so sein.
"Was die Leute brauchen, ist ein lang anhaltender Waffenstillstand"
Simon: Frau Ebel, Sie kennen die Lage vor Ort. Wie sehen Sie es: Ist eine Luftbrücke, eine humanitäre, wie jetzt vorgeschlagen vom deutschen Außenminister Steinmeier für Aleppo, ist das realistisch? Können Sie sich vorstellen, dass das in absehbarer Zeit zustande kommt?
Ebel: Ich glaube, das ist ähnlich wie mit Ihrer ersten Frage. Wenn die kriegsführenden Parteien beide leiden, dann haben sie sicherlich ein Interesse daran. Ob sie jetzt das Interesse daran haben, kann ich ehrlich gesagt nicht wirklich beantworten. Die Korridore waren sehr schwierig, bei der Luftbrücke könnte ich mir vorstellen, dass es teilweise funktionieren kann, aber das, was diese Luftbrücke bewirken kann, ist natürlich auch nur minimal. Was die Leute brauchen, ist ein lang anhaltender Waffenstillstand und vor allen Dingen auch Frieden.
Simon: Katharina Ebel koordiniert für die SOS-Kinderdörfer die Hilfe für Syrien. Frau Ebel, vielen Dank für das Gespräch und alles Gute!
Ebel: Sehr gern. Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.