"Auf geht’s!" rufen die Demonstranten im Chater Garden im Hongkonger Stadtteil Central und "Weitermachen!". Immer wieder erklingt auch der kantonesische Spruch "Gaa jau!", der so viel bedeutet wie "Gas geben!" oder "Loslegen!". Dieser Schlachtruf hat sich in den vergangenen Wochen zu einer Art inoffiziellem Motto der Hongkonger Massenproteste entwickelt. Der kleine Park liegt unmittelbar im Hongkonger Finanzviertel, eingerahmt von riesigen Hochhäusern.
Protest-Teilnehmerin Pamela geht seit Anfang Juni auf die Straßen, erzählt sie. Die 33-Jährige ist mit einigen Freundinnen zur Demo im Schatten der Bank-Hochhäuser gekommen.
"Wir erleben, wie unsere neue Kolonialmacht China immer stärker Kontrolle ausübt auf Hongkong. Und deswegen nutzen wir die Gelegenheit und protestieren hier auch für Demokratie und gegen die autoritären Machthaber."
Das Auslieferungsgesetz und die Folgen
Dass die Massenproteste in der chinesischen Sonderverwaltungsregion bald enden, ist unwahrscheinlich. Und das, obwohl Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam inzwischen den eigentlichen Grund für die Demonstrationen offiziell abgeräumt hat. Am 4. September, also fast drei Monate nach Beginn der Proteste, wandte sich Regierungschefin Carrie Lam mit einer aufgezeichneten Ansprache an die Menschen in Hongkong. In beiden Amtssprachen der früheren britischen Kolonie - also auf Kantonesisch und Englisch - erklärte sie sich bereit, ein von weiten Teilen der Bevölkerung abgelehntes neues Auslieferungsgesetz formell aus dem parlamentarischen Verfahren zurückzuziehen.
Das Gesetz hätte es möglich gemacht, Menschen aus dem autonom und rechtsstaatlich regierten Hongkong nach Festlandchina abzuschieben. Dort gibt es weder Gewaltenteilung noch Rechtsstaatlichkeit. Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte unterstehen direkt der kommunistischen Parteiführung in Peking. Entsprechend machte die Angst auf eine mögliche Auslieferung nach Festlandchina vielen Hongkongern Angst. Zwar hatte Lam das Gesetz bereits Anfang Juli für "tot" erklärt, doch es formell zurückzunehmen, hatte die 62- Jährige bis dahin abgelehnt.
Nun also erklärte die von Chinas Staats- und Parteiführung eingesetzte Verwaltungschefin, ihre Regierung werde das Gesetzesvorhaben formell zurückziehen, um die Sorgen der Bevölkerung vollständig zu entkräften. Auch kündigte sie an, in den Dialog mit der Protestbewegung treten zu wollen. Konflikte müssten durch Gespräche ersetzt werden. Weitere Provokationen und Gewalt von Seiten der Demonstrantinnen und Demonstranten brächten Hongkong hingegen in eine gefährliche Situation, warnte die Regierungschefin.
Bereits kurz nach Carrie Lams Video-Nachricht äußerten sich Vertreter der Protestbewegung jedoch ablehnend. Zu spät komme die Rücknahme des umstrittenen Gesetzes und das Ganze gehe auch längst nicht weit genug. Der pro-demokratische Aktivist und frühere Hongkonger Parlamentsabgeordnete Nathan Law sagte dem britischen Sender BBC:
"Die Bewegung hat sich weiterentwickelt. Wir kämpfen nun auch für Autonomie, Demokratie und dafür, dass wir unseren gewohnten Lebensstil weiterverfolgen können in Hongkong. Und: Wir wollen die Befugnisse der Polizei beschränken. Die Proteste werden deswegen weitergehen."
Fünf zentrale Forderungen haben die Anhängerinnen und Anhänger der Protestbewegung an die Hongkonger Regierung gestellt. Viele davon sind nach Ansicht von Beobachtern unrealistisch: aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit oder ganz einfach, wenn man die politischen Realitäten betrachtet.
Unerfüllte Forderungen
Fest steht jedenfalls: Erst eine der fünf Forderungen ist mit der Rücknahme des Auslieferungsgesetzes erfüllt. Es bleiben also noch vier weitere Forderungen, skandieren die Demonstranten seit einigen Tagen immer wieder.
Diese vier verbliebenen Forderungen sind:
- Alle im Zuge der Proteste Festgenommenen sollen freikommen.
- Die Regierung soll aufhören, die Proteste als Ausschreitungen zu bezeichnen.
- Eine unabhängige Kommission soll die in den vergangenen Wochen bekannt gewordenen Fälle von Polizeigewalt untersuchen.
Und:
- In Hongkong sollen vollständig freie Wahlen stattfinden.
- Die Regierung soll aufhören, die Proteste als Ausschreitungen zu bezeichnen.
- Eine unabhängige Kommission soll die in den vergangenen Wochen bekannt gewordenen Fälle von Polizeigewalt untersuchen.
Und:
- In Hongkong sollen vollständig freie Wahlen stattfinden.
Vor allem die letzte dieser Kernforderungen stellt das bisherige politische System Hongkongs grundlegend in Frage. Bisher wird nur ein Teil des Parlaments der autonom regierten Stadt frei gewählt. Und die Regierungschefs werden de facto von der chinesischen Staats- und Parteiführung eingesetzt. Die Führung in Peking hat natürlich kein Interesse, daran etwas zu ändern.
Willy Lam, Politologe am Zentrum für Chinastudien der Chinese University of Hong Kong. Er nennt das, was gerade in Hongkong passiert, ein kolossales Aufeinanderprallen zweier Ideologien - eine Konfrontation von Jahrhundertrang. Längst gehe es den Demonstranten ums große Ganze. Um die Zukunft der früheren britischen Kolonie also, die zwar seit 22 Jahren nach dem Prinzip "Ein Land, zwei Systeme" autonom regiert wird, die aber, so Willy Lam, immer stärker unter den Druck der kommunistischen Staats- und Parteiführung in Peking gerate.
"Hongkong ist ein Teil Chinas, einem äußerst autoritären Staat also, in dem es keinerlei Demokratie und Bürgerrechte gibt. Aber: Hongkong ist als Sonderverwaltungsregion autonom und genießt deswegen weitreichende Autonomierechte wie Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit und so weiter. Chinas Staatschef Xi Jinping allerdings greift seit seinem Machtantritt vor fast sieben Jahren die Hongkonger Autonomie an - konsequent und unerbittlich."
Tatsächlich hat sich Chinas Staats- und Parteiführung in den vergangenen Jahren massiv eingemischt in die Belange der autonom regierten Stadt. So nahm sie immer wieder Einfluss auf Lehrpläne und die Kulturszene: Kritisches Denken soll den Hongkongern offensichtlich ausgetrieben werden. Sie ließ außerdem ungenehme Buchhändler und Geschäftsleute verschleppen und pro-demokratische Abgeordnete aus dem Hongkonger Parlament werfen. Zudem sorgte die Führung in Peking mit mehreren umstrittenen Infrastrukturprojekten dafür, dass die Hongkonger Regierung Milliarden Euro für eine dutzende Kilometer lange Meeresbrücke und eine Schnellbahn-Trasse ausgeben musste, statt das Geld in Bildung und Armutsbekämpfung zu stecken.
Im 28. Stockwerk eines der Hochhäuser im Hongkonger Zentrum befindet sich das Büro von Kevin Lai. Er ist Chef-Ökonom der japanischen Investmentbank Daiwa Capital Markets in Hongkong.
Misstrauen gegenüber den Einsatzkräften sitzt tief
Eine nie dagewesene politische Krise spiele sich in Hongkong gerade ab, sagt Kevin Lai. So etwas habe er während seiner 25-jährigen Karriere in der Finanzmetropole noch nicht erlebt. Die derzeitigen Proteste seien nochmal deutlich größer und umfänglicher als die sogenannten Regenschirm-Proteste, bei denen vor fünf Jahren vor allem Studierende wochenlang für mehr Demokratie in Hongkong auf die Straßen gingen.
"Die jetzige Bewegung bringt auch Vertreter der Hongkonger Mittelschicht auf die Straße. Das sind nun also ganz andere Teilnehmer als vor fünf Jahren. Dieses Mal kommen auch ältere Leute ... mit grauen Haaren. Und auch viele Banker, Angestellte, Juristen und so weiter machen mit. Das hier ist nun also weit mehr als eine reine Studentenbewegung."
Kevin Lai macht keinen Hehl daraus, dass auch er inhaltlich mit einigen der Forderungen der Demonstranten sympathisiert. Das gelte für viele Geschäftsleute in seinem Umfeld.
"Selbst viele Geschäftsleute, die eigentlich der Zentral-Regierung in Peking nahestehen, machen sich inzwischen so ihre Gedanken. Um die Krise einzugrenzen, sollte die Hongkonger Regierung zumindest das Vorgehen der Polizei in den vergangenen Wochen untersuchen lassen."
Das umstrittene Vorgehen der Polizei von einem unabhängigen Gremium untersuchen zu lassen, ist eine der Kernforderungen der Demonstranten. Denn das Misstrauen vieler Hongkonger gegenüber den Einsatzkräften sitzt tief.
Sie verweisen zum Beispiel auf einen Vorfall vom 31. August, der sich im Stadtteil Kowloon ereignete, in einer U-Bahn-Station. Diese Szene wurde von Umstehenden per Smartphone gefilmt und ins Internet gestellt, unter anderem vom Hongkonger Reporter Pakkin Leung. Zu sehen ist, wie ein gutes Dutzend Polizisten in Kampfmontur einen Bahnsteig in der Metro-Station abriegelt. Die Polizisten schnappen sich zunächst wahllos Passagiere, die auf dem Bahnsteig unterwegs sind. Dann sprühen sie aus kurzer Distanz Pfefferspray in die Waggons, stürmen diese schließlich und prügeln mit äußerster Wucht mit ihren Schlagstöcken auf Frauen und Männer ein, die in den Waggons sitzen.
Es sind äußerst verstörende Video-Aufnahmen. Sie sind seit dem Vorfall am 31. August eines der Top-Gesprächsthemen in Hongkong. Die Reaktionen der Menschen schwanken zwischen Entsetzen, Trauer und Wut.
Polizei reagiert oft mit Pfefferspray und Tränengas
Immerhin: Die Pressefreiheit ist noch intakt in der autonom regierten Stadt. So sind diese und viele ähnliche Aufnahmen in den vergangenen Wochen an die Öffentlichkeit geraten. Die Zivilgesellschaft funktioniere noch, betonen viele Hongkonger stolz.
Nach einer Befragung unterstützen inzwischen fast 80 Prozent der Hongkonger eine unabhängige Untersuchung der Polizeigewalt der vergangenen Wochen. Regierungschefin Carrie Lam lehnt das weiterhin ab. Ihrer Ansicht nach genügen die bestehenden internen Prüf- und Kontrollmechanismen der Hongkonger Verwaltung. In den vergangenen Wochen verteidigte Carrie Lam die Polizeikräfte auch immer wieder ausdrücklich.
"Der Polizei fällt es seit zwei Monaten sehr schwer, Recht und Ordnung in Hongkong aufrecht zu erhalten und durchzusetzen. Offensichtlich arbeitet unsere Polizei derzeit unter sehr schwierigen Bedingungen. Außenstehende – mich eingeschlossen – können Polizeieinsätze nicht beurteilen. Schon gar nicht in solch besonderen Situationen, wenn Polizisten Entscheidungen vor Ort treffen müssen, um die Menschen in der Umgebung zu schützen." Die von Chinas Staats- und Parteiführung eingesetzte Regierung der Stadt sieht die Schuld für eine Zunahme der Gewalt klar bei den Demonstrantinnen und Demonstranten. Die Protestierenden seien es, von denen die Gewalt ausgehe. Und tatsächlich gibt es unter den weit mehr als einer Million Menschen, die in den vergangenen Wochen gegen den Kurs der Regierung auf die Straßen gegangen sind, einen harten Kern von Gewaltbereiten. Sie treten vor allem nach den friedlichen Demos in Erscheinung.
Eine abendliche Szene im zentralen Hongkonger Stadtteil Wan Chai. Rund 50 Vermummte haben eine vierspurige Straße blockiert. An einer Straßenbahn-Haltestelle reißen sie Metall-Begrenzungszäune aus den Verankerungen. Aus diesen Zäunen, riesigen Bambusstangen und Müllcontainern errichten die Frauen und Männer in Windeseile Straßensperren. Beim Errichten von Straßensperren bleibt es allerdings meistens nicht. Vor allem an den vergangenen Wochenenden haben die radikalen Protestierer immer wieder auch die direkte Konfrontation mit der Polizei gesucht. Mit Baseballschlägern, Steinschleudern und seit kurzem auch Brandsätzen gehen sie auf die Einsatzkräfte los. Die Hongkonger Polizei reagiert oft mit Pfefferspray und vor allem Tränengas. Das wiederum verletzt regelmäßig auch Unbeteiligte: friedliche Demonstranten, Anwohner. Passanten und Journalisten etwa.
Verantwortlich für die Eskalation seien letztlich Carrie Lam, ihre Hongkonger Regierung sowie die chinesische Führung in Peking, sagt der 30-Jährige, der seinen Namen nicht nennen will.
"Ganz ehrlich. Wenn die das Auslieferungsgesetz schon im Juni zurückgezogen hätten, wäre das alles nicht passiert. Die Leute hier haben einfach genug."
Ausweg aus der Lage ist derzeit nicht absehbar
Straßenschlachten, sich mit Polizisten prügelnde Demonstranten und brennende Barrikaden: Zuletzt ist die Lage in Hongkong immer wieder eskaliert. Chinas Staats- und Parteiführung macht sich das zu Nutze. Die allesamt staatlich kontrollierten Medien Chinas berichten mit Blick auf die Proteste ausschließlich über Ausschreitungen und Gewalt. Sie stellen Hongkong als eine Stadt dar, die im Chaos zu versinken droht.
Dass das nicht der Fall ist und dass eine große Mehrheit der Menschen in Hongkong nach wie vor absolut friedlich gegen den Kurs der Regierung demonstriert, erwähnen die Medien in Festlandchina mit keinem Wort. Schon gar nicht sprechen sie über die Auslöser der Demonstrationen. Ein Fernsehsprecher des chinesischen Hauptnachrichtensenders CCTV:
"In den vergangenen Tagen hat der Mob in Hongkong erneut extreme Gewalt angewendet. Die Staats- und Parteiführung verurteilt das und kommt zu dem Schluss, dass die extreme Gewalt in Hongkong inzwischen Formen des Terrorismus annimmt."
Ein Ausweg aus der Lage ist derzeit nicht absehbar. Im Gegenteil. Immer häufiger verbietet die von Pekings Führung abhängige Hongkonger Regierung inzwischen Demonstrationen. Dadurch werden alle, die trotzdem auf die Straßen gehen, automatisch kriminalisiert.
Der Politologe Willy Lam:
"Wir werden erleben, dass noch mehr Protestierer festgenommen und vor Gericht gestellt werden: wegen 'Aufruhrs'. Das ist ein schwerwiegendes Verbrechen, darauf stehen mehrere Jahre Gefängnis.
Die Lösung für das Hongkong-Problem liegt bei Xi Jinping und der Staats- und Parteiführung. Wenn diese willens ist, den Konflikt friedlich beizulegen, braucht sie Carrie Lam und die Hongkonger Verwaltung einfach nur anzuweisen, auf die Demonstranten zuzugehen. Sie könnten zum Beispiel einen Dialog über die Frage starten, wie das politische System Hongkongs demokratisiert werden kann. Die Wahrscheinlichkeit, dass Peking mit der Pro-Demokratiebewegung sprechen will, ist allerdings nicht besonders groß."
Und das ist noch sehr vorsichtig formuliert. Aus Sicht der meisten politischen Beobachter ist es undenkbar, dass Chinas Staats- und Parteiführung auf die Demonstranten in Hongkong zugeht. Denn in der Genetik der Kommunistischen Partei Chinas seien Kompromisse und Entgegenkommen ganz einfach nicht vorgesehen. Die einzigen Werkzeuge, die Chinas Führung zur Verfügung habe, seien Kompromisslosigkeit, Unterdrückung und Gewalt, lautet ein weit verbreitetes Argument.
"Ich bin ein Hongkonger"
Ende August traf sich Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam mit internationalen Wirtschaftsvertretern, um über die Krise in der autonom regierten Stadt zu sprechen. Das Treffen war eigentlich als vertraulicher Gedankenaustausch geplant - doch mindestens einer oder eine am Tisch nahm das Gespräch auf und schickte es der Nachrichtenagentur Reuters. Die veröffentlichte den Tonmitschnitt – und der hat es in sich. Denn Carrie Lam räumte in dem Gespräch ein, dass selbst sie, die Regierungschefin, nicht davon ausgehe, dass sie noch irgendetwas Wichtiges zu melden habe in Hongkong.
"Viele Leute vertrauen darauf, dass ich eine Lösung für diese Krise habe, eine politische. Ich muss Ihnen aber sagen, dass genau dies die Krux an der Sache ist: Sobald ein Problem in Hongkong ein nationales Level erreicht hat, sobald es um Souveränität und Sicherheitsfragen geht, sind die politischen Spielräume für die Regierungschefin sehr, sehr, sehr beschränkt."
Ein kleiner Demonstrationszug an einem verregneten Sonntagnachmittag Ende August. Ein sichtlich aufgebrachter Gordon Poon fuchtelt mit einer schwarzen Jutetasche herum.
Der frühere Banker und heutige Kolumnist liest vor, mit welchem Spruch die Tasche bedruckt ist: "Ich bin ein Hongkonger. I believe that is German. Das Zitat ist eine Anlehnung an John F. Kennedys 'Ich bin ein Berliner' aus seiner Rede in Westberlin 1963. Heute ist Hongkong Westberlin! Denn heute sind es die Menschen in Hongkong, deren Freiheit gefährdet ist. Und so lange ein einziger unter uns nicht frei ist – so lange sind alle anderen auch nicht frei."