"Die Jugendlichen sagen, sie haben nichts zu verlieren und sind sogar bereit zu sterben. Das ist sehr hart für eine Frau wie mich zu hören, die Kinder und Enkel hat, die mitdemonstrieren."
Menschenrechtsaktivistin Yanette Bautista macht sich große Sorgen – zurecht. Straßenschlachten zwischen wütenden, teils Steine werfenden Demonstranten, Straßensperren und martialisch anmutende Polizeikräfte, die mit brutaler Härte agieren: Solche Szenen spielen sich derzeit fast täglich in Kolumbien ab.
Unmut der Massen
Am 28. April begannen ein Generalstreik und Proteste, deren Ende auch jetzt mehr als vierzig Tage und zahlreiche Tote später nicht absehbar ist. Regierung und die im Streikkomitee organisierten Gewerkschafts- und Indigenen Verbände konnten sich trotz zahlreicher Vorgespräche noch nicht auf formelle Verhandlungen verständigen. Ein Dialog mit den unzähligen basisdemokratischen Protestgruppierungen findet allenfalls auf lokaler Ebene statt. Für heute hat die Protestbewegung zur "Toma de Bogotá", zur Einnahme der kolumbianischen Hauptstadt aufgerufen.
Auslöser für den Unmut der Massen war eine Steuerreform. Kolumbiens Präsident Iván Duque: "Es gab auch viel Desinformation. Als ich gesehen habe, dass die Reform genutzt wurde, um den Hass der Bürger zu schüren, habe ich es vorgezogen, die Steuerreform zurückzuziehen und einen neuen Kompromiss mit den politischen Kräften im Land zu suchen. Das Ziel dieser Reform war es freilich, 50 % der Ärmsten in Kolumbien ein Einkommen zu garantieren, die extreme Armut binnen drei Jahren abzuschaffen und ein einzigartiges Programm sozialen Wandels in Kolumbien aufzulegen."
Was Duque verschweigt: Belastet werden sollten fast ausschließlich die Mittelschicht und indirekt über den Wegfall von Mehrwertsteuervergünstigungen auch die pandemiegebeutelten Ärmsten im Land. Gleichzeitig sind für Unternehmen große Summen an Pandemiehilfen geflossen. Die Banken des Landes haben Rekordgewinne geschrieben.
Die Steuerreform wurde zurückgezogen, der Finanzminister und später die Außenministerin sowie der Friedensbeauftragte der Regierung traten zurück, aber die Proteste und Blockaden im Land blieben. Weshalb gehen die Menschen – wie dieser junge Mann – weiter auf die Straße? "Damit Kolumbien kein Land ist, in dem elf Prozent der Bevölkerung 90 Prozent der Ländereien besitzen, und kein Land, in dem Menschen nur ein Mal am Tag essen können, wenn sie Glück haben."
Die Armut wächst
Die Pandemie hat die soziale Kluft vergrößert. Die Wirtschaft ist letztes Jahr um mehr als sechs Prozent eingebrochen. Die Armutsquote stieg sprunghaft auf über 42 Prozent der Bevölkerung, die Arbeitslosigkeit explodierte, viele Familien haben einfach nicht mehr genug zu essen. Bei einer Gesamtbevölkerung von 50 Millionen Menschen verzeichnet Kolumbien mehr als 92.000 Corona-Tote. Die Intensivbetten der Krankenhäuser sind fast komplett belegt, die Impfkampagne läuft schleppend: Auch das Corona Management der Regierung gibt Anlass zum Protest.
Darüber hinaus haben ein zögerlich umgesetzter Friedensprozess mit der Guerillagruppe FARC und fehlende Sozialreformen, die soziale Belastung durch 1,8 Millionen Flüchtlinge aus dem Nachbarland Venezuela, eine geplante weitere Privatisierung des Gesundheitswesens die Spannungen verschärft.
"Ich denke das grundsätzliche Problem im Land ist die herrschende Ungleichheit. Die soziale Ungleichheit, dass viele Leute das Gefühl haben, nicht an dem wirtschaftlichen Aufschwung, den es zweifellos in den letzten Jahren gegeben hat im Land, teilhaben zu können. Dieses Gefühl der mangelnden Teilhabe muss überwunden werden. Dazu sind Reformen notwendig", glaubt Ralf Leiteritz (*), Professor für Internationale Beziehungen an der Universidad del Rosario in Bogotá.
Forderung nach Teilhabe und Reformen
Seit Jahren fordern Gewerkschaften, Indigenen Verbände und andere Aktivisten mehr Teilhabe und Reformen. Bereits vor der Pandemie, im November 2019, gab es Proteste und Blockaden; wochenlang war die Panamericana, die große transnationale Verbindungsstraße nach Ecuador blockiert. Wenig von den damaligen Zugeständnissen an die Indigenen und afrokolumbianischen Gruppierungen hat die Regierung umgesetzt auch infolge der Pandemie. Auch jetzt hatten die verschiedenen Protestgruppierungen, aber auch Kriminelle, überall im Land Straßensperren errichtet. Die Regierung ließ sie teils mit Militärgewalt räumen. Unter Vermittlung der Kirche und der Vereinten Nationen fanden zwischen dem sogenannten Streikkomitee und der Regierung zahlreiche Gespräche statt. Die hat das Streikkomitee am Sonntag bis auf weiteres suspendiert.
"Das sorgt für große Verunsicherung und ein Klima frustrierter Erwartungen, vor allem bei jungen Menschen und notleidenden Gesellschaftsgruppen, die dringend eine Lösung wie das Grundeinkommen für ihre Notlage brauchen. Das sind Menschen, die auf die Straße gehen, damit grundlegende soziale Probleme gelöst werden – wie etwa die Studenten. Wir wissen nicht, wie die Antwort auf den Forderungskatalog jetzt ausfallen wird."
Monsenor Hector Fabio Henao macht aus seiner Enttäuschung keinen Hehl. Der Direktor der Pastoral Social, der karitativen Einrichtung der kolumbianischen Bischofskonferenz, vermittelt im Konflikt. Sein Zweck-Optimismus verfliegt immer mehr. Währenddessen schieben sich die Regierung und das Streitkomitee gegenseitig die Schuld für das Scheitern der formellen Verhandlungen zu. Die Aufhebung aller Blockaden fordert die Regierung, Entmilitarisierung und Garantien für friedliche Proteste verlangen indes die Vertreter des Streikkomitees.
Dessen Sprecher, Francisco Maltes, Präsident des Gewerkschaftsverbandes CUT: "Die Regierung hat bei unserem ursprünglichen und beim jetzigen Not-Forderungskatalog auf Verzögerung gesetzt. Die Frage ist doch, wann unterzeichnet die Regierung das Vor-Abkommen, damit die Verhandlungen über den Katalog mit den drängendsten Forderungen formal beginnen können? Seit dem 20. Juni vergangenen Jahres liegt der Forderungskatalog auf dem Schreibtisch des Präsidenten. Die Verantwortung für die Suspendierung liegt also beim Präsidenten."
Straßensperren als Druckmittel
Doch der weigert sich mit den Verhandlungen zu beginnen. Obwohl auch seit dem 24. Mai bereits eine Agenda für Verhandlungen bei den aktuellen Gesprächen vereinbart wurde. Zuvor müssten sämtliche Blockaden im Land beendet werden, fordert Präsident Iván Duque. Zwar haben das Streikkomitee und örtliche Gruppierungen einige Sperren aufgehoben und humanitäre Korridore für die Versorgung dringend benötigter Güter wie Medikamente und Lebensmittel ermöglicht. Doch andere Straßensperren bleiben eines ihrer wenigen Druckmittel. Die Regierung setzt hingegen darauf, diese Straßensperren durch Sicherheitskräfte gewaltsam räumen zu lassen.
Außerdem geht sie hart gegen die Protestierenden vor und bezeichnet sie immer wieder als Terroristen. Präsident Duque betont zwar, dass es Aufgabe der Nationalen Polizei sei, friedliche Proteste zu schützen, aber: "Wenn jedoch Gewalt im Spiel ist, es zu Vandalismus und urbanem Terrorismus unterschiedlicher Intensität kommt, muss die Polizei der Verfassung Recht Respekt verschaffen."
Kritik an Militarisierung
Diese Linie verfolgt Präsident Duque in letzter Konsequenz. Mit dem Dekret 575 hat er Ende Mai acht Provinzen und zahlreichen Gemeinden auch das Militär zur Seite gestellt. Der Lateinamerikaexperte und stellvertretende Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik Günther Maihold: "Die erfolgte Militarisierung in Teilen des Landes ist ein klarer Hinweis darauf, dass die Regierung versucht, mit repressiven Methoden einen schnellen Erfolg zu erringen, um sicherzustellen, dass die Versorgungslage in den entsprechenden Landesteilen wiederhergestellt wird und die Blockaden aufgelöst werden."
Genau diese Militarisierung sei der falsche Schritt und führe zur Eskalation der Gewalt, sagen indes Vertreter des Streikkomitees. Natürlich steht es außer Frage, dass Radikale die Demonstrationen unterwandert haben, dass randaliert und geplündert wurde. Demonstranten, Reporter und Fotografen wie David Villegas haben jedoch auch andere beunruhigende Beobachtungen gemacht: "Sicherheitskräfte sind in Zivil aufgetreten. Das bedeutet, die Proteste wurden unterwandert, es wurde auch beobachtet, wie Polizisten mit einer Gruppe, die wie Zivilisten aussah, sprach. Die haben dann provoziert. Und es wurde beobachtet, wie bewaffnete Zivilisten aus Polizeiwagen gestiegen sind."
Zwar ist die Regierung für Übergriffe der dem Verteidigungsministerium unterstehenden Polizei sensibler geworden. Sie hat nach anfänglichem Zögern jetzt auch die Interamerikanische Menschenrechtskommission ins Land gelassen, um die Vorfälle von unabhängiger Stelle untersuchen zu lassen. Infolge der Militarisierung wächst jedoch jetzt bei Menschenrechtsaktivisten wie Yanette Bautista die Sorge vor weiteren Gewaltexzesse der Staatsmacht.
"Wir fürchten, dass noch mehr Menschen massakriert werden, rund 120 Personen sind verschwunden, tausende wurden willkürlich festgenommen, es wird von Folter berichtet, Angriffe auf Leute, die den Streik unterstützen, sind sehr häufig."
Yanette Bautista hat wie viele Kolumbianer das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen verloren. Ihre eigene Schwester, eine linke Aktivistin, ist vor Jahrzehnten spurlos verschwunden. Seitdem hilft Yanette Bautista mit der nach ihrer Schwester benannten Stiftung, das Schicksal Verschollener aufzuklären.
Tote, Verletzte, Festgenommene
In den letzten Tagen hat Yanette Bautista mehr zu tun als ihr lieb ist. Selbst nach Angaben der Staatsanwaltschaft gelten immer noch 91 Menschen als vermisst. Das Streikkomitee sprach Anfang der Woche von 77 Todesopfern und 1.246 Verletzten, mehr als 2.800 Festgenommenen. Mehr als hundert Frauen sollen über sexuelle Belästigung durch Sicherheitskräfte geklagt haben und 74 Personen sollen ein Auge verloren haben, da die Polizei statt Gummigeschossen Glaskugeln benutzt haben soll, wie Augenzeugen berichten.
Andere, vor allem Regierungsquellen, sprechen von weniger Opfern. Die Staatsanwaltschaft der Nation untersucht aktuell 18 Todesfälle im Zusammenhang mit den Protesten und hat 80 Disziplinarverfahren eingeleitet. Gleichzeitig berichtet Sie, 261 als verschwunden gemeldete Personen gefunden zu haben.
Selbst ein einziger Toter ist einer zu viel, hat auch Präsident Duque gesagt und eine Reform der Polizeikräfte angekündigt. Die unterstehen in Kolumbien dem Verteidigungsministerium. Die Reform der Polizeikräfte soll ein neues Disziplinarstatut und eine Struktur der Sicherheitskräfte beinhalten, bei denen die Einhaltung der Menschenrechte im Vordergrund stehe.
"Nur Kosmetik"
Wieder einmal ist der Präsident vorgeprescht, ohne auf Kräfte der Opposition oder Protestbewegung zuzugehen. Bereits als er angekündigt hatte, Beschäftigungsmaßnahmen für die Jugend auf den Weg zu bringen und einen Teil der Studiengebühren an staatlichen Universitäten aufzuheben, hatte der Präsident einsame Entscheidungen gefällt. Die Regierung werfe Nebelkerzen mit der Polizeireform.
Die sei nur Kosmetik, kritisiert Menschenrechtsaktivistin Yanette Bautista: "Die Ankündigung kommt just zu dem Zeitpunkt, da sich die Interamerikanische Menschenrechtskommission für vier Tage im Land aufhält, um Menschenrechtsverletzungen in Gesprächen mit Opfern, der Regierung und Vertretern der Zivilgesellschaft aufzuklären. Eine der Maßnahmen der Polizeireform ist der Wechsel der Uniformen von grün zu blau. Aber eine neue Uniform ändert noch nicht die Ideologie der Polizei."
Polizei und Militär stehen auch immer wieder in der Kritik, gemeinsame Sache mit Drogenkartellen und paramilitärischen kriminellen Banden zu machen. Die afrokolumbianische Aktivistin und Vor-Präsidentschaftskandidatin Francia Marquez aus der Gegend Cauca im Südwesten, wo das Epizentrum der Proteste liegt.
"Es gibt Verträge über private Sicherheit zwischen der Armee und einigen der großen Multinationalen Firmen. Das unterstreicht die Verbindung zwischen dem bewaffneten Konflikt und den Gewaltakten, dem Verbrechen, um es beim Namen zu nennen."
Fakt ist: Vor allem in der Gegend Cauca, aber auch andere Regionen, wo früher die FARC Guerilla die Kontrolle hatte, ist ein Machtvakuum entstanden, in dem sich bewaffnete Gruppen tummeln: Von rechtsgerichteten Paramilitärs, über kriminelle Banden bis hin zur ELN- Guerilla und Dissidenten der FARC, die auch um das lukrative Drogengeschäft konkurrieren. Der Politikwissenschaftler Leiteritz (*) ist überzeugt, dass auch sie eine wichtige Rolle bei dem Konflikt spielen: "Die aktuellen Proteste richten sich vor allem auch gegen die weitverbreitete Korruption im Land, die wiederum mit dem Drogenhandel in enger Weise zu tun hat."
Die Spirale der Gewalt dreht sich wieder schneller in Kolumbien. Und das obwohl die Unterzeichnung des Friedensabkommens mit der FARC Guerilla 2016 nach mehr als fünf Jahrzehnten des Konfliktes Hoffnung auf eine bessere Zukunft genährt hatte, aber die Regierung um Präsident Duque habe wichtige Teile des Friedensabkommens nicht eingehalten, merkt die Leiterin des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kolumbien, Kristina Birke-Daniels an:
"Was mir sofort einfällt ist die kleine Agrarreform, die fast überhaupt nicht vorangekommen ist, und das Zweite sind die monetären Ausgleiche dafür, dass viele Familien freiwillig ihre Kokapflanzen vernichtet haben. Stattdessen besprüht die Regierung jetzt wieder mit Glyphosat. Und das Dritte ist, dass Duque seit Amtsantritt versucht hat, die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden, also Teil der Übergangsjustiz, abzuschaffen."
Hinzukommt, dass eine regelrechte Hetzjagd im Gang ist auf Menschenrechts- und Gewerkschaftsaktivisten, Indigenen Vertreter und auch frühere FARC Kämpfer, die sich reintegrieren wollten. Allein im laufenden Jahr sind nach Angaben des unabhängigen Instituts Indepaz bisher 67 Aktivisten und 25 Ex-Guerilleros ermordet worden. Auch deshalb gehen die Menschen jetzt auf die Straße. Die FARC selbst sieht sich trotz aller Rückschläge dem Frieden verpflichtet.
"Was mir sofort einfällt ist die kleine Agrarreform, die fast überhaupt nicht vorangekommen ist, und das Zweite sind die monetären Ausgleiche dafür, dass viele Familien freiwillig ihre Kokapflanzen vernichtet haben. Stattdessen besprüht die Regierung jetzt wieder mit Glyphosat. Und das Dritte ist, dass Duque seit Amtsantritt versucht hat, die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden, also Teil der Übergangsjustiz, abzuschaffen."
Hinzukommt, dass eine regelrechte Hetzjagd im Gang ist auf Menschenrechts- und Gewerkschaftsaktivisten, Indigenen Vertreter und auch frühere FARC Kämpfer, die sich reintegrieren wollten. Allein im laufenden Jahr sind nach Angaben des unabhängigen Instituts Indepaz bisher 67 Aktivisten und 25 Ex-Guerilleros ermordet worden. Auch deshalb gehen die Menschen jetzt auf die Straße. Die FARC selbst sieht sich trotz aller Rückschläge dem Frieden verpflichtet.
Victoria Sandino ehemalige Kämpferin, heute Senatorin für die FARC im Kongress: "Obwohl die Regierung das Friedensabkommen systematisch nicht umgesetzt hat, halten sich die FARC daran. Unsere Leute wissen, dass der Krieg keine Option mehr für uns ist. Deshalb arbeiten wir weiter daran, dass es in Kolumbien einen Kurswechsel und eine Regierung gibt, die dem Frieden wirklich verpflichtet ist."
Wahlen stehen vor der Tür
In ziemlich genau einem Jahr wählt Kolumbien einen neuen Präsidenten und ein neues Parlament. Doch schon jetzt erschwert die anstehende Wahl in dem tief gespaltenen Land eine Konfliktlösung. Duque darf nicht mehr antreten. Die Rechte hat sich noch nicht formiert. Im Hintergrund zieht immer noch Ex-Präsident Alvaro Uribe die Fäden und wirbt auch jetzt wieder für eine Politik der harten Hand der Sicherheitskräfte. Gleichzeitig hat Kolumbiens Linke in Anbetracht wachsender Armut und Not auch durch die Pandemie Boden gutgemacht. Der Linke Gustavo Petro von La Colombia Humana, das menschliche Kolumbien, liegt in Umfragen derzeit zwar vorne, aber, so Kristina Birke-Daniels von der Friedrich-Ebert-Stiftung Kolumbien:
"Bisher sind weder die Regierungs- noch die Oppositionsparteien in der Lage gewesen, den Protestierenden wirklich etwas Umsetzbares anzubieten. Und das zerstört das geringe Vertrauen in die Politik, was viele KolumbianerInnen traditionell haben, was sich aber im letzten Jahr dramatisch verschlechtert hat. Nur wenn sich breite Allianzen in der Gesellschaft bilden, die willens und fähig sind, wirklich konstruktiv und friedlich Vorschläge zum Gemeinwohl zu machen, dann könnte ich mir vorstellen, dass Kolumbien einen demokratischen Aufbruch erleben kann, andererseits droht eine neue Gewaltspirale."
"Bisher sind weder die Regierungs- noch die Oppositionsparteien in der Lage gewesen, den Protestierenden wirklich etwas Umsetzbares anzubieten. Und das zerstört das geringe Vertrauen in die Politik, was viele KolumbianerInnen traditionell haben, was sich aber im letzten Jahr dramatisch verschlechtert hat. Nur wenn sich breite Allianzen in der Gesellschaft bilden, die willens und fähig sind, wirklich konstruktiv und friedlich Vorschläge zum Gemeinwohl zu machen, dann könnte ich mir vorstellen, dass Kolumbien einen demokratischen Aufbruch erleben kann, andererseits droht eine neue Gewaltspirale."
Vermittler der katholischen Kirche
Diese will der Vermittler der katholischen Kirche, Monsenor Henao, auf alle Fälle verhindern. "Zunächst muss das Problem gelöst werden, dass breite Teile der Bevölkerung hungern. Das Statistikamt spricht von 20 Millionen Menschen, die weniger als eine oder nur eine Mahlzeit am Tag einnehmen. Das sagt uns, diese Familien brauchen dringend ein Einkommen, um überleben zu können. Darüber hinaus müssen Maßnahmen zur Beschäftigung der Jugend ergriffen werden. Drittens müssen die pandemiegeschädigten kleinen und mittleren Betriebe unterstützt werden, wo am meisten Beschäftigung entsteht."
Hunger und Verzweiflung treiben die Proteste weiter an. Die Menschen haben nichts mehr zu verlieren. Kolumbien ist da kein Einzelfall, meint Lateinamerikaexperte Günther Maihold von der Stiftung Wissenschaft und Politik: "Die Abkapselung der Eliten ist in vielen Ländern Lateinamerikas das zentrale Problem, um eine Verständigung insbesondere auch auf ein Reformprojekt zu ermöglichen. In Kolumbien hat sich dies in den vergangenen Jahren trotz des Friedensschlusses nicht verändert. Hier steht dem Land noch ein großer und schwieriger Prozess bevor."
* Anmerkung der Redaktion: Wir haben die Schreibweise des Gesprächspartners korrigiert.