Das "Akmolinsker Lager für Frauen von Heimatverrätern", abgekürzt "Alzhir", wurde mitten in der Steppe errichtet. Die Bäume an der Straße sind noch kahl, in den Wipfeln bauen Krähen ihre Nester. Bis auf ein paar Häuser braunes Gras, vereinzelt Tümpel, Schneereste soweit das Auge reicht. Im Winter fallen die Temperaturen auf bis zu minus 50 Grad. Direktorin Raisa Zhaksybaeva führt durch die Gedenkstätte.
"Am 3. Dezember 1937 befahlen Beria, Stalin und Jeschow, in Kasachstan dieses Frauenlager zu eröffnen. Schon einen Monat später kamen die ersten 50 Frauen mit kleinen Kindern an."
Ein Eisenbahnwaggon erinnert an die Frauentransporte. Lebensgroße Puppen liegen auf nackten Holzpritschen. In "Alzhir" waren bis zu 8.000 Frauen gleichzeitig interniert, aus allen Teilen der Sowjetunion. Aus Leningrad oder Moskau ebenso wie aus Georgien oder Usbekistan. Auch die Mutter der berühmten russischen Ballerina Maja Plisetzkaja war darunter. Fotos zeigen lange Baracken. In einer Ecke ist ein Verhör nachgestellt. Der Ermittler sitzt, breitschultrig und in Uniform, hinter einem Schreibtisch, die Frau, einen weiteren Beamten im Rücken, in Rock, Wattejacke, Kopftuch auf einem Schemel. Darüber ein Banner: "Für die Heimat, für Stalin".
"Schauen Sie, wie hoch der Stuhl ist, die Füße der Frau reichen nicht auf den Boden, nach 5, 6 Stunden Verhör musste sie in Ohnmacht fallen."
Bis zu zehn Jahre in Haft
Die Frauen mussten in "Alzhir" bis zu zehn Jahre absitzen. Ihr einziges Vergehen: Ihre Männer, Söhne, Väter oder Brüder waren beim Sowjetregime in Ungnade gefallen und als sogenannte Volksfeinde verhaftet worden. Ihre Kinder wurden den Frauen im Alter von drei Jahren abgenommen. Die Häftlinge mussten zwölf bis 14 Stunden am Tag arbeiten, unter anderem in einer Näherei. Der Hunger war groß. Wie viele von ihnen starben, ist unbekannt. Es waren viele.
Das Frauenlager Alzhir wurde 1956, 3 Jahre nach Stalins Tod, geschlossen, die Insassen rehabilitiert. Die Baracken blieben zunächst stehen. Der benachbarte Ort Akmol wuchs, Zugezogene nutzten sie als Wohnunterkünfte, ehe an ihrer Stelle Häuser gebaut wurden. Auch die Museumsdirektorin Raisa Zhaksybajewa hat in den 1980er Jahren noch in einer Häftlingsbaracke gewohnt. Sie kam als Lehrerin nach Akmol.
"Als wir noch zur Sowjetunion gehörten, war es verboten, über das Lager zu sprechen. Die Geschichte war trotzdem bekannt. Zumal in unserem Ort auch drei ehemalige Insassinnen des Lagers gelebt haben, die nach der Schließung hiergeblieben sind. Ebenso drei ehemalige Wachmänner. In der Sowjetunion wurde generell nicht über Repressionen geredet. Wir haben erst damit begonnen, als Kasachstan unabhängig wurde."
Der "Große Terror" unter Stalin
Damals, Ende der 80er Jahre, im Zuge der neuen Offenheit kamen ehemalige Insassinnen auf das Lagergelände, brachten Gegenstände, die sie aus der Gefangenschaft aufbewahrt hatten. So entstand zuerst ein kleines Museum. 2007 dann, zum 70. Jahrestag des sogenannten "Großen Terrors" unter Stalin 1937, ordnete Kasachstans Staatspräsident Nursultan Nasarbajew an, an der Stelle des Lagers mit staatlichen Geldern eine offizielle Gedenkstätte zu errichten. Ein Torbogen symbolisiert das Leid der Frauen. In große Marmorwände wurden die Namen der Häftlinge eingemeißelt. Eine Besucherin betrachtet die nahezu endlos scheinenden Namenslisten. Gulzada Kabultajewa lebt in der Hauptstadt Astana.
"Die Gedenkstätte ist bekannt. Das ist ja Teil unserer Geschichte, und wir wissen von den stalinistischen Repressionen. Unser Präsident tut viel, damit wir unsere Wurzeln nicht vergessen."
Schulklassen besuchen die Gedenkstätte, und gelegentlich auch ausländische Staatsgäste, wie kürzlich die Gattin des türkischen Präsidenten Erdogan.
Diese Gedenkkultur unterscheidet Kasachstan von Russland. Dort wurde die einzige Gedenkstätte, die an authentischem Ort an die stalinistischen Lager erinnerte, das von engagierten Bürgern gegründete Museum Perm 36, gerade geschlossen. Die Behörden erklärten den Trägerverein zum „Ausländischen Agenten". Und Stalin wird in Russland wieder populär. Gerade im Umfeld des Gedenkens an den Sieg über Nazi-Deutschland vor 70 Jahren steht er als "genialer Feldherr" und "starker Führer" wieder auf. Die stalinistischen Verbrechen geraten dabei in Vergessenheit. In Kasachstan wäre das nicht möglich, sagt der Politologe Dosym Satpajew aus dem kasachischen Almaty und erklärt, warum.
"Es waren nicht nur sehr viele Häftlinge auf dem Gebiet des heutigen Kasachstan; unter Stalin gab es hier auch einen Holodomor wie in der Ukraine, ein Massensterben durch Hunger in Folge der Zwangskollektivierung. In den 1930 Jahren sind deshalb zwischen zwei und drei Millionen Kasachen verhungert. Sie hatten als Nomaden gelebt, wurden dann aber in Gemeinschaftsbetriebe gezwungen, ohne dass ihnen jemand erklärte, wie Ackerbau geht. Ich kann mich nicht an einen einzigen Versuch erinnern, in Kasachstan eine Art neuen Stalinkult zu installieren. Die Haltung zu Stalin ist entweder negativ oder neutral, aber keinesfalls positiv."
Raisa Zhaksybaeva, die Direktorin der Lagergedenkstätte "Alzhir", erinnert zudem an die vielen hunderttausend Menschen, die Stalin nach Kasachstan zwangsumsiedeln ließ: Deutsche, Balten, Tschetschenen, Krimtataren und viele andere. Viele Nachfahren der Deportierten leben noch immer in Kasachstan, sie sind Teil einer Gesellschaft, die sich als Opfer der Repressionen fühlt. Für Zhaksybaeva steht fest:
"Stalin war ein Verbrecher. Und wir dürfen nicht zulassen, dass sich so etwas wiederholt. In Kasachstan nicht, und auch nirgendwo anders."