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Lagerräumung in Calais
"Der Flüchtling ist eine Projektionsfläche für Ängste"

Nicht die Migranten seien Frankreichs Problem, sondern prekäre Beschäftigungen, Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung, sagte die Schriftstellerin Gila Lustiger im DLF angesichts der Lagerräumung in Calais. Kein Zaun und keine Regulation könnten verhindern, dass Flüchtlinge nach Europa kämen. Denn sie wollten das, was wir alle wollen: ein besseres Leben.

Gila Lustiger im Gespräch mit Tobias Armbrüster |
    Migranten stehen in einer Schlange vor einem Bus und warten auf ihre Evakuierung kurz bevor die Räumung des Lagers in Calais beginnt.
    Kurz vor der Räumung des Lagers in Calais am 24. Oktober 2016: Migranten warten auf ihre Evakuierung. (picture-alliance / dpa / THIBAULT VANDERMERSCH )
    Tobias Armbrüster: Wenn dieses Flüchtlingslager nun geräumt wird, dann hat das alles natürlich auch eine politische Komponente. Darüber kann ich jetzt sprechen mit der Publizistin und Buchautorin Gila Lustiger. Sie lebt seit mehr als 30 Jahren in Paris und verfolgt unter anderem die französische Flüchtlingspolitik sehr genau.
    Gila Lustiger: Fast 30 Jahre.
    Armbrüster: Schönen guten Tag, Frau Lustiger.
    Lustiger: Guten Tag.
    Armbrüster: Was habe ich da falsch gesagt?
    Lustiger: Ich bin noch nicht 30 Jahre da, nur fast.
    Armbrüster: Gut, fast 30 Jahre. Aber, Frau Lustiger, dann lassen Sie uns gleich darüber sprechen. Ist es gut, dass der Dschungel jetzt Geschichte ist?
    Lustiger: Ich habe eben zugehört und Sie hören ja schon an den Zahlen, dass das eigentlich eine symbolische Geschichte ist. Es sind, wie eben gesagt, ich glaube, die genaue Zahl war 1.300 Polizisten im Einsatz. Es geht um 3.000 Menschen. Es sind 60 Busse da. Verglichen zu dem Flüchtlingsstrom ist das ja eigentlich nichts und eigentlich ist Calais - und das darf man nicht vergessen - ein Symbol. Es ist ein Symbol und den Franzosen jetzt in der Situation - es sind Wahlen - ein Dorn im Auge, weil es uns eigentlich mitten im Herzen von Europa immer wieder mit Bildern konfrontiert, die wir gerne vergessen wollen, nämlich dass es Menschen gibt, die flüchten. Wir nennen sie ja die ganze Zeit immer Flüchtlinge, aber man muss sich einmal klar machen, wer diese Menschen sind. Es sind 6.500 Menschen, die monatelang illegal dort gelebt haben, und zwar ganz genau deswegen dort, weil es das Tor ist nach Großbritannien.
    Die meisten von ihnen kommen aus dem Sudan, es sind Eritreer, sie kommen also aus Afrika und sie wollen nach Großbritannien, weil sie dort schon Familie haben oder Freunde und vor allen Dingen auch die Sprache kennen. Und sie wollten nicht raus aus diesen Lagern, in denen es keine sanitäre Einrichtung gibt und in denen sie wirklich in Hütten und in Zelten gelebt haben, weil sie, wenn sie jetzt ausgewiesen werden - und das ist ja auch, was man nicht vergessen darf -, einen Asylantrag stellen müssen, und die meisten von ihnen werden nach dem Asylverfahren in Frankreich nicht leben können und werden abgeschoben werden.
    "Sie wollen, was wir alle wollen: ein besseres Leben."
    Armbrüster: Nun ist es aber so, Frau Lustiger: Wer als Flüchtling nach Europa kommt, der kann sich das nicht aussuchen, wo er hingeht. Der wird dort registriert, so sollte es zumindest sein, und dort als Flüchtling aufgenommen, wo er angekommen ist. Aber das jetzt mal bei Seite gelassen: Ist es nicht gut, dass dieses Lager - und wir haben diese Bilder ja immer wieder gesehen, diese wirklich miserablen Umstände, diese Zeltstädte, diese Orte ohne Toilette, ohne fließend Wasser , ist es nicht gut, dass dieses Lager aufgelöst wird und dass die Menschen, die dort gewohnt haben, zumindest in Lager kommen, in Unterkünfte, wo es sich einigermaßen leben lässt?
    Lustiger: Ja, natürlich ist das gut. Auf jeden Fall! Und ich bin auch nicht gegen illegale Einwanderung. Aber ich habe heute eine Pressemitteilung der Front National gelesen, die dann sofort gesagt hat, der Platz für illegale Einwanderer - und die sind ja illegal - ist kein Camp oder kein Flüchtlingsheim, das von Steuerzahlern gezahlt wird, sondern Charterflüge. Und das ist ja auch die Furcht dieser Menschen, dass sie ausgewiesen werden würden, und das ist ja wahrscheinlich auch, was geschehen wird. Die meisten von ihnen haben kein Recht auf Asyl und werden ausgewiesen werden. Und es sind keine politischen Flüchtlinge, es sind Wirtschaftsmigranten, die auch hier herkommen, und man muss es einfach einmal sagen.
    Der Grund, warum Menschen nach Europa kommen und weiterhin kommen werden und am Kommen eben nicht gehindert werden können - die Zäune sind ja schon zu in Europa und die Schlepper finden immer weiter neue Wege nach Europa rein und sie sind nicht besser, aber einfach nur riskanter. Letztes Jahr starben, habe ich gelesen, alleine im Mittelmeer 4.000 Menschen. Das heißt, sie nehmen wirklich Gefahren auf sich, um hier herzukommen. Und der Grund ist, den kein Zaun und keine Regulation verhindern wird, dass sie das wollen, was wir alle wollen: ein besseres Leben. Ich habe letztens ein Interview von Paul Collier gelesen und Paul Collier sagt, das ist ein fantastischer Ökonom, dass wir erst am Anfang dieser ganzen Migration, dieser ganzen Migrationswelle von unerhörtem Ausmaß stehen.
    "Wir können nicht fragen, ist Migration gut oder schlecht"
    Armbrüster: Frau Lustiger, wenn ich Sie da kurz unterbrechen darf? Das alles führt mich zu der Frage: Meinen Sie tatsächlich, dass es eigentlich gar keine Flüchtlingskontrolle in Europa geben sollte, dass wir sozusagen Menschen rein lassen sollten, alle, die aus wirtschaftlichen Gründen ihre Heimat verlassen müssen?
    Lustiger: Nein, das meine ich nicht. Ich meine nur, dass wir das global ansehen. Wir können einfach nicht fragen, ist Migration gut oder schlecht, wir können nicht fragen, sperren wir die Zäune zu oder nicht. Wir müssen dieses ganze Problem global anpassen. Migration wird es geben, darüber sind sich alle gleich. Ich habe in der EU jetzt gelesen, ich habe die genauen Zahlen nicht vor mir, aber dass bis 2017, glaube ich, drei Millionen Menschen, ob wir es wollen oder nicht, hier in Europa eintreffen werden. Und die Frage ist, was machen wir mit diesem globalen System der Kluft zwischen armen und reichen Ländern? Dass Menschen hierher zu uns kommen, weil sie sich ein besseres Leben wünschen, das ist offensichtlich und es wird so bleiben.
    Und die Frage ist, was machen wir damit. Was wir jetzt in Frankreich ganz genau damit machen ist, dass wir ein Flüchtlingslager schließen vor 500 Journalisten, die weltweit darüber berichten werden, wie es aufgelöst wird. Diese Bilder werden wir heute sehen und wir werden uns wie ich darüber empören oder auch nicht. Dann werden wir es vergessen und dieses Problem bleibt bestehen. Wir lösen eigentlich nur, sagen wir mal, die Bilder auf. Wir lösen das auf, was uns stört, aber das Problem bleibt weiterhin bestehen. Wie gehen wir mit diesen globalen Situationen um? Was machen wir mit der Kluft zwischen armen und reichen Ländern, mit Bürgerkriegen, wie gehen wir damit um? Das sind die Fragen, die wir stellen sollten.
    "Der Flüchtling ist eine Projektionsfläche für Ängste"
    Armbrüster: Frau Lustiger, Sie haben in Ihrer ersten Antwort schon die bevorstehenden französischen Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr erwähnt. Was hat diese Räumung heute mit den Wahlen im kommenden Jahr zu tun?
    Lustiger: Wenn Sie sich den Kommentar der Front National anhören, dass Charterflüge die Antwort sind und nicht Einwanderlager, dann haben Sie schon alles begriffen.
    Armbrüster: Das sagt der Front National, das sagen nicht die Sozialisten und auch nicht die Republikaner?
    Lustiger: Nein. Aber die Sozialisten räumen diese Flüchtlingslager in diesem politischen Kontext, und das muss auch immer wieder hinzugefügt werden. Der Flüchtling ist eine Projektionsfläche für Ängste. Er fokussiert Ängste. Er ist ein angreifbarer und ein sichtbarer Gegner. Aber wir haben hier in Frankreich Prekarität, wir haben hier ein hohes Maß an Arbeitslosigkeit, die Menschen haben Angst um ihre Arbeit, es gibt immer mehr Jobs, die verloren gehen, und der Flüchtling ist nicht unser größtes Problem in Frankreich.
    Es sind nicht 6.500 Migranten, die illegal in einem Dschungel leben, die das Problem sind. Es ist das Problem der Prekarität, der Arbeitslosigkeit, der Ausgrenzung, und diese Probleme sollen angesehen werden. Und es polarisiert sich und das Augenmerk geht immer wieder auf diesen sichtbaren Gegner und angreifbaren Gegner und schwachen Gegner, nämlich jemand, der über…
    Armbrüster: Frau Lustiger? Hören Sie mich noch? - Da ist die Leitung wohl zusammengebrochen. Wir waren aber sowieso am Ende dieses Gesprächs. Frau Lustiger, wenn Sie mich noch hören, vielen Dank für dieses Gespräch. Vielen Dank, dass Sie an diesem Montagmittag Zeit für uns hatten.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.