Gegenwärtig scheint die Chance gering, in der Bundesliga ein Coming-Out zu wagen und nur halbwegs unbeschadet davonzukommen – so begründet Philipp Lahm in seinem neuen Buch seinen Rat, dass Profi-Fußballer sich während ihrer aktiven Karriere nicht outen sollen. Kein neuer Ratschlag, ähnliches hatte er auch schon in seinem ersten Buch geschrieben, das vor genau zehn Jahren veröffentlicht wurde.
Aber: In diesen zehn Jahren hat sich nicht nur die Gesellschaft, sondern auch Philipp Lahms so wichtiges Spiel verändert. Ja, es gibt auch heute noch keinen geouteten, schwulen Profi-Fußballer in Deutschland. Ja, Homophobie existiert auch heute noch auf und neben dem Fußballplatz – und in der Gesellschaft.
Aber: Inzwischen dürfen homosexuelle Paare in Deutschland heiraten, in fast allen Sportarten existieren Kampagnen für mehr Toleranz, mehr Offenheit, mehr Diversität. Auch im Fußball. Und auf einen Spieler wie Wolfsburgs Josip Brekalo, der es ablehnt, eine Regenbogen-Kapitänsbinde zu tragen, kommen mehr als 800 Spielerinnen und Spieler, die sich öffentlich hinter homosexuelle Mitspieler stellen – das zeigt die Aktion des 11Freunde-Magazins in dieser Woche. 800 Profi-Fußballer und –Fußballerinnen, die mit dem Hashtag #ihrkoenntaufunszaehlen ein Zeichen setzen. Für mehr Toleranz, für mehr Offenheit, für mehr Diversität auf dem Platz.
"Ihr könnt auf mich zählen"
Wie das dann ganz konkret aussehen kann, hat sich erst vor ein paar Monaten in den USA gezeigt: Die Mannschaft der San Diego Loyal verlässt geschlossen den Platz, nachdem ihr schwuler Mitspieler Collin Martin von seinem Gegenspieler homophob beleidigt wurde. Das Spiel wurde – trotz Führung – gegen sie gewertet. Die Playoffs verpasste die Mannschaft dadurch. Aber viel wichtiger: Sie setzte ein Zeichen. "Du kannst auf uns zählen."
Philipp Lahm präzisiert die Aussagen in seinem Buch: Auch die Zuschauenden seien das Problem, vor allem bei Auswärtsspielen wären homosexuelle Spieler dann Beleidigungen und Pöbeleien ausgesetzt.
Was Lahm nicht erwähnt: Inzwischen gibt es in fast allen Bundesliga-Vereinen auch schwule und lesbische Fanclubs. Und was passiert, wenn doch gepöbelt wird, hat man im vergangenen Jahr in Münster gesehen: Dort wurde ein Spieler von der Tribüne aus rassistisch beleidigt. Die Zuschauenden beweisen Zivilcourage, der Störenfried wird entfernt, und von der Tribüne aus ein Zeichen gesetzt: "Du kannst auf uns zählen."
Zivilcourage, das ist auch für Philipp Lahm das Stichwort. Er wünsche sich, dass es in der Gesellschaft mehr Zivilcourage gebe, befürchtet aber, dass dem nicht so sei. Auch in seinem Buch erhebt Lahm den Zeigefinger: Wir als Deutsche sollten erst einmal vor unserer eigenen Haustür fegen, bevor wir auf andere Nationen zeigen, schreibt er.
Vielleicht sollte Philipp Lahm diese Woche auch als Anlass nutzen, um einmal vor seiner ganz eigenen Haustür zu fegen – und die Zivilcourage zeigen, die er von der Gesellschaft fordert: Anstatt im Nebensatz zu erwähnen, dass er sich ja einen normalen Umgang mit Homosexualität im Profisport wünschen würde, wäre es ein erster Schritt, ein Pappschild in die Kamera zu halten, mit dem Schriftzug: Ihr könnt auf mich zählen.
Denn das Spiel, das Philipp Lahm so viel bedeutet, es wird sich weiterentwickeln – es hängt von Menschen wie ihm ab, wie schnell.