Palästinensischer Botschafter
"Israel bedroht die gesamte regionale Stabilität"

Der palästinensische Botschafter in Deutschland, Laith Arafeh, erhebt schwere Vorwürfe gegen die israelische Regierung. Die deutsche Staatsräson sieht er als Mittel, um Israels Verletzungen internationalen Rechts zu ignorieren.

Laith Arafeh, Vertreter der Palästinensischen Autonomiebehörde in Deutschland, fotografiert auf der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) am18.02.2024 im Hotel Bayerischer Hof.
"Wir haben das Zielen auf Zivilisten verurteilt, die Verletzung internationalen Rechts und internationalen humanitären Rechts", sagt der palästinensische Botschafter Laith Arafeh zum 7. Oktober 2023. (picture alliance / dts-Agentur )
Laith Arafeh, der palästinensische Botschafter in Deutschland, wirft der israelischen Regierung vor, systematisch gegen internationales Recht zu verstoßen und sich einer Zweistaatenlösung zu widersetzen. Deutschland verschaffe mit seiner Staatsräson Israel politische Deckung, sodass es mit seinen "Verbrechen am palästinensischen Volk" davonkommen könne. In Bezug auf propalästinensische Demonstrationen distanziert er sich von Anstachelungen zur Gewalt, sagt aber, der Vorwurf des Antisemitismus sei als Waffe genutzt worden, um Meinungsfreiheit zu beschränken.

Übersicht

Das Interview mit Laith Arafeh:
Thielko Grieß: Herr Botschafter, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für uns beim Deutschlandfunk genommen haben und Sie wieder hier bei uns im Programm sind.
Laith Arafeh: Sehr gerne.
Grieß: Es leben mindestens 200.000 Menschen mit palästinensischen Wurzeln in Deutschland. Einige besitzen die deutsche Staatsangehörigkeit, einige nicht. Es ist wahrscheinlich die größte Gruppe in Europa, die sich hauptsächlich auf Berlin und andere größere deutsche Städte konzentriert. Und wir müssen Gewalt von verschiedenen Seiten miterleben und dies mittlerweile nun seit mehr als einem Jahr. Wie wird diese Gewalt von der palästinensischen Gemeinschaft in Deutschland aufgenommen?
Arafeh: Vielen Dank. Als Allererstes möchte ich die Tatsache betonen, dass sich eine überwältigende Mehrheit von Palästinensern hier in Deutschland als Deutsche mit palästinensischen Wurzeln fühlt. Und die überwältigende Mehrheit dieser Menschen sind deutsche Staatsbürger. Jedoch haben die Ereignisse des letzten Jahres, aber auch besonders die Ereignisse der letzten 80 Jahre einen Schatten geworfen auf viele Bereiche ihres Lebens, ob sie sich nun hier in Deutschland oder in anderen Teilen der Welt befinden. Allerdings besonders hier in Deutschland.

"Recht auf Trauer verweigert"

Grieß: Welche Emotionen bemerken Sie? Ist es Frustration, Wut, Verzweiflung?
Arafeh: Schmerz. Quälender Schmerz, wenn sie sehen, dass ihr eigenes Volk niedergemetzelt wird. Und die Massaker, die gegen diese Menschen verübt werden, werden live im Fernsehen gezeigt. Ich kenne Tausende von Deutschen mit palästinensischen Wurzeln, die allein in den letzten Monaten Familienmitglieder verloren haben. Und ich spreche über Eltern. Einige haben ihre Eltern verloren, Mütter, Väter, Brüder, Schwestern, Tanten, Cousins und Cousinen und weitere Familienmitglieder. Es ist also etwas Persönliches. Und was noch zu ihrem Schmerz hinzukommt – und ich muss sagen zu Recht – ist, dass sie einen Mangel an Mitgefühl erfahren. Nicht von der Gesellschaft im Allgemeinen, aber von Politikern, besonders Lokalpolitikern. Und sie bekommen wiederholt das Gefühl, dass sie noch nicht einmal das Recht haben, ihren Verlust zu betrauern. Ein Mitglied der palästinensisch-deutschen Gemeinschaft hat mir erzählt, dass er das Gefühl hat, dass ihm das Recht verweigert wird, die Familienmitglieder, die er in Gaza verloren hat, zu betrauern.
Grieß: Was bedeutet das? Wer verweigert Ihnen das Recht zu trauern?
Arafeh: Ich bin sicher, dass Sie miterlebt haben, wie sich die Debatte entsponnen hat über die andauernden kriminellen Aggressionen gegen die palästinensischen Menschen in Gaza. Und wie Menschen, die gegen den Krieg und für ein Ende des Krieges protestieren, diffamiert wurden und als Unterstützer von Gewalt bezeichnet wurden. Und das ist natürlich nicht der Fall. Sie wurden zu Unrecht so bezeichnet. Und leider werden sie weiterhin so bezeichnet. Und daher fühlen sich so viele Menschen eingeschüchtert und trauen sich noch nicht einmal, ihre Trauer über den Verlust von Familienmitgliedern auszudrücken.
Grieß: Wenn ich Sie richtig verstehe, dann sagen Sie, dass für Palästinenser, die Demonstrationen zum Beispiel in Berlin organisieren möchten, die Meinungsfreiheit eingeschränkt ist?
Arafeh: Ich spreche nicht per se über Demonstrationen. Ich spreche über die Diskussion des israelisch-palästinensischen Konflikts im Allgemeinen.
Grieß: Sie haben von fehlender Empathie deutscher Politiker gegenüber palästinensischen Emotionen und der Geschichte Palästinas gesprochen. Von wem genau sprechen Sie?
Arafeh: Ich meine damit die allgemeine Wahrnehmung.
Grieß: Wie ist Ihr Kontakt mit dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, Kai Wegner?
Arafeh: Ich habe ihn nie getroffen.
Grieß: Warum nicht?
Arafeh: Ich hatte noch keine Gelegenheit, ihn zu treffen.
Grieß: Warum ist die Beziehung zur Regierung einer Stadt, in der so viele Palästinenser leben, so schwach oder wie Sie es ausdrücken, nicht existent?
Arafeh: Ich denke, dass Sie diese Fragen an die Regierung von Berlin richten müssen. Man sollte annehmen, dass es eine Regierung ist, die für alle Einwohner verantwortlich ist. Und ich hoffe, dass die Regierung von Berlin allen ihren Bürgern mit Mitgefühl und mit Solidarität begegnet und sie anhört.

Begriff "Staatsräson" decke israelische Verbrechen

Grieß: In Deutschland haben einige Politiker den Begriff „Staatsräson“, für den es kein genaues Äquivalent in Englisch gibt, benutzt. Aber Sie kennen ihn und verstehen ihn. Staatsräson als Konzept kann verstanden werden als eine Ausrichtung auf Israels Positionen, die Unterstützung von Israel, als Lieferung von Waffen und sich gegen Antisemitismus auszusprechen. Herr Botschafter, was ist Ihr Verständnis von Staatsräson?
Arafeh: Staatsräson bleibt ein sehr ambivalentes Konzept. Historisch gesehen war Staatsräson ein Konzept, das dem demokratischen Staat vorausging. Heutzutage basieren internationale Beziehungen auf internationalem Recht. Wenn Sie versuchen, ihre Beziehung zu einem anderen Land mit einem Konzept zu definieren, welches sich nicht notwendigerweise auf internationales Recht bezieht, suggerieren Sie, dass Ihre Bindung oder Ihre Beziehung zu diesem Land über internationales Recht hinausgeht. Und da es keine wissenschaftliche Definition des Konzepts der Staatsräson gibt, würden Menschen zu Recht versuchen, es im Praxiskontext zu verstehen. Sie würden die Bedeutung aus der Praxis ableiten und sie aufgrund der Ereignisse des letzten Jahres beurteilen. Und durch die Position, die die Bundesregierung gegenüber der kontinuierlichen kriminellen israelischen Aggression gegen das palästinensische Volk eingenommen hat, haben viele Menschen Staatsräson so interpretiert, dass Israel über internationalem Recht steht. Und jedes Land, welches sich für Israel in einer Art Staatsräson einsetzt, verschafft Israel eine politische Abdeckung, die ihm erlaubt, davonzukommen trotz der Verbrechen, die es kontinuierlich am palästinensischen Volk begeht.
Grieß: Herr Botschafter, Ihrer Meinung nach ist dieses Konzept, welches Sie aus Ihrer Sicht erklärt haben, kein sinnvolles Konzept?
Arafeh: Ich denke, das einzige sinnvolle Konzept – und das sollte betont werden – ist Völkerrecht.

Vorwürfe an israelische Regierung

Grieß: Der Slogan „Free Palestine“, also „Freiheit für Palästina“, manchmal auch mit dem Zusatz „from the river to the sea“, also „vom Fluss Jordan bis zum Mittelmeer“, wird vom Bundesinnenministerium als Parole der Hamas eingestuft, weil sie die Vernichtung Israels fordere. Inzwischen gibt es verschiedene Verfahren in deutschen Gerichten und deutsche Gerichte scheinen diese Frage recht unterschiedlich zu beurteilen. Ihrer Meinung nach und nach Ihrer Analyse, fordert dieser Slogan die Zerstörung des Staates Israel?
Arafeh: Ich denke, wir hatten diese Diskussion in diesem Sender bereits vor einem Jahr. Zuerst: Forderungen nach Freiheit, besonders in den Hauptstädten der freien Welt, sollten nicht nur geschützt, sondern auch unterstützt werden. Und Menschen, die die Freiheit von Palästina fordern, fordern lediglich die Erfüllung internationalen Rechts, um Israels illegale Besetzung von Palästina zu beenden und um dem palästinensischen Volk sein Recht auf Selbstbestimmung in seinem eigenen und unabhängigen Staat zu geben. „Vom Fluss bis zum Meer“ ist tatsächlich die Parole, die von der israelischen Regierung vorangetrieben worden ist. Und sie ist Teil des politischen Programms geworden, besonders der extrem rechtsgerichteten Regierung, welche die Parole „Vom Fluss bis zum Meer“ angenommen hat. Das ganze Land sollte ausschließlich jüdisch werden. Und dies war ein Teil des politischen Programms, welches von der Knesset im Dezember 2022 verabschiedet wurde.
Grieß: Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie unterbreche, aber Sie wissen, dass es Demonstrationsteilnehmer gibt, die diese Parole gegenteilig verstehen. Nämlich als eine Möglichkeit, ihren Wunsch auszudrücken, alles jüdische Leben aus der Region zu verbannen und Juden ein für alle Mal loszuwerden.
Arafeh: Davon weiß ich nichts. Ich weiß nicht, warum Sie diese Annahmen treffen.
Grieß: Das ist keine Annahme.
Arafeh: Aber wie würden Sie erklären, dass es viele Israelis und Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft, sowohl hier in Deutschland als auch Europa und anderen Teilen der Welt gibt, die dieselbe Parole anstimmen?

"Wir wollen eine Zweistaatenlösung"

Grieß: Ich kann dieselbe Frage dem Botschafter des Staates Israel stellen, wenn ich mit ihm dieses Thema diskutiere. Und ich würde natürlich gerne dieses Thema mit ihm diskutieren, aber jetzt sprechen wir über die palästinensische Position, und das ist der Grund, warum wir beide miteinander sprechen.
Arafeh: Am Ende des Tages bleibt unsere Position klar: Wir wollen eine Zweistaatenlösung. Eine Lösung, die damit beginnt, Israels illegale Besatzung palästinensischer Gebiete zu beenden. Eine Zweistaatenlösung, die auf internationalem Recht basiert.
Aber es ist eine Tatsache, dass israelische Regierungen aktiv und mit viel Energie über 25 Jahre in Folge alles getan haben, um die Umsetzung dieser Lösung zu verhindern. Sie bestehen darauf, dass es nur einen einzigen israelischen Staat geben wird – vom Fluss bis ans Meer –, in dem die Israelis weiterhin die Oberhand haben werden und das gesamte Territorium kontrollieren werden. Und die nicht-jüdischen Staatsbürger dieses Staats werden zu Staatsbürgern zweiter oder dritter Klasse. Und dies treibt mehr und mehr Menschen dazu, eine Einstaatenlösung zu fordern – vom Fluss bis ans Meer. Das ist diese fürchterliche Situation. Und stattdessen werden Maßnahmen gegen Demonstranten ergriffen, die emotional auf eines der fürchterlichsten Verbrechen reagieren.
In jüngerer Vergangenheit denke ich, dass ernste und effektive Maßnahmen gegen die Regierung Israels ergriffen werden sollten, welches systematisch gegen internationales Recht verstößt, welches sich weiterhin dem internationalen Konsens einer Zweistaatenlösung widersetzt und welches aktuell eines der schockierendsten und destruktivsten Verbrechen der jüngsten Zeit begeht.

"Bigotterie sollte immer verurteilt werden"

Grieß: Ich möchte gerne über die Reaktionen sprechen, welche auf den Straßen zum Beispiel von Berlin und anderen deutschen Städten zu sehen sind. Wenn Sie mal schauen, was da gerufen wird, was für Schilder, Symbole und Parolen gezeigt werden, wo ziehen Sie die feine Linie zwischen legitimer und freier Meinungsäußerung und Antisemitismus?
Arafeh: Ich denke, beides ist klar. Bigotterie sollte immer verurteilt werden. Antisemitismus sollte verurteilt werden. Islamophobie sollte verurteilt werden und es sollte ausgerufen werden, worum es geht. Aber es wäre ein Fehler, Antisemitismus, Islamophobie oder jegliche Form der Bigotterie als Waffe zu nutzen, um Meinungsfreiheit zu beschränken oder zum Schweigen zu bringen. Und ich bedauere, dass ich sagen muss, dass in vielen Fällen Antisemitismus als Waffe genutzt wurde, um Meinungsfreiheit zum Schweigen zu bringen. Ich kann so viele Beispiele anführen …
Grieß: Ich möchte gerne eine weitere Frage hinzufügen: Wenn es so klar ist, wie Sie sagen, wenn es so klar ist zu entscheiden, warum beobachten wir all diese Demonstrationen, die so missverständlich sind? Man sieht zum Beispiel rote Dreiecke, ein Symbol der Hamas. Sollte das erlaubt sein oder nicht?
Arafeh: Wir lehnen grundsätzlich jegliche Form der Anstachelung zu Gewalt ab. Ich fälle kein Urteil. Ich habe keine Ahnung von den spezifischen Fällen, auf die Sie sich hier beziehen.
Grieß: Das ist wenig glaubhaft.
Arafeh: Grundsätzlich glaube ich, dass alle geltenden Regeln von allen Parteien respektiert werden sollten. Freie Meinungsäußerung sollte niemals von jeglicher Seite missbraucht werden, um Gewalt anzustacheln. Allerdings glaube ich, dass es mehr als 3.000 Proteste in Deutschland gab. Und die Zwischenfälle, auf die Sie sich beziehen, ungeachtet deren Inhalts, wurden von den örtlichen Behörden willkürlich herausgegriffen. Und es gibt nur eine Handvoll potenzieller Verstöße gegen deutsches Recht.
Lassen Sie mich bitte daran erinnern, dass mehr als 50.000 unschuldige Palästinenser getötet wurden, davon mindestens 17.000 Kinder, davon mindestens 9.000 Frauen. Gemäß einer aktuellen Studie wurden mindestens 2.500 Säuglinge getötet, Säuglinge von unter einem Jahr. Also sind viele der Szenen, die man sehen kann, Szenen von erhitzten Emotionen, von Frustration, von Wut und natürlich auch von so viel Schmerz.
Grieß: Ich habe Ihnen sorgfältig zugehört, was Sie mir erzählt haben, Herr Botschafter. Und Sie haben nicht erwähnt – und das haben Sie auch nicht in vorherigen Interviews –, was die israelische Reaktion ausgelöst hat, nämlich die Terrorattacken vom 7. Oktober. Und Sie haben sie auch nicht als solche bezeichnet. Warum bestehen Sie auf Ihrer Position?
Arafeh: Ich denke, dass Sie die falschen Schlussfolgerungen ziehen. Und ich sage es noch einmal: Sie sind anmaßend. Jedoch werde ich mich nicht auf eine Debatte einlassen, von der ich weiß, dass sie populärer ist und mehr Aufmerksamkeit in den sozialen Medien erregen wird. Der Grund ist, dass ich weder ein Populist noch ein Publizist bin.
Grieß: Nein, ich führe keine Interviews zum Zweck der Auswertung in sozialen Medien. Ich frage mich nur, so wie sich wahrscheinlich viele andere auch fragen: Diese Terrorattacken des 7. Oktober wurden von der Hamas begangen, welche – gelinde gesagt – ein Gegner Ihres Standpunkts der Fatah ist, des moderaten Standpunktes. Also verstehe ich nicht, warum Sie nicht in der Lage sind, die Ereignisse beim Namen zu nennen.
Arafeh: Ich weiß wirklich nicht, woher Sie Ihre Annahmen beziehen. Aber ich denke, dass unser Standpunkt hinreichend klar ist. Vor dem 7. Oktober, am 7. Oktober und nach dem 7. Oktober haben wir immer und immer wieder unseren Standpunkt klargemacht. Wir haben das Zielen auf Zivilisten verurteilt, die Verletzung internationalen Rechts und internationalen humanitären Rechts. Wir haben eine politische Lösung des palästinensisch-israelischen Konflikts befürwortet; eine Lösung, die ein Ende der israelischen Besatzung der palästinensischen Gebiete sicherstellt. Eine Lösung, die zu einer Zweistaatenlösung führt, eine Lösung, die echten Frieden und Sicherheit sowohl für die palästinensische als auch die israelische Seite bringen würde. Wir haben dies über Jahrzehnte immer wieder betont und dementsprechend gehandelt. Also, zu sagen, dass unser Standpunkt nicht klar ist, geht etwas zu weit.

Israelische Regierung "darauf versessen", gesamte Region in Brand zu setzen

Grieß: Als einen der letzten Punkte unseres Interviews würde ich gerne einen regionalen Akteur einbringen, um unseren Horizont zu erweitern. Der palästinensische Präsident, Mahmud Abbas, hat Irans Politik zurückgewiesen, indem er sagte, sie habe dazu geführt, dass palästinensisches Blut geopfert werde. Herr Botschafter, ist der Einfluss des Iran gefährlich?
Arafeh: Ich denke, was Präsident Abbas gesagt hat, bringt den palästinensischen Standpunkt unmissverständlich zum Ausdruck. Wir, die Palästinenser, lehnen jegliche Versuche von jeglicher Seite, von jeglichem Staat, von jeglicher regionalen oder internationalen Macht ab, die versucht, sich in unsere inneren Angelegenheiten einzumischen oder die sich einen Vorteil verschaffen wollen von der legitimen Trauer des palästinensischen Volks, um eine andere Agenda voranzutreiben.
Grieß: Iran hat Israel angegriffen. Welche Reaktion Israels auf den Iran halten Sie für gerechtfertigt?
Arafeh: Und Israel hat den Iran wiederholt angegriffen. Ich glaube, dass die israelische Regierung darauf versessen ist, die gesamte Region in Brand zu setzen. Es geht nicht nur um den Iran. Israel hat auch andere Teile der arabischen Welt angegriffen. Es bedroht die gesamte regionale Stabilität, ungeachtet aller Friedensabkommen, die in der Vergangenheit erreicht wurden. Ich glaube, dass niemand ringsherum sicher vor einer Regierung sein kann, die von Benjamin Netanjahu geführt wird.

Konsequenzen für Deutschlands Ansehen?

Grieß: Denken Sie, dass die deutsche Position als Vermittler zwischen beiden oder den verschiedenen Seiten geschwächt wurde und dass Deutschland kein Vermittler mehr sein kann?
Arafeh: Das ist, was jetzt viele Deutsche sagen würden.
Grieß: Und was würden Sie sagen?
Arafeh: Deutschland hat sich über so viele Jahre den Respekt von so vielen Ländern und Nationen auf der ganzen Welt verdient. Deutschland war immer ein starker Unterstützer von Israels Existenzrecht. Gleichzeitig hat Deutschland aber auch immer Israels illegale Besetzung der palästinensischen Gebiete und Israels Verletzung internationalen Rechts verurteilt. Und es gab eine klare Linie, die diese beiden Standpunkte trennten.
Aber ich bedauere zu sagen, dass diese klare Linie nun seit Kurzem verwischt ist. Die Unterstützung Israels bedeutet für einige Deutsche nun, dass sie Israels Verletzung internationalen Rechts und die Aggression gegen das palästinensische Volk nicht sehen. Und einige gehen sogar noch weiter, indem sie glauben, dass die Unterstützung von Israels Existenzberechtigung bedeutet, Israels Verletzung palästinensischen Rechts zu unterstützen. Und an diesem Punkt löst das Konzept der Staatsräson mehr und mehr Kontroverse aus, denn mehr und mehr Menschen definieren Staatsräson als ein Hochhalten Israels über internationalem Recht, und zwar in einem Maß, wie es nicht auf andere Länder angewendet wird. Und dies wird Konsequenzen für Deutschlands Ansehen haben. Und ich bin sicher, dass es viele Entscheidungsträger hier in Deutschland gibt, die dies realisiert haben. Und gleichzeitig muss ich sagen, dass kürzlich getroffene Aussagen von deutschen Entscheidungsträgern versucht haben, die Bedeutung von Staatsräson zu deckeln, indem sie Staatsräson im Sinne des Völkerrechts definiert haben.
Grieß: Laith Arafeh, der palästinensische Botschafter in Deutschland. Vielen Dank, Herr Botschafter, für das Interview.
Arafeh: Vielen Dank.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Redaktionelle Einordnungen

1. Der Botschafter sagt, die Knesset habe Ende 2022 ein Programm verabschiedet, wonach das ganze Land ausschließlich jüdisch werden soll. Laith Arafeh bezieht sich offenbar auf die Leitlinien der aktuellen israelischen Regierung. In denen steht, dass das jüdische Volk ein „exklusives Recht auf alle Gebiete von Eretz Israel“ habe. Gemeint ist damit aus Sicht der israelischen Regierung auch das Westjordanland, das Israel völkerrechtswidrig besetzt.
2. Der Botschafter sagt, israelische Regierungen hätten 25 Jahre lang alles getan, um die Umsetzung einer Zweistaatenlösung zu verhindern. Alle israelischen Regierungen der vergangenen Jahrzehnte haben Siedlungen im besetzten Westjordanland gebaut und ausgebaut. Die aktuelle Regierung sagt offen wie nie zuvor, dass dies auch getan wird, um einen palästinensischen Staat zu verhindern. Was der Botschafter nicht sagt: Die Hamas, die von der EU als Terrororganisation eingestuft wird, hat seit den 1990er-Jahren den sogenannten Friedensprozess immer wieder im wahrsten Sinne des Wortes zerbombt. Die Verantwortung, dass es keinen souveränen Staat Palästina gibt, ist nicht allein Israel zuzuschreiben.
3. Die nicht-jüdischen Staatsbürger eines Staates Israel, der einmal vom Mittelmeer bis zum Jordantal reichen könnte, wären Staatsbürger zweiter oder dritter Klasse. Israel argumentiert, dass arabische Israelis – also Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft, die gleichen Rechte haben. So gebe es unter ihnen hohe Richter oder Knesset-Abgeordnete. Dennoch beklagen Menschenrechtsorganisationen systematische Diskriminierung – auch in Israel. Im besetzten Westjordanland haben Palästinenser gar nicht die israelische Staatsbürgerschaft. Sie haben dort definitiv nicht die gleichen Rechte wie israelische Siedler.
4. Der Botschafter sagt, Israel begehe aktuell eines der schockierendsten und destruktivsten Verbrechen der jüngsten Zeit. Ob Israel im Gazastreifen Kriegsverbrechen oder sogar einen Völkermord verübt, ist Gegenstand von kontroversen Debatten und einer Prüfung durch den Internationalen Gerichtshof. Was der Botschafter nicht erwähnt: Die Terroranschläge von Hamas und Islamischem Dschihad gegen Israel am 7. Oktober 2023. Fast 1200 Menschen wurden dabei ermordet, Hunderte in den Gazastreifen verschleppt. Unter den Toten und Geiseln waren und sind auch kleine Kinder.
5. Der palästinensische Botschafter sagt, im Gazastreifen seien mehr als 50.000 unschuldige Palästinenser getötet worden. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums im Gazastreifen wurden seit dem 7. Oktober 2023 im Gazastreifen mindestens 42.438 Menschen (Stand: 17.10.2024) getötet. Das Ministerium wird von der Hamas kontrolliert. Angaben in früheren Kriegen haben sich in der Vergangenheit als relativ akkurat herausgestellt. Es ist möglich, dass die Zahl der Toten noch höher liegt, weil Leichen unter Geröll noch nicht geborgen wurden. Der Botschafter spricht von unschuldigen Palästinensern, die getötet wurden. Militante Kämpfer der Hamas, die ebenfalls getötet wurden, erwähnt er nicht.