Es geschah am 30. Dezember 2018. Kurz nachdem die Bohrmannschaft mit heißem, sterilisiertem Wasser ein Loch durch das Eis des Whillans Gletschers geschmolzen hatte und ein erstes Instrument nach oben gezogen worden war. Es hatte in dem unter 1.100 Meter Eis verborgenem Lake Mercer die Wassertemperatur gemessen und dabei auf dem Grund aufgesetzt. Deshalb schleppte die Sonde auch etwas graubraunen Schlamm hinauf. Aus Neugier nahm sich David Harwood eine Probe und legte sie unters Mikroskop.
"Meine Aufgabe in dem Projekt ist es, in den Sedimenten nach fossilen Überresten von Kieselalgen zu suchen. Die sollten aus der Zeit stammen, als sich das Eis zurückgezogen hatte und das Meer weit in die Westantarktis vorgedrungen war. Als ich im Schlamm nach diesen Kieselalgen suchte, entdeckte ich darin auch die Überreste eines Panzers, der aussah wie von einem winzigen Krebstier. Das Chitin des Panzers war gealtert, fleckig und dunkel."
Winzig und wunderschön: Krebspanzer
Der Mikropaläontologe von der University of Nebrasca war überrascht: Damit hatte niemand gerechnet. Weil es eine Kontamination hätte sein können, reinigten die Forscher ihre Ausrüstung erneut. Dann wurde der erste Bohrkern gezogen und David Harwood machte sich an die Arbeit.
"Nach ungefähr einer halbe Stunde am Mikroskop entdeckte ich wirklich schöne Krebstierpanzer. Sie waren winzig, manche so klein wie Mohnsamen. Und sie waren bernsteinfarben, sahen frisch und knackig aus. Bei einigen konnte ich sogar feine Sinneshaare auf dem Panzer erkennen. Vielleicht, so schoss es mir durch den Kopf, haben diese Tiere vor nicht allzu langer Zeit gelebt. Wir hatten zwar damit gerechnet, Leben in Lake Mercer zu finden, aber nur Mikroben - genau wie 2013 in Lake Whillans. Das hier war etwas anderes und deshalb richtig aufregend."
Vielleicht 20.000 Jahre isoliert
Insgesamt konnten die Forscher zwischen fünf und acht verschiedene Typen von Krebstieren ausmachen - wobei noch unklar ist, worum es sich handelt. Schließlich war bei dem Projekt kein Zoologe dabei. Die Analyse der Wasserproben zeigt jedenfalls, dass in dem See tief unter dem Eispanzer genügend Sauerstoff vorhanden ist, um tierisches Leben zu erlauben.
"Es gibt keinen Grund, der tierisches Leben prinzipiell verhindern würde. Allerdings ist dieses Ökosystem unter dem Eis schon sehr lange von der Außenwelt isoliert. Vielleicht 5.000, 10.000 oder 20.000 Jahre. Wir haben uns deshalb mehrere Szenarien überlegt. Die Tiere könnten aus dem nahen Transantarktischen Gebirge stammen, wo sie während einer wärmeren Phase gelebt haben. Dann hätte das Eis sie in den See geschleppt, sie wären ausgeschmolzen und im Wasser gelandet. Es könnte sein, dass die Panzer fossile Überreste sind aus einer Zeit, als das Meer das letzte Mal hierher vorgedrungen war. Oder sie sind die Nachfahren dieser Meerestiere und leben im See. Ein paar der Panzer sind extrem gut erhalten, mit sehr langen, dünnen Auswüchsen, die wie Fühler aussehen. Und manche Panzer sind sehr feingliedrig. Meiner Meinung nach kann so etwas nicht sehr weit mit dem Eis transportiert worden sein."
Es wäre eine Sensation - doch noch fehlen Tests
Falls die Krebstierchen einst in dem See lebten oder das sogar immer noch tun, stellt sich die Frage: Wovon? Möglicherweise von den Bakterien im Lake Mercer.
"Die Wasserproben enthalten etwa 10.000 Zellen pro Milliliter. Das ist zehnmal weniger als in dem 50 Kilometer entfernten Lake Whillans, den wir 2013 als ersten See unter dem antarktischen Eispanzer beprobt haben. Die Bakterien in Lake Mercer sind auch sehr klein, und wir wissen noch nicht, was sie sind. Erste Experimente zeigen, dass sie erheblich langsamer wachsen als die in Lake Whillans. "
Lake Mercer sei biologisch nicht so produktiv, erläutert Projektleiter John Priscu von der Montana State University. Das sei zu erwarten gewesen, unter anderem, weil dieser See weiter weg vom Ozean liege als Lake Whillans, und in diesem See hängt das Ökosystem zu einem großen Teil von dem organischen Material ab, das das Meer hinterlassen hat. Falls es tatsächlich tierisches Leben in Lake Mercer gibt, wäre das eine Sensation. Doch die Forscher sind derzeit sehr vorsichtig, wollen erst die weiteren Tests abwarten.