Gerd Breker: Am Telefon begrüße ich nun die SPD-Politikerin Lale Akgün. Guten Tag, Frau Akgün.
Lale Akgün: Guten Tag.
Breker: Am 1. November soll in der Türkei gewählt werden. Wer kann denn aus diesen mörderischen Anschlägen überhaupt politisches Kapital ziehen?
Akgün: Ich fürchte, immer noch die AKP, denn sie wird jetzt völlig über die nationalistische Schiene ihre Wahlpropaganda machen. Und wird versuchen, nicht mehr der HDP, sondern auch der MHP, der nationalistischen Partei, Stimmen abzugraben. Im Moment sagt ja der Premier Davutoglu, sie seien schon immer gegen den IS gewesen, hätten als erste überhaupt den IS bekämpft. Das heißt, in dieser Situation, in der eigentlich das Land im Chaos versinkt und die Menschen gar nicht mehr wissen, wie es weitergeht, die Türkei sich immer mehr in einen Failed State verwandelt, versucht Davutoglu, immer noch Wahlkampf zu machen und ein Stück auch den 1. November im Auge zu behalten.
Breker: Nun haben wir gerade gehört, Frau Akgün, dass Oppositionelle die Regierung mitverantwortlich machen für diese Anschläge oder diesen Anschlag. Völlig zu Unrecht?
Akgün: Das glaube ich nicht. Wissen Sie, die Türkei war ja schon immer ein Polizeistaat und ist in den letzten Jahren immer mehr zu einem Geheimdienststaat geworden. Geheimdienst, Mafia, Politik haben hier immer eine ungute Verbindung gehabt. Und der Leiter des Geheimdienstes, Herr Fidan, ist ja sehr eng mit dem Staatspräsidenten Erdogan verbandelt. Er wurde ja sogar als Anwärter auf den frei gewordenen Premierstuhl gehandelt. Das heißt, man kann es sich gar nicht vorstellen, dass der Geheimdienst, der jeden unbescholtenen Bürger in der Türkei abhört, nicht gewusst haben soll, dass mitten in Ankara so ein Anschlag geplant ist. Und man kann sich auch kaum vorstellen, dass die Regierung nicht informiert gewesen sein soll.
Breker: Nun lässt Erdogan wählen, weil er die absolute Mehrheit seiner AKP bei den letzten Wahlen verloren hat, eben weil die gemäßigte Kurden-Partei HDP ins Parlament einzog. Der Wahlkampf der AKP richtet sich voll und ganz gegen die Kurden, um sie klein zu halten?
Akgün: Beides. Die Kurden klein halten heißt, eigentlich nur dafür zu sorgen, dass die HDP unter der Zehn-Prozent-Hürde bleibt und damit den Sprung nicht ins Parlament schafft. Das hieße dann, dass die Stimmen, die Sitze der HDP der stärksten Partei, wobei ich davon ausgehe, dass die AKP wieder die stärkste Partei sein wird, zugeschlagen würden. Das hieße schon mal, zehn Prozent, 60 Sitze mehr. Wenn jetzt Erdogan es auch noch schafft, die MHP, die Nationalisten aus dem Parlament rauszuhalten, dann hat er gute Aussichten auf die absolute Mehrheit. Er muss die ja auch haben, denn im Moment sieht es nicht so aus, als würde er, wenn die Wahlen normal ablaufen, überhaupt über 35 Prozent kommen.
Breker: Nun ist es so, dass die Europäische Union, vor allen Dingen die Bundesrepublik Erdogan braucht für die Flüchtlingsproblematik, die gerade über Europa hereingebrochen ist. Die Bundeskanzlerin wird am Sonntag in die Türkei reisen und Erdogan treffen. Eine seltsame Wahlunterstützung für Erdogan?
Akgün: Ich muss sagen, die seltsamen Wahlunterstützungen für Erdogan haben schon am 4. Oktober angefangen, als EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, Jean-Claude Juncker und Ratspräsident Tusk alle Erdogan gefeiert und geherzt haben in Brüssel. Ich habe das nicht verstanden. Erstens habe ich nicht verstanden, dass man einen Präsidenten mit nur repräsentativen Aufgaben als Staatspräsident de facto anerkennt. Stellen Sie sich vor, man würde an Frau Merkel vorbei mit Joachim Gauck verhandeln. Das wäre auch etwas merkwürdig. Wieso man also an dem Interimspremier Davutoglu vorbei mit Erdogan in Brüssel verhandelt, habe ich nicht verstanden, halte ich auch nicht für rechtsgemäß. Und zum zweiten denke ich, dass das natürlich eine Wahlkampfunterstützung für Erdogan ist, denn wenn er nach Hause, nach Ankara fährt, wird er sagen, ich habe alle in der Tasche, alle tanzen nach meiner Pfeife. Wenn jetzt auch noch Frau Merkel zu ihm in seinen Palast reinfährt und er empfängt sie dort, dann ist das, denke ich, ein unverdientes Wahlgeschenk für die AKP.
Breker: Was lernen wir daraus? Die Türkei-Politik der Bundesregierung, worin besteht sie?
Akgün: Im Moment besteht die Türkei-Politik der Bundesregierung eigentlich in Beschwichtigung und in der Sorge um die Flüchtlinge. Es geht ja nur darum, dass man möglichst viele Flüchtlinge in der Türkei hält - ist die Türkei ein sicheres Land, wenn nach der Wahl möglicherweise Türken und Kurden aus der Türkei nach Deutschland kommen werden, um hier Asyl zu beantragen, wenn das Wahlergebnis so ausgeht, wie sich die Regierung der AKP das wünscht? Ich sage, regierende AKP, weil die Interimsregierung ja auch von der AKP gestellt wird. Und zum zweiten wird natürlich die Politik unserer Bundesregierung vor allem auch von Wirtschaftsinteressen geleitet. Die Türkei ist ein wichtiger Wirtschaftspartner der EU und Deutschlands. Die Menschenrechte bleiben auf der Strecke und all das, was eigentlich an demokratischen neuen Möglichkeiten in der Türkei entstanden ist in den letzten Jahren, bleiben auch auf der Strecke. Man kann auch nicht immer sich mit der Vorstellung rausreden, wir haben ja drei Millionen Türkischstämmige in Deutschland, deswegen müssen wir gute Beziehungen zur Türkei pflegen, weil von diesen drei Millionen Menschen gibt es auch genügend, die kritisch gegenüber dieser Regierung sind. Ich würde mir wünschen, die deutsche Politik würde sich mehr um Menschenrechtsorganisationen, um NGOs und all die anderen kümmern, die eigentlich in der Türkei versuchen, das letzte Stückchen an Demokratie aufrecht zu erhalten, statt Herrn Erdogan in dieser Situation in seinem Palast einen Besuch abzustatten. Ich muss Ihnen sagen, bei dieser Vorstellung sträuben sich sämtliche Nackenhaare.
Breker: Im Deutschlandfunk war das die SPD-Politikerin Lale Akgün. Frau Akgün, ich danke für dieses Gespräch.
Akgün: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.