"Wir brauchen einen Reformkonvent, in dem die Vertragsveränderungen in einen Dialog mit den europäischen Regierungen eingebettet werdem", sagte Lambsdorff im DLF. Dabei sei es notwendig, die in Europa verbreitete EU-Kritik aufzunehmen, sich dabei aber "nicht von Populisten treiben zu lassen".
Lambsdorff machte den britischen Premierminister David Cameron für die jüngsten Entwicklungen verantwortlich. Dieser habe "einen politischen Fehler nach dem anderen gemacht" und "die katastrophale Entwicklung" zu verantworten.
"Eine Art Mini-TTIP" verhandeln"
Für Großbritannien seien "negative wirtschaftliche Konsequenzen abzusehen", die Folgen für die EU könne noch niemand vorhersagen. Das Ziel bei den bevorstehenden Verhandlungen müsse es sein, "ein Arrangement zu finden, das den Schaden so gering wie möglich hält". Einen Rabatt für Großbritannien werde es nicht geben.
Im Grunde müsse "eine Art Mini-TTIP" verhandelt werden. Lambsdorff erwartet, dass die Gespräche bis zur nächsten Europawahl 2019 vollzogen sind.
Das Interview in voller Länge:
Tobias Armbrüster: Am Telefon ist jetzt der FDP-Europapolitiker Alexander Graf Lambsdorff, der Vizepräsident des Europäischen Parlaments. Schönen guten Morgen.
Alexander Graf Lambsdorff: Guten Morgen, Herr Armbrüster.
Armbrüster: Herr Lambsdorff, sind Sie schon angekommen in dieser neuen Zeit, in dieser EU ohne Großbritannien?
Graf Lambsdorff: Nein, da bin ich noch nicht angekommen. Ich glaube, ganz Europa ist da noch nicht angekommen. Wir reiben uns alle ein wenig die Augen, denn natürlich hatten wir gehofft, Großbritannien würde dabei bleiben. Es wird jetzt ein langwieriger technischer Scheidungsprozess beginnen. Das wird zwei, drei Jahre dauern. In dieser Zeit gibt es wahnsinnig viel Ungewissheit, negative wirtschaftliche Konsequenzen sind ohne jeden Zweifel für England abzusehen. Aber was das Ganze für die Europäische Union in der längeren Frist bedeutet, da ist, glaube ich, noch niemand angekommen.
"Beim Marktzugang wird es sehr hart zugehen"
Armbrüster: Wie soll denn die EU jetzt in ersten Schritten reagieren? Wie soll man auf die Briten zugehen?
Graf Lambsdorff: Ich glaube, eines muss klar sein: Einen Rabatt kann es jetzt nicht geben. Die britische Bevölkerung, der Souverän hat gesprochen und möchte die Europäische Union verlassen. Das ist in Ordnung, das wird bestimmte Konsequenzen haben. Das hat in allererster Linie mit dem Marktzugang für britische Produkte und Dienstleistungen zu tun. Da wird es sehr hart zugehen, da bin ich ganz sicher, denn es gibt keinerlei Anlass in Brüssel oder in den anderen nationalen Hauptstädten, Anreize für Nachahmer zu schaffen. Insofern glaube ich, dass hier diese Gespräche ziemlich schwierig werden - einerseits.
Andererseits, das will ich aber auch sagen: Großbritannien bleibt unser Nachbar, Großbritannien bleibt unser Freund. Es ist ein Land, mit dem wir vielfältige Verbindungen haben. Und ich glaube, das Ziel muss sein, dass wir ein Arrangement finden mit Großbritannien, mit diesem wichtigen Land direkt vor unserer Haustür, das auf beiden Seiten den Schaden jedenfalls so gering hält wie möglich.
Armbrüster: Erwarten Sie denn jetzt von Premierminister David Cameron, dass er diesen Austritt seinen EU-Kollegen und der EU insgesamt möglichst bald in den kommenden Tagen erklärt?
Graf Lambsdorff: Ich glaube, das muss die Konsequenz sein. Das Volk hat gesprochen, es ist ein Referendum, das David Cameron nie wollte, zu dem er getrieben wurde. Er hat einen politischen Fehler nach dem anderen gemacht. Das ist jetzt die Konsequenz. Das schottische Referendum hat er gerade so eben noch überstanden, das europäische hat er jetzt verloren. Das führt vermutlich - wir haben es eben von Herrn Meurer gehört - zu einem zweiten schottischen Referendum. Die katastrophale Entwicklung der britischen Politik hat David Cameron zu verantworten. Darauf sollte er sich konzentrieren, oder sein Nachfolger. Die Europäer müssen jetzt in die Lage versetzt werden, mit Großbritannien in dem dafür ja im Vertrag vorgesehenen Verfahren zu verhandeln, und dementsprechend muss jetzt auch die Notifizierung erfolgen. Das heißt, die Briten müssen jetzt formell mitteilen, dass sie die Europäische Union verlassen wollen. Dann kann man in die Verhandlungen eintreten.
"Nach Notifizierung dauert der Brexit zwei Jahre"
Armbrüster: Das heißt ganz klar, Sie wollen jetzt erst mal diesen Austritt Großbritanniens abschließen, möglichst zügig, und erst dann sprechen über die neuen EU-britischen Beziehungen?
Graf Lambsdorff: Nein, das geht parallel. Der Artikel 50 des europäischen Vertrages sagt ja, es ist eine Notifizierung zu überreichen, das heißt faktisch ein Dokument, mit dem der Austritt bekanntgegeben wird. Ab dann läuft die Uhr und diese Uhr, die läuft genau zwei Jahre lang. Danach ist der Austritt automatisch, es sei denn, man verlängert das Ganze einstimmig, um noch ein bisschen Zeit für Gespräche zu gewinnen. Nach meinem Dafürhalten ist klar:
Spätestens bei der nächsten Europawahl, also im Jahr 2019, muss der Austritt auch formell vollzogen sein. Es ist ja nicht vorstellbar, dass das Land nach dem Brexit-Referendum dann eine Europawahl durchführt. Das ist der Zeitrahmen, in dem alles besprochen werden muss, und das ist wahnsinnig kompliziert, denn wir reden hier tatsächlich über die Frage, wie werden britische Banken auf dem Kontinent operieren, welche britischen Produkte werden mit welchen Zollsätzen versehen werden für den Zugang zum europäischen Binnenmarkt. Das sind alles wahnsinnig komplizierte Fragen, im Grunde eine Art Mini-TTIP, das jetzt verhandelt werden muss zwischen der Europäischen Union einerseits und Großbritannien andererseits.
Armbrüster: Und Europa sollte hier mit harter Hand spielen und sich nicht etwa einreden lassen, dass es Großbritannien immer noch als engen Partner behalten soll oder will?
Graf Lambsdorff: Ich glaube, folgendes ist wichtig: Großbritannien war ja nie wirklich voll angekommen in der Europäischen Union. Für uns als Deutsche war Großbritannien ein guter Partner in vielen wirtschaftspolitischen Fragen. Aber Großbritannien ist kein Mitglied der Eurozone, Großbritannien ist kein Mitglied der Schengen-Zone, des Schengen-Raumes. Großbritannien hat die Anwendung der Grundrechte-Charta nicht für sich übernommen. Mit anderen Worten: Großbritannien ist ein Land, das sowieso immer mit einem Fuß in der Europäischen Union stand und mit dem anderen Fuß außerhalb der Europäischen Union.
"Wir brauchen einen Reformkongress"
Armbrüster: Na ja, Herr Lambsdorff. Da gibt es aber inzwischen so einige Länder, die ein ähnliches Vorgehen haben. Das Ganze ist doch sicher auch ein Sieg für die Euroskeptiker überall in Europa.
Graf Lambsdorff: Nein! Es gibt kein Land, das vergleichbare Opt-outs hat. Das einzige Land, das einigermaßen vergleichbar wäre, wäre Dänemark. Das hat auch ein formelles Opt-out aus dem Euro und einige Reservierungen, Vorbehalte in der Justiz- und Innenpolitik. Aber im Großen und Ganzen ist es so: Es gibt natürlich eine Diskussion über die Frage, wie geht es mit Europa weiter, und es gibt euroskeptische Stimmen. Sie haben völlig Recht, Herr Armbrüster. Das würde auch niemand bestreiten wollen. Deswegen, glaube ich, ist auch eines jetzt notwendig für die anderen Europäer, wenn wir mal von London sozusagen zurück auf den Kontinent gehen: Wir brauchen einen Reformkongress. Wir brauchen jetzt einen großen Konvent, in dem die Vertragsänderungen, die objektiv notwendig werden durch den britischen Austritt, eingebettet werden in einen großen Dialog der europäischen Institutionen und der nationalen Regierungen mit den Bürgerinnen und Bürgern darüber, welches Europa wollen wir eigentlich.
Armbrüster: Wenn Sie jetzt, Herr Lambsdorff, sagen, Konvent, dann kommt wahrscheinlich auch gleich mehr Integration, die wir brauchen, und da kann ich schon hören, wie sich zum Beispiel die AfD, Pegida und andere Europaskeptiker die Hände reiben.
Graf Lambsdorff: Nein! Das hat nichts mit mehr Integration zu tun, sondern ich glaube, was jetzt notwendig ist, und das ist der Punkt, an dem wir uns sicher nicht treiben lassen sollten von irgendwelchen Populisten, sondern ernsthaft das aufnehmen, was an Europakritik da ist von den Bürgerinnen und Bürgern, und Dialogveranstaltungen organisieren müssen, warum wollen wir dieses Europa, wozu brauchen wir dieses Europa. Ich glaube, dass in Südeuropa die soziale Krise noch nicht überwunden ist. Wir haben eine sehr hohe Arbeitslosigkeit. Wir müssen in der Terrorismusbekämpfung gemeinsam vorgehen. Wir brauchen eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik, die diesen Namen auch verdient. Das sind Dinge, bei denen man sicher mehr zusammen machen kann.
Es gibt andere Gebiete, da kann man auch Kompetenzen sicher zurückverlagern, aber darüber sollte man nicht in Brüssel in einem Konvent hinter verschlossenen Türen von Experten entscheiden lassen, sondern das muss jetzt ein breit angelegter Prozess sein, der sicher auch eine gewisse Zeit dauern wird, in den man aber die Bürgerinnen und Bürger einbeziehen muss. Das ist jedenfalls die Forderung, die wir als Liberale hier erheben, denn ich glaube, die Zeit der Entscheidungen von Eliten in Brüssel hinter verschlossenen Türen, die neigt sich dem Ende zu.
Armbrüster: Es wird ein spannender Tag. Es liegen vor uns spannende Tage, Wochen und Monate. Großbritannien tritt aus der Europäischen Union aus - wir hörten dazu live hier im Deutschlandfunk Alexander Graf Lambsdorff, den Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments. Vielen Dank, Herr Lambsdorff, für Ihre Zeit heute Morgen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.