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Lammert: Multikulturalität neu definieren

Bundestagspräsident Norbert Lammert spricht sich angesichts der Auseinandersetzungen zwischen westlicher und islamischer Welt um die Mohammed-Karikaturen für ein neues Verständnis von Multikulturalität aus. "Multikulturalität kann nicht bedeuten, dass in einer Gesellschaft alles gleichzeitig und damit nichts mehr wirklich gilt", sagte der CDU-Politiker. Es gebe Situationen, "in denen entschieden werden muss, was gilt, wenn sich unterschiedliche Erwartungen und Ansprüche gegenüber stehen".

Moderation: Christine Heuer |
    Christine Heuer: Am Telefon ist Norbert Lammert, Bundestagspräsident und derjenige, der zuletzt eine Debatte angemahnt hat, über die deutsche Leitkultur. Guten Morgen, Herr Lammert!

    Norbert Lammert: Guten Morgen, Frau Heuer!

    Heuer: War die Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen aus ihrer Sicht ein Fehler?

    Lammert: Ja, die Politik hat nach unserem Verständnis ja nicht die Frage zu beurteilen und schon gar nicht zu entscheiden, ob und was zu welchem Zeitpunkt Zeitungen oder Medien veröffentlichen sollen oder dürfen. Ich habe aber, wie viele andere, keinen Zweifel daran, dass hier wie an manchen anderen Stellen auch, mit einem sehr sensiblen Thema sehr leichtfertig, sehr gedankenlos, vielleicht auch bewusst provozierend umgegangen worden ist.

    Heuer: Das liegt im Wesen der Karikatur.

    Lammert: Das ist richtig, und deswegen habe ich ja auch gesagt, das ist nicht unsere Aufgabe zu entscheiden, ob das im Einzelfall vernünftig, notwendig und angemessen ist. Es gehört zu unserem Verständnis von Pressefreiheit, dass dies allein im Urteilsvermögen der jeweiligen Journalisten, der Zeitungen und ihrer Verlage liegt.

    Heuer: Immerhin hat die Veröffentlichung und haben die Reaktionen darauf, eine Diskussion über Werte ausgelöst hierzulande, die fremden Werte und die eigenen. Ist das der Beginn der Leitkulturdebatte, die sie gefordert haben?

    Lammert: Glücklicherweise hat diese Diskussion ja nun doch seit einigen Wochen oder Monaten mit der Ernsthaftigkeit begonnen, die ihr zunächst verweigert worden war. Und leider häufen sich ja auch in letzter Zeit die Anlässe und die Erfahrungen, die die Unvermeidlichkeit einer solchen Selbstverständigung unserer Gesellschaft über gemeinsame Grundlagen und ein Mindestmaß an gemeinsamen Orientierungen verdeutlichen. Wobei ich noch mal gleich zu Beginn klar stellen möchte: Ich spreche ganz bewusst nie von deutscher Leitkultur, weil das, was für die in Deutschland grundlegende Kultur prägend ist, weit über nationale Grenzen hinausgeht. Wenn überhaupt, müssten wir von einer europäischen Kultur sprechen, zu der Deutschland ganz wesentliche Beträge geleistet hat. Deutsch ist mit Blick auf die Kultur, die uns in unserem Land wichtig sein muss, die Sprache. Und dazu gibt es ja interessanterweise inzwischen auch eine ganz breite Übereinstimmung, dass die gemeinsame Beherrschung und vor allen Dingen auch Nutzung dieser Sprache, eine der Voraussetzungen für das Zusammenleben und damit übrigens auch eine der Voraussetzungen für Multikulturalität ist.

    Heuer: Obwohl auch darüber nach wie vor gestritten wird, hierzulande zum Beispiel zuletzt im Fall der Herbert-Hoover-Schule in Berlin.

    Lammert: Ja, dass gestritten wird, ist ja nicht zu beanstanden. Aber inzwischen wird mindestens öffentlich gestritten, und es wird mit Argumenten gestritten. Wir haben zu lange diesen Prozess der Klärung und der Verselbstständigung schlicht verweigert. Und dann wird ja auch meist nach wenigen Tagen der Debatte deutlich, dass oft erste Einschätzungen auf unvollständiger Kenntnis der Sachverhalte beruhen. Ich selber gehöre zu denjenigen, die zunächst einigermaßen verblüfft und auch ein bisschen erschrocken waren, als ich von der vermeintlichen Auflage oder Vorgabe hörte, dass auch außerhalb des Unterrichts auf dem Schulhof Deutsch gesprochen werden müsse . Bis ich dann hörte, dass dies keineswegs die Vorgabe der Berliner Schulverwaltung ist, sondern eine Vereinbarung, die die Schulkonferenz in Übereinstimmung von Lehrern, Eltern und Schülern getroffen hat. Das ist nicht nur im Zustandekommen einer solchen Vereinbarung ein prinzipieller Unterschied, es ist vor allen Dingen ein Fortschritt sozusagen in der Erkenntnis von unvermeidlichen Mindestbedingungen des Zusammenlebens, den man eigentlich nicht hoch genug einschätzen kann.

    Heuer: Mindestbedingungen sind notwendig im Zusammenleben, auch gemeinsame Werte, das haben sie gerade gesagt. Die Muslime, die jetzt demonstrieren oder kritisieren, die wissen ja sehr deutlich, worauf sie sich berufen, nämlich auf ihren Glauben. Kennen die Europäer eigentlich ihren eigenen Standpunkt in dieser Debatte?

    Lammert: Ja, sie sprechen damit einen ganz wunden Punkt an. Die Verdrängung und auch Verweigerung der Debatte, über deren Notwendigkeit wir jetzt einmal mehr sprechen, hat ja auch damit zu tun, dass viele Menschen gegenüber der sie selbst prägenden Kultur gleichgültig, nachlässig, gedankenlos geworden sind, und dass viele Dinge für selbstverständlich gehalten werden, von denen jedes genauere Hinsehen deutlich macht, dass sie kulturelle Voraussetzungen haben. Wir haben beispielsweise ständig den Hinweis auf die in Deutschland geltende Verfassung und auf die in Deutschland geltenden Gesetze. Das ist auch zweifellos richtig. Aber genau so richtig und oft verdrängt ist, dass alle diese Vorgaben, dass eine Verfassung und dass Gesetze, kulturelle Voraussetzungen haben, der jüngste Streit um die Pressefreiheit macht das doch in einer ganz besonderen Weise deutlich. Solche Vereinbarungen, solche Ansprüche, fallen ja nicht vom Himmel. Sie kommen zu Stande auf Grund von historischen Erfahrungen und von Überzeugungen, die es in einer Gesellschaft gibt. In diesem Fall von der Überzeugung, dass es eine unabhängige durch staatliche Eingriffe nicht zu zensierende Presse geben muss, wenn eine Gesellschaft ihre Liberalität nicht verlieren will. Und deswegen ist die Wiederherstellung solcher Zusammenhänge zwischen, bleiben wir bei diesem Beispiel, Rechten und Ansprüchen auf der einen Seite und kulturellen Überzeugungen auf der anderen Seite ganz unverzichtbar.

    Heuer: Über den Glauben, der sozusagen das Fundament ist eines möglichen Dialoges mit dem Islam, im Islam haben wir jetzt schon gesprochen. Sie haben das Beispiel Pressefreiheit als einen europäischen Grundwert genannt. Wenn man über diese Grundwerte spricht, dann ist immer die Rede von der freiheitlich-demokratischen Grundordnung oder von Werten des christlichen Abendlandes. Herr Lammert, ist das nicht alles viel zu abstrakt, um in einen Dialog mit einer so leidenschaftlich agierenden Gruppe wie dem Islam zu geraten?

    Lammert: Ja, wenn man diese Diskussion alleine als akademische Diskussion führen wollte, und damit missverstünde, wäre sie vermutlich zu abstrakt. Aber wir führen ja beispielsweise dieses Gespräch miteinander, weil es Anlässe gibt, in diesem Fall eine heftige, leidenschaftliche, leider auch gewalttätige Auseinandersetzung über die Unverzichtbarkeit auf der einen Seite und mögliche Grenzen der Pressefreiheit auf der anderen Seite. Das heißt, in der Lebenswirklichkeit geht es eben nicht um abstrakte Prinzipien, sondern um konkrete Erwartungen und Ansprüche und auch sich daraus ergebende Schwierigkeiten. Und dass im Übrigen oft bei Menschen islamischen Glaubens, Hintergrund, diese religiös geprägten Überzeugungen viel unmittelbarer das Verhalten bestimmen, als wir das im Westen gewohnt sind, gehört zu den auch eher schwierigeren Erfahrungen, die wir in diesen Wochen und Monaten einmal mehr machen müssen.

    Heuer: So etwas wie Leitkultur setzt sich natürlich aus Gemeinsamkeiten zusammen, über die wir uns, wie sie sagen, selbst verständigen müssen. Geht es nicht aber auch um Abgrenzung zu anderen Kulturen, ist das wichtig? Beispiel: Jetzt, wo die Demonstranten mit Gewalt versuchen, ihre Werte, ganz konkret das Abbildungsverbot, in Europa durchzusetzen, muss sich da Europa nicht entschieden wehren?

    Lammert: Ja, selbstverständlich. Deswegen ist ja auch diese wiederum bestenfalls gut gemeinte, aber bei genauerem Hinsehen gedankenlose Vorstellung von Multikulturalität inzwischen an ein offensichtliches Ende gekommen. Multikulturalität kann nicht bedeuten, dass in einer Gesellschaft alles gleichzeitig und damit nichts mehr wirklich gilt. Es gibt Situationen, in denen entschieden werden muss, was gilt, wenn sich unterschiedliche Erwartungen und Ansprüche gegenüber stehen. Und das gilt etwa für die Frage der Gleichberechtigung von Mann und Frau wie für die Frage der, bleiben wir beim aktuellen Beispiel, Unaufgebbarkeit der Pressefreiheit. Wenn dies mit noch so historisch nachvollziehbaren kulturellen Argumenten bestritten wird, muss gleichwohl gelten, dass es bei uns Anspruch auf Durchsetzung hat, und es muss dann auch gegebenenfalls durchgesetzt werden. Aber zur Verständigung einer Gesellschaft gehört dann eben der Dialog über diesen Zusammenhang und die Gründe für diese Art von Geltungsanspruch, und dabei fällt ja im Übrigen immer häufiger auf, dass es oft Mitbürgerinnen und Mitbürger mit Migrationserfahrungen sind, die die Geltung dieser in Deutschland vorhandenen Normen ausdrücklich reklamieren, weil das einer der Gründe dafür ist, warum sie hier leben wollen und nicht in ihren Herkunftsländern, in denen sie solche Ansprüche nicht reklamieren können.

    Heuer: Das macht Mut. Immer mehr Kommentatoren, Herr Lammert, bemängeln inzwischen die Reaktionen auf das, was da in den islamischen Ländern geschieht. Die seien hierzulande viel zu lau. Das ist eine Kritik, die sie nicht teilen, wenn ich sie richtig verstehe?

    Lammert: Das habe ich jetzt nicht richtig verstanden.

    Heuer: Es gibt immer mehr Kommentatoren, die inzwischen bemängeln, die Reaktionen im Westen auf die Gewaltakte in den islamischen Ländern, die seien zu zurückhaltend, zu lau, zu ängstlich.

    Lammert: Ich weiß nicht, ob man das so allgemein sagen kann. Offenkundig sind da übrigens die Wahrnehmungen auf beiden Seiten auch unterschiedlich. Es gibt ja nun umgekehrt in manchen Zeitungen und Medien in islamisch dominierten Ländern die genau umgekehrte Kritik einer vermeintlich zu heftigen kritischen Auseinandersetzung mit diesen Vorgängen. Also, das, finde ich, muss man schon aushalten. Und dass im Übrigen sich auch bei uns da in den Einlassungen zu diesem Thema nicht nur unterschiedliche Temperamente niederschlagen, sondern übrigens auch unterschiedliche Gewichtungen ein und dergleichen Vorgänge, das finde ich vollkommen in Ordnung. Jedenfalls schließe ich mich ausdrücklich denjenigen an, die das leidenschaftliche Bekenntnis zur Pressefreiheit mit dem ausdrücklichen Hinweis verbinden, dass damit im Ergebnis nicht jede Geschmacklosigkeit, jede Gedankenlosigkeit gewissermaßen auf die Höhe eines Verfassungsanspruchs gehoben werden darf.

    Heuer: Norbert Lammert, Bundestagspräsident und CDU-Politiker. Danke für das Gespräch.

    Lammert: Gerne.