In Lampedusa sind in den vergangenen Wochen ungewöhnliche viele Flüchtlinge auf Schlepperbooten angekommen, die Insel ist mit dem Ansturm überfordert und hat den Notstand ausgerufen. An einem einzigen Tag waren es rund 5000 Menschen, die Lampedusa erreichten, an anderen kamen einige Hundert. Die meisten der Boote starten an der nordafrikanischen Küste, sie kommen vor allem aus Tunesien. Die Lage auf Lampedusa ist auch Ausdruck einer europäischen Flüchtlingspolitik, die keine nachhaltigen Lösungen findet.
Wie ist die Situation derzeit auf Lampedusa?
Lampedusa steht seit Jahren im Mittelpunkt der illegalen Migration nach Europa. Die Insel ist nur rund 190 Kilometer von der tunesischen Hafenstadt Sfax entfernt, von wo Berichten zufolge die meisten Schlepperboote in See stechen. In den letzten Wochen kamen etliche tausend Migrantinnen und Migranten auf Lampedusa an. Infolgedessen kam es dort zu chaotischen Szenen. Einsatzkräfte drängten an der Anlegestelle im Hafen die Schutzsuchenden zurück. Zum Teil landeten ohne Pause Flüchtlinge an, alle paar Minuten kam ein neues Boot.
Der Stadtrat rief den Notstand aus. Das Erstaufnahmelager auf Lampedusa bietet offiziell Platz für 600 Menschen, zeitweise hielten sich dort 6800 Geflüchtete auf. Ungefähr genauso viele Einwohner hat die Insel: rund 6500. Viele von ihnen kümmern sich um die Ankommenden, bei anderen ist die Stimmung gereizt. Immer wieder versuchten Migranten, den Hafen zu verlassen und Absperrungen zu durchbrechen. Die Geflüchteten werden von Lampedusa aus in Aufnahmereinrichtungen nach Sizilien und auf das italienische Festland gebracht.
Wie reagiert die italienische Regierung?
Die rechtsgerichtete Regierung in Italien steht stark unter Druck. Regierungschefin Giorgia Meloni hatte 2022 im Wahlkampf mit schrillen Tönen versprochen, die Migration nach Italien massiv einzuschränken - nun verzeichnet das Mittelmeerland Ankunftszahlen in Rekordhöhe.
Die Rhetorik ist immer noch schrill. Der stellvertretende Regierungschef Matteo Salvini von der Lega hat die Ankunft der vielen Flüchtlinge auf Lampedusa als einen „Kriegsakt“ bezeichnet. „Wenn 120 Schiffe in wenigen Stunden ankommen, ist das nicht spontan. Offensichtlich ist das organisiert, finanziert und vorbereitet. Das ist ein Akt des Krieges“, sagte er.
Meloni will Marine einsetzen
Meloni forderte bei einem Besuch mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf Lampedusa ein gemeinsames Vorgehen der 27 EU-Staaten sowie weitere Migrationsabkommen mit den nordafrikanischen Staaten. "Wir müssen die irreguläre Migration stoppen", sagte Meloni.
Alle EU-Staaten müssten dabei zusammenarbeiten und dürften nicht "aus ideologischen Gründen" andere Positionen beziehen. Die bloße Verteilung der Migranten unter den EU-Ländern löse das Problem nicht. Man müsse verhindern, dass die Schiffe in Nordafrika überhaupt ablegten.
Das will die italienische Regierungschefin notfalls auch mit einer EU-Mission und dem Einsatz der Marine erreichen, wie sie deutlich machte. Auch gegen Migranten, die bereits im Land sind, hat sie eine härtere Gangart angekündigt.
Was will die EU tun, um Italien zu helfen?
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat einen Zehn-Punkte-Plan angekündigt und andere EU-Staaten zur Solidarität mit Italien aufgefordert. "Irreguläre Migration ist eine europäische Herausforderung und wir müssen sie europäisch lösen", sagte sie bei einem Besuch auf Lampedusa. Die EU-Staaten und nicht die Schlepper müssten entscheiden, wer in die Union komme.
Zum angekündigten Zehn-Punkte-Programm gehört, die Hilfe für die tunesische Küstenwache zu beschleunigen. Von der Leyen warb zudem für eine Ausweitung der legalen Zuwanderung – damit könne man das Geschäftsmodell der Schlepper unterlaufen. Zudem müsse geprüft werden, ob eine neue Militärmission im Mittelmeer notwendig sei, um die Schlepper besser überwachen zu können. Die EU will den nordafrikanischen Staaten außerdem Gegenleistungen anbieten, damit diese gezielter gegen Schlepper an ihren Küsten vorgehen.
Abkommen mit Tunesien
Die EU-Kommission hat Tunesien rund 127 Millionen Euro zugesagt, um die Migration über das nordafrikanische Land zu verringern und die schwächelnde Wirtschaft anzukurbeln. Rund 67 Millionen Euro davon sollen im Zusammenhang mit einer umstrittenen Migrationsabsprache der EU-Kommission mit Tunesien bereitgestellt werden. Dazu kommen noch 60 Millionen Euro Haushaltsunterstützung, damit sich das Land von der Corona-Krise erholt.
Einen Teil des Pakets ist für neue Schiffe und Wärmekameras, Such- und Rettungsaktionen, Maßnahmen gegen Schleuser und Rückführung von Flüchtlingen. Das Geld solle unter anderem helfen, die Situation auf der italienischen Insel Lampedusa zu verbessern. Zudem wurden dem Land günstige Darlehen in Höhe von bis zu 900 Millionen Euro zur längerfristigen wirtschaftlichen und finanziellen Stabilisierung in Aussicht gestellt. Teile des Abkommens sind umstritten, weil der tunesischen Regierung Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden.
Wie hat sich die Bundesregierung positioniert?
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hat sich hinter Pläne von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gestellt, angesichts der vielen Überfahrten von Migranten die Überwachung der EU-Außengrenze im Mittelmeer zu Luft und zu See zu verstärken. „Wir werden es nicht anders machen können“, sagte sie in der ARD. „Ansonsten kriegen wir die Migrationslage so nicht in den Griff.“
Faeser spricht derzeit mit ihren Amtskollegen aus Spanien, Italien und Frankreich über die Lage im Mittelmeer und kündigte an, man wolle einen gemeinsamen Aktionsplan auf den Weg bringen.
Zugleich hat Deutschland aber sein Programm zur zusätzlichen Aufnahme von Migranten aus Italien gestoppt, weil die Regierung in Rom ihre Verpflichtungen zur Rücknahme von Schutzsuchenden nach den sogenannten Dublin-Regeln nicht einhalte. Von mehr als 12.400 Übernahmeersuchen an Italien durch die Bundesregierung in bis Ende August 2023 seien bislang nur zehn von Italien akzeptiert worden, heißt es in Berlin.
Doppelt so viele Flüchtlinge wie 2022
In diesem Jahr sind laut dem Innenministerium in Rom rund 126.000 Migranten illegal nach Italien eingereist, fast doppelt so viele wie im gleichen Zeitraum 2022. Nur rund die Hälfte stellte aber in dem Land einen Asylantrag - in Deutschland ohne EU-Außengrenze sind es dagegen schon mehr als 200.000.
Eigentlich sind die EU-Außengrenzstaaten verpflichtet, die Ankommenden zu registrieren und die Asylverfahren dort beginnen zu lassen. Um sie zu entlasten, war ein Verteilungsmechanismus eingeführt worden. Dieser Mechanismus ist allerdings freiwillig, weil sich osteuropäische Länder wie Polen weigern, Migranten und Flüchtlinge aus den südlichen EU-Staaten aufzunehmen.
Ist die EU-Flüchtlingspolitik gescheitert?
Die EU-Flüchtlingspolitik ist stark umstritten und seit vielen Jahren von Uneinigkeit und der Weigerung osteuropäischer Staaten, Flüchtlinge aufzunehmen, geprägt. Auch auf die humanitäre Katastrophe im Mittelmeer mit Tausenden von ertrunkenen Flüchtlingen hat die Staatengemeinschaft bisher keine Antwort gefunden.
Zuletzt hatten sich die EU-Staaten auf eine Verschärfung des Asylrechts geeinigt. Künftig soll es möglich sein, Asylverfahren bereits an den EU-Außengrenzen durchzuführen. Dazu sollen Asylzentren in Grenznähe entstehen. Ziel ist, dass Migranten mit geringen Aufnahmechancen erst gar nicht in die EU gelangen. Für Pro Asyl ist die geplante Reform ein „Frontalangriff auf das Asylrecht“. Amnesty International äußerte sich ähnlich.
Gegen internationales Recht
Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn warnt vor dem Hintergrund der Situation auf Lampedusa ausdrücklich davor, Vorschläge zu machen, die nicht realisierbar seien. So sei es nicht möglich, mit der Marine Schiffe auf hoher See zu stoppen: „Das ist gegen internationales Recht.“ Über den Meerweg sei Europa nicht „abzudichten“.
Auch das Abkommen mit Tunesien sieht Asselborn kritisch. Dieses könne nicht schnell umgesetzt werden - und es sollte auch kein europäisches Geld in ein Land fließen, bei dem man nicht wisse, ob dort internationales Recht und die Grundrechte der Migranten überhaupt respektiert würden.
Der grüne Europaparlamentarier Erik Marquardt sieht das genauso – solche Abkommen müssten im Ergebnis mehr Menschenrechte und mehr Demokratie erzeugen. Marquardt betrachtet die Flüchtlingspolitik der EU als grundsätzlich gescheitert. Schon 2015 sei klar gewesen, „dass wir dort bessere Lösungen brauchen“. Doch in den letzten acht Jahren sei wenig passiert, außer, dass einfache Lösungen versprochen worden seien, die dann in der Praxis nicht funktionierten.