In der "Großen Geschichte einer kleinen Insel" – so der Untertitel - durfte das folgende Zitat natürlich nicht fehlen. Es stammt von Giusy Nicolini, die am 9. November 2012 per Telefon einen offenen Brief an ganz Europa verlas.
"Ich bin die neue Bürgermeisterin der Inseln Lampedusa und Linosa. Im Mai 2012 bin ich gewählt worden, am 21. November sind mir bereits 21 Leichen übergeben worden. Diese Menschen sind ertrunken, als sie versuchten, Lampedusa zu erreichen. Das ist für mich unerträglich. Für Lampedusa ist es eine immense Bürde und ein Schmerz (…). Ich frage Sie alle: Wie groß soll der Friedhof meiner Insel werden?"
Lampedusa – der Schlagbaum Europas und "Ein Spiegel Europas", wie der ZEIT-Redakteur Ulrich Ladurner findet. Der – wie viele andere, die seit Jahren von den Tragödien an Italiens Außengrenzen berichten - nie hätte ahnen können, dass der Name dieses eher desolaten Felsens im Herzen des Mittelmeers heute in aller Munde ist. Das Eiland ist zum Symbol einer neuen Epoche globaler Umwälzungen geworden. Ulrich Ladurner hat diesen Wandel über 20 Jahre lang verfolgt, bis er sich entschlossen hat, die kargen Zeugnisse aus der Vergangenheit zu sammeln, um der aktuellen politischen Bedeutung des Symbol–Ortes Lampedusa auch eine historische Dimension zu geben. Die kommt bei der tagesaktuellen Berichterstattung über Massensterben und Masseneinwanderung stets zu kurz. Der Autor hat gute Arbeit geleistet und weithin unbekanntes, aber durchaus interessantes Material vor allem aus der Literatur zusammengetragen.
Im "Orlando Furioso" von Ludovico Ariosto, verfasst Anfang des 16. Jahrhunderts, hat Ladurner folgende Passage gefunden:
"Eine kleine Insel ohne Häuser, voll niedrig wachsender Myrte und Wacholder. In glücklicher Abgeschiedenheit für Hirsche, Rehe, Hasen. Außer den Fischern ist sie kaum jemandem bekannt. Wo die feuchten Netze zum Trocknen auf Bäumen hängen: Und die Fische derweil in ruhigem Meere schlafen."
Spurensuche auf der Insel, die schon Shakespeare beschäftigte
Dieses Inselidyll hat ein knappes Jahrhundert später William Shakespeare in seinem Drama "Der Sturm" als Anlaufstelle für den schiffbrüchigen König Alonso von Neapel ausersehen. Ladurner macht sich auf die Spurensuche.
"Ich fahre in den Westen der Insel... Wie weit ich auch fahre, ich finde keinen Zugang zum Meer, überall nur steile Küste, an der Schiffbrüchige vom tosenden Meer zerschmettert würden. (…) Lampedusa ist ein schroffer, abweisender Felsen im Meer und keine einladende Insel. Nach kurzer Zeit erreiche ich den Hafen. Alonso und seine Gefolgsleute könnten hier gelandet sein, das ist eine der wenigen Stellen, wo die Insel sich öffnet und ihre schmalen Arme ausbreitet um Schiffe zu empfangen."
Inzwischen sind es lange Tentakeln, die weit nach Süden reichen. Die Mannschaften von Grenzschutz und Küstenwache bergen oft viele Meilen entfernt überladene Flüchtlingsboote, bevor diese in der rauen See untergehen. Am Drama der Schiffbrüchigen, der fiktiven wie der realen, hangelt sich Ladurner geschickt durch die Jahrhunderte: Vom Genueser Admiral Andrea Doria, dessen Flotte beim Verfolgen der Barbaresken in Lampedusa zerschellte, über König Alonso bis hin zum britischen Bomberpiloten Syd Cohen, der im Jahr 1943 wegen Treibstoffmangels auf Lampedusa notlanden musste. Statt ihn festzunehmen, ergaben sich die italienischen Soldaten spontan. Cohen wurde zum Helden eines skurrilen Theaterstücks mit dem Titel "Der König von Lampedusa", darin wird die kleine Insel sogar zu einem unabhängigen jüdischen Staat erklärt. Lampedusa reizt zu Utopien, denn, so Ladurner:
"Lampedusa ist ein Versprechen. Das war es im Laufe seiner Geschichte, und das ist es heute. Es ist das Versprechen auf Rettung und Erlösung. Doch Lampedusa kann es nicht halten. Denn die Insel ist abhängig, klein und schwach. Sie ist überfordert."
Facettenreicher Überblick über die Probleme der Insel
In Lampedusa spiegelt sich aber auch die Hilflosigkeit der Italiener und der Europäer angesichts der ankommenden Flüchtlinge. Zu Recht geißelt der Autor die "Gnadenlosigkeit der italienischen Flüchtlingspolitik", die sogar jenen mit Strafen droht, die die Menschen auf hoher See retten wollen. Und das "unwürdige Geschacher um Flüchtlingszahlen", das jedes Mal ausbricht, wenn Unglücke geschehen, wie zuletzt am 3. Oktober 2013 mit 366 Toten, als ein Schiff sank, das sich schon in den "ausgebreiteten Armen" der Insel befand. Düster-prophetisch derAppell von Bürgermeisterin Giusy Nicolini genau ein Jahr zuvor, dessen vollen Wortlaut Ladurner lobenswerterweise in sein Buch aufgenommen hat:
"Ich bin empört über die Gewöhnung an diese Tragödie, die alle erfasst zu haben scheint. Ich bin empört über das Schweigen Europas, das soeben den Friedensnobelpreis erhalten hat und das angesichts dieses Massakers, das an einen Krieg erinnert, nichts sagt."
Ulrich Ladurners kleines, aber facettenreiches Lampedusa–Kompendium ist eine interessante, sprachlich fein ziselierte und inhaltlich hilfreiche Ergänzung zur plakativen und oft sensationslüsternen Lampedusa-Berichterstattung. Es wirft ein Licht auf die Geschichte, seine Bewohner und ihren Umgang mit der besonderen Lage, die aus Lampedusa jenen Spiegel macht, der der Festung Europa immer wieder vorgehalten wird. Aber auch den Ort in Europa, an dem die Menschen mehr als sonst irgendwo fest an eine Zukunft und den Neuanfang glauben: Hoffnungsträger des zukünftigen Europa.
Ulrich Ladurner: "Lampedusa. Große Geschichte einer kleinen Insel". Residenz Verlag, 144 Seiten, € 19,90, ISBN: 978-3-701-73331-6