Archiv

Lamya Kaddor
Reden statt schweigen

Die Religionslehrerin und Autorin Lamya Kaddor erhält den Duisburger Integrationspreis, als Brückenbauerin zwischen Muslimen und Mehrheitsgesellschaft. Die Islamwissenschaftlerin erhält Morddrohungen und ist inzwischen beurlaubt. Bei ihrer These von der Bringschuld gegenüber Einwanderern bleibt sie.

Von Moritz Küpper |
    Eine junge Frau mit langen Haaren, die aus dem Mittleren Osten stammen könnte, schaut nachdenklich zur Seite. Sie trägt ein rotes Jacket. Es ist die Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor.
    Lamya Kaddor, Islamwissenschaftlerin, am 19.11.2015 während der ZDF-Talksendung "Maybrit Illner". (picture alliance / dpa-Zentralbild / Karlheinz Schindler)
    Der Klassenraum der 8b der Friedrich-Althoff-Schule in Dinslaken am Dienstagmorgen vergangene Woche. Es ist kurz nach acht Uhr, erste Stunde, islamischer Religionsunterricht.
    "Worüber haben wir letzte Woche den Test geschrieben?"
    Lamya Kaddor, 38 Jahre alt, schwarze Haare, trägt eine blaue Hose, schwarze Bluse, lange Ohrringe. Sie steht vor 25 Jungen und Mädchen der achten Klasse. Es sind Kinder, deren Eltern aus Mazedonien, Albanien, der Türkei, dem arabischen Raum, aber auch aus Deutschland stammen. Während in anderen Räumen katholischer oder evangelischer Religionsunterricht läuft, findet hier der muslimische statt. Es geht um den Test in der letzten Stunde: Tuscheln in der Klasse, einige Hände gehen hoch. Ein Junge guckt verlegen, er hatte etwas zu seinem Nachbarn genuschelt.
    "Dumm, ne, wenn die Lehrerin arabisch kann."
    Gelächter. In den nächsten Minuten geht es um die Monate im islamischen Kalender. Es wird, das weiß in diesem Moment noch niemand, Kaddors vorläufig letzte Schulstunde sein. Am Morgen hatte sie – mal wieder – eine E-Mail bekommen: Heil Hitler – sie solle vergast werden. Der Staatsschutz war bereits eingeschaltet, als Kaddor zur Schule fährt. Und für den Augenblick gelingt es ihr, so wirkt es zumindest, die vielen Drohungen der letzten Tage, auszublenden.
    "Der siebte Monat ist Radschab. Der …"
    "Nicht Radschab. Nicht türkisch aussprechen. Sag es noch mal. Radschab."
    "Radschab." - "Ja."
    Sie stilisiere sich als Opfer, fordere zu viel - sagen Kritiker
    Erst kürzlich besuchte Bundestagspräsident Norbert Lammert Kaddors Unterricht. Denn: Die in Ahlen, Westfalen, geborene deutsche Tochter zweier Syrer glaubt an Allah, bezeichnet sich selbst als Verfassungspatriotin und gilt als Verteidigerin eines sanften Islam. Doch: Kaddor ist auch streitbar. Ihre Kritiker sagen, sie stilisiere sich als Opfer, fordere zu viel. Und das tut sie nicht nur in Büchern, Gastbeiträgen und Talkshows, sondern auch hier im Unterricht, als ein Junge vom Schönheitsideal der komplett verschleierten Frau schwärmt:
    "Kopftuch ist was anderes als eine Ganzkörperverschleierung. Ist doch ein Unterschied, ob ich ein Kopftuch trage, normale Klamotten oder ob ich von oben bis unten in Schwarz… das ist ein Unterschied."
    Ihr Ton ist direkt. Dem Jungen fehlen die Argumente. Es ist dieser Stil, dieser Zugang, mit dem Kaddor seit ihrem Unterrichtsbeginn im Jahr 2003 viel erreicht hat.
    "Es bricht so langsam tatsächlich auf. Aber wenn ich das heute mit früher vergleiche, da gibt es hier mittlerweile durchaus Mädchen, die einen Freund haben und das auch nicht verheimlichen müssen oder tabuisieren müssen."
    Ihre letzte Schulstunde ist nun rum. Obwohl Kaddor zu diesem Zeitpunkt davon noch nichts ahnt, gibt es nicht nur bei den Schülern in Dinslaken eine Entwicklung, sondern auch anderswo, in der Gesellschaft:
    "Also, dass ich auf das Übelste beschimpft und verunglimpft werde, das ist Alltag, dass ich Morddrohungen bekomme, ist nicht Alltag, aber es kommt in der letzten Zeit, seit Erscheinen dieses Buches und ist gerade einmal eine Woche her, doch regelmäßig vor."
    Keine 24 Stunden später ist die Entscheidung gefallen. Kaddor lässt sich beurlauben. Bis zu den Sommerferien 2017, trotz des Verdienstausfalls. Sie fürchte um ihr Leben und das ihrer Schüler und Kollegen. Es folgt eine umfangreiche Berichterstattung - auch im Deutschlandfunk erklärte Kaddor ihre Beweggründe. Eine Werbemaßnahme für ihr Buch, unterstellte ihr daraufhin eine Kritikerin in einem Blogeintrag – und sah dies einzig dadurch belegt, dass Kaddor eine familiäre Beziehung zu einem Mitarbeiter des Deutschlandfunks habe. Dass das mit dem Zustandekommen des Interviews nichts zu tun hatte, spielte keine Rolle. Zumal auch zahlreiche weitere Medien den Vorfall aufgriffen:
    "Live aus Berlin, das Thema bei "Anne Will": Ungarn will keine Muslime. Wird Islam-Feindlichkeit in Europa salonfähig?"
    Reden statt schweigen
    Der vergangene Sonntagabend. Nach all den Schlagzeilen der vergangenen Tage, all den Interviews, sitzt Kaddor nun auch bei "Anne Will" im Studio. Es ist dieser Auftritt, an dem sich ihr Dilemma noch einmal offenbart. Denn: Der natürliche Reflex, dass bestätigt sie auch in einem Telefonat am Flughafen vor der Sendung, wäre, abzutauchen. Doch: Damit wären die Anfeindungen erfolgreich gewesen. Daher sitzt Kaddor, schwarzes Oberteil, nun doch im Studio.
    "… und die Islamkunde-Lehrerin Lamya Kaddor ist da, die sich in dieser Woche wegen massivster Anfeindungen vom Schuldienst hat beurlauben lassen."
    Reden statt schweigen, so Kaddors Devise, die auch in dieser Sendung bei ihrem Kurs bleibt.
    Kaddor: Müsse sich nicht auch die Mehrheitsgesellschaft ändern?
    "Es gibt nämlich auch eine Bringschuld, wenn man so will, bei unserer Mehrheitsbevölkerung, die wenigstens die Integrationsbemühungen und den Integrationswillen von Menschen anerkennen muss."
    Sie habe einfach, nachdem sie sich bisher vorzugsweise mit den Muslimen in der Gesellschaft beschäftigt habe, nun eben ein Buch geschrieben, in dem sie die Frage einmal umdrehe: Müsse sich nicht auch die Mehrheitsgesellschaft ändern?

    "Es kann doch nicht sein, dass man Menschen wie mich, die sich wirklich als Deutsche verstehen, die deutsche Kinder auf die Welt setzen. Denen immer noch erklärt: Also, Du bist ein Migrant, Du bleibst weiterhin ein Ausländer."
    Kaddors Kritiker spielen perfides Spiel
    Wie das Spiel ihrer Kritiker in den sozialen Netzwerken und auch anderswo funktioniert, ließ sich beispielhaft an diesem Sonntagabend beobachten. Während Kaddor bei "Anne Will" diskutierte, setzte Roland Tichy, der ehemalige Chefredakteur der "Wirtschaftswoche" und nun Betreiber einer liberal-konservativen Meinungsseite, sieben Tweets ab, in denen er auf einen Artikel auf seiner Seite verlinkte, in dem Kaddors Qualifikation als Lehrerin infrage gestellt wurde: Sie habe nur eine sogenannte "Idschaza", eine islamische Lehrerlaubnis des Koordinierungsrats der Muslime, hieß es da. Ein perfides Spiel.
    Denn: Ein Anruf beim zuständigen Schulministerium in Nordrhein-Westfalen hätte schnell Klarheit geschaffen. Es sei üblich, dass Religionsgruppen ihre Lehrer selbst bestimmen, seien es evangelische, katholische oder eben muslimische. Das Schulministerium selbst prüfe allerdings die pädagogischen Fähigkeiten. Ironie der Geschichte: Bislang galt Kaddor als Vorzeige-Beispiel dafür, dass auch liberale Vertreter für den Religionsunterricht zugelassen und nicht von den Verbänden blockiert würden. Nun muss sich Kaddor anderweitig rechtfertigen. Denn: Nach der Offensive auf Tichys Blog, griff auch die AfD das Thema auf. Dabei, so Kaddor, polemisiere oder spalte sie aus ihrer Sicht gar nicht, aber …
    "…dass man trotzdem auf meine Form der Meinungsäußerung so reagiert, so aggressiv reagiert, bestätigt ja im Grunde genommen das, was ich dauernd sage. Das ist ja das Schlimme an der ganzen Sache."