Johann Wild lebt eigentlich ein halbwegs gewöhnliches Leben. Vermutlich in Nürnberg geboren, verdient er sein Geld im frühen 17. Jahrhundert als Söldner. In den Türkenkriegen gerät er auf dem Balkan in Gefangenschaft.
"Da … führte mein Herr mich in die Stadt … auf den Markt und bot … mich feil. Da wusste ich schon, wie viel es geschlagen hatte. Ein Türke kam zu meinem Herrn."
Johann Wild wird als Sklave ins Osmanische Reich verkauft. Auch das nicht ungewöhnlich.
"Johann Wild steht für viele Tausende, oder auch wahrscheinlich sogar ein bis zwei Millionen von Gefangenen, die zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert in die Hände von Feinden im Mittelmeerraum gefallen sind", sagt Alexander Schunka.
"Christliche Gefangene in den Händen von Muslimen"
Schunka ist an der Freien Universität Berlin Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit:
"Das sind üblicherweise dann christliche Gefangene in den Händen von Muslimen. Oder umgekehrt: muslimische Gefangene in den Händen von Christen."
Johann Wild ist also nur einer von vielen. Auch dass er offenbar Türkisch und Arabisch lernt, ist nicht ungewöhnlich. Was Johann Wild aber einzigartig macht: Als osmanischer Sklave reist er nicht nur nach Konstantinopel, Damaskus oder Kairo, sondern auch nach Mekka. Und später schreibt er einen Reisebericht über den heiligsten islamischen Ort.
Schunka: "Das Spannende bei Johann Wild ist, dass er tatsächlich der Erste ist, der aus westlicher Perspektive die heiligen Stätten des Islam beschreibt."
"Die Stadt Mekka liegt zwischen einem großen Gebirge gegen Aufgang der Sonne. … Der Tempel steht mitten in der Stadt und (ist) oben ganz offen. ... Und es darf kein Christ noch Jud in diese Stadt kommen. Wenn einer allda gefunden würde, müsste er ohne alle Gnade verbrannt werden."
"Pilgerfahrt mit seinem Herrn"
Wie also ist Johann Wild nach Mekka gekommen, wenn Christen der Zutritt doch verboten ist? Oder hat er sich die Geschichte etwa bloß ausgedacht? Nein, meint Alexander Schunka:
"Er war ganz offensichtlich im Rahmen einer kleinen Pilgerfahrt mit seinem Herrn unterwegs. Das Spannende daran ist, dass er als nächstes erst mal Jerusalem besucht, nachdem er die heiligen Stätten verlassen hat. Und in Jerusalem macht er etwas für christliche Reisende seiner Zeit relativ Untypisches: Er besucht nämlich zuerst die dortigen heiligen Orte des Islam. Er besucht den Felsendom, die al-Aqsa-Moschee. Und er berichtet darüber. Und erst in einem zweiten Schritt besucht er die Grabeskirche und lässt sich dort auch noch ein christliches Pilgerzertifikat ausstellen."
Zumindest schildert Johann Wild so den Ablauf seine Reise. Ob das alles wirklich genauso war, lässt sich nicht überprüfen. Trotzdem liefert der Reisebericht einige Hinweise darauf, warum Wild Zugang zu den islamischen Heiligtümern gewährt wird: Wahrscheinlich ist er vorher zum Islam konvertiert. Auch damit wäre Wild wieder einer von vielen.
Schunka: "Ich denke, es gibt Anhaltspunkte in seinem Bericht, die auf so eine Konversion hindeuten. Diese Wechsel zwischen Christentum und Islam - freiwillig oder unfreiwillig durch Sklaverei -, die dürften Tausende, Hunderttausende, vielleicht sogar Millionen betroffen haben über 300 oder 400 Jahre hinweg."
"Dass Wild nur dabeistand, kann einfach nicht sein."
Ob Johann Wild aus Überzeugung konvertierte, aus Opportunismus oder aus Zwang, auch das lässt sich nicht mehr sagen. Er beschreibt die islamischen Bräuche und Rituale jedenfalls sehr authentisch.
"Alsbald die Türken nach Mekka kommen, gehen sie in den Tempel und beten zweimal. Danach laufen sie um das viereckige Haus, welches mitten im Tempel steht, sieben mal. Und haben einen Einwohner von Mekka bei ihnen, der betet ihnen vor, so sprechen sie ihm nach."
Johann Wild tut zwar so, als habe er bei alldem nur zugeschaut, doch Alexander Schunka ist sich sicher, dass Wild selbst daran teilgenommen haben muss:
"Es ist nicht anders vorstellbar. Dass Wild sozusagen dabeistand, während sein Besitzer, sein Herr an den Pilgerritualen teilgenommen hat, das kann einfach nicht sein."
"Will er sich entschuldigen, dass er Muslim geworden ist?"
Viel mehr geht der Historiker davon aus, dass Wilds Erlebnisse später ins rechte christliche Licht gerückt werden. Nach sieben Jahren Gefangenschaft wird Wild von seinem Herrn die Freiheit geschenkt – so schildert er es zumindest selbst – und der ehemalige Söldner kehrt in seine Heimat zurück: nach Nürnberg. Dort soll schon der Titel seines Berichts klar machen, dass bei Wild alles stets christlich zugegangen ist. Er nennt sein Werk: "Reisebeschreibung eines gefangenen Christen".
Schunka: "Will er sich vielleicht dafür entschuldigen, dass er zwischenzeitlich mal Muslim geworden ist? Oder gibt es irgendwelche Anschuldigungen, vor denen er sich retten möchte? Oder hat vielleicht der Pfarrer eine bestimmte Agenda, der ihm bei der Publikation hilft?"
Johann Wild verfasst seinen Reisebericht ziemlich sicher nicht allein, sagt Alexander Schunka. Der evangelische Pfarrer Salomon Schweiger steuert das Vorwort bei und dürfe auch am Rest des Buches wesentlich mitgeschrieben haben.
Schunka: "Wilds Bericht ist eine Mischung aus Erbauung und Abenteuer. Erbauung insofern, als Schweiger in seinem Vorwort sagt, Wild ist ein Beispiel für uns alle. Jemand, der in seiner Gefangenschaft zu einem besseren Menschen geworden ist und wieder zurückgekommen ist. Also quasi ein Ersatzmärtyrer für Protestanten."
Der schwebende Sarg des Propheten?
Und mit seinem vielgelesenen Bericht aus dem Herzen der islamischen Welt rückt Johann Wild in Europa auch einige skurrile Annahmen zurecht, erklärt Alexander Schunka von der FU Berlin:
"Man hat relativ wenig gewusst über die heiligen Stätten des Islam, die ja bis heute für Nicht-Muslime nicht zugänglich sind. Es gab die eher lustige Geschichte vielleicht, die weniger Mekka betrifft, sondern mehr Medina. Man ist nämlich davon ausgegangen, dass der Sarg des Propheten durch Magnete in der Luft schwebt. Das war eine weitverbreitete Überzeugung. Und Wild ist nun einer, der sagt: Nein, so ist es gar nicht."
"Wir gingen in eine große türkische Kirche … zu einem großen vergitterten Gemach. ... Darin der Mahomet sein Grab hat. … Allda mussten wir dreimal herumgehen und diese Worte nachsprechen: Ich begrüße Dich, Du Prophet Mahomet."