Archiv


Landstrich der Entbehrung

Es ist sehr viel einfacher zu sagen, was es in "Banatsko" alles nicht gibt, als zu beschreiben, wovon der Roman handelt und was in ihm passiert. Schon das Wort "passiert" ist im Grunde unzutreffend.

Von Uli Hufen |
    Im März 2009 veröffentlichte die als Übersetzerin aus dem Polnischen, Russischen und Englischen bekannt gewordene Esther Kinsky einen Essay unter dem Titel "Lektion der Leere. (Nichts. Das Übliche. Nichts.)" Darin erzählte die 1956 geborene Kinsky, wie sie 2004 aus London ins südungarische Battonya zog und was ihr dort im Laufe der folgenden fünf Jahre auffiel. Der Titel sagte im Grunde alles. Battonya, eine Stadt von knapp 7000 Einwohnern im Banat genannten Dreiländereck zwischen Ungarn, Rumänien und Serbien, war und ist für Kinsky eine vergessene Stadt am Rande der bewohnten Welt, in der sich abgesehen von den Jahreszeiten, den Mahlzeiten und grauem Provinzalltag nichts abspielt, nichts von dem jedenfalls, was üblicherweise auswärtige Aufmerksamkeit auf den Plan rufen würde.

    "Nincs ist das Hauptwort der Ebene, das Wort von Mangel und Abwesenheit. Noch nie bin ich irgendwo gewesen, wo alles durch das definiert wird, was nicht da ist. Die Ebene ist nicht die Weite bis zum Horizont, sondern der platte leere Teller auf dem alles fehlt, der Hungerteller, das Nicht-Gebirge, der Nicht-Fluss, das Nicht-Meer, und das Leben hier ist nicht ein So-Leben, sondern ein Nicht-So-Leben, und das Dies-Haben ist ein Nicht-Jenes-Haben."

    Der Essay lieferte willkommenen Kontext zu Kinskys erstem Roman "Sommerfrische", der gerade erschienen war, in einer südungarischen Ferienkolonie spielte und Leser wie Kritiker vor allem durch seine Sprache berührte. In diesem Frühjahr ist nun der zweite Ungarn-Roman von Esther Kinsky erschienen. "Banatsko" ist so etwas wie die Romanvariante des Essays von 2009. Am Anfang des Buches kommt eine namenlose Frau nach Battonya, in einen "Landstrich der Entbehrung." Warum die Frau, in der man wohl die Autorin erkennen darf, nach 15 Jahren in London und einem Jahr in Budapest nach Battonya zieht, ist rätselhaft. Sie scheint es selber nicht zu wissen. Ein Zufall. Die Zuglinie endet hier. Nur das:

    "Ich kam aus der Stadt und suchte das Weite."

    250 Seiten später sind Frühling, Sommer, Herbst und Winter ins Land gegangen, die Frau hat ein paar Leute kennengelernt, ein Haus gekauft, den Alltag der Nachbarn beobachtet, ist ein bisschen durch die Gegend gefahren, hat Friedhöfe besucht, sich Geschichten erzählen lassen, die Augen offen gehalten. Doch warum sie überhaupt nach Battonya kam, ist am Ende von "Banatsko" genauso rätselhaft, wie am Anfang.

    "Was machst Du hier?, fragte mich der Mann.
    Ich will an den Fluss, sagte ich.
    Und dann?
    Auf die andere Seite.
    Die Fähre geht, bis es dunkel wird, sagte er. Warum bist Du hier?
    Ich weiß nicht, sagte ich."


    Wenn es Esther Kinskys Absicht war, für ihr Buch über Battonya und das Banat eine literarische Form zu finden, die dem von ihr identifizierten Hauptwort der Gegend "Nincs" entspricht, so ist das gelungen. Es ist sehr viel einfacher zu sagen, was es in "Banatsko" alles nicht gibt, als zu beschreiben, wovon der Roman handelt und was in ihm passiert. Schon das Wort "passiert" ist im Grunde unzutreffend. Es passiert nichts, jedenfalls nichts von dem, was gemeinhin als Handlung eines Romans bezeichnet wird.

    "Ich ertappte mich dabei, dass ich die wenigen Dinge, die ich brauchte oder begehrte, stahl um mit niemandem ein Wort zu wechseln."

    … heißt es an einer Stelle. Doch der rare Anflug von so etwas wie Action wird umgehend im Keim erstickt.

    "In meinen Schritten hörte ich die Flucht, die ich nachts zwischen dem Klappern der Mülltonnen belauschte, und in meinen Armen fühlte ich die Last der billigen Taschen meiner Mitreisenden in den städtischen Autobussen. Ich dachte nichts mehr."

    Da ist es wieder: das Nincs. Das Nichts. In "Banatsko" seufzen sich die Leute asthmatisch über die Unebenheiten der Landstraßen, um ihre Münder zuckt es bitterlich, sie husten bekümmert. Die Personen in "Banatsko" sind nicht Träger irgendeiner Handlung, sie gehören zum Inventar der Landschaft, genau wie Flüsse, Bäume, Häuser und Tiere. Der serbische Nachbar Todor, der morgens kommt und Tipps gibt, die niemand braucht. Die beiden Buckligen, die den Garten umgraben. Der Akkordeonspieler in der Kneipe, in die die Erzählerin gelegentlich geht. Jozsi, von dem sie ein altes Fahrrad kauft. Zoran mit dem schiefen Mund, der von Amerika träumt. Und Attila, ein ungarischer Allround-Handwerker, der Zäune reparieren kann und auch sonst alles, was in einem Haus kaputt geht oder schon immer kaputt ist. Es versteht sich, dass in diesem Landstrich der Entbehrung so gut wie alles repariert werden müsste.

    "Er stellte nie eine Frage und fand sofort für jeden Schaden die richtige Ausbesserung. Zwischen ihn und dem Schaden der Dinge bestand eine Verbindung, die außerhalb des Denkens und Redens lag. Es gab nur Worte für einfache Dinge, die ich so lernte. Kies. Sand. Nagel. Leisten. Leim. Die Beziehung zwischen diesen Dingen und der Behebung der Schäden lag weniger im Kopf als in den Händen von Attila, vielleicht auch an anderen Stellen seines Körpers, unter seinen Schulterblättern oder seinem Rippenbogen oder in seiner Fußwölbung. Ich wusste nichts über ihn und er nichts über mich, doch sobald er die Schwelle zu meinem Garten überschritt, breitete sich eine Ruhe aus, als beherrschte er die Kunst des Beschweigens."

    Sogar die Erzählerin selbst ist eher ein Medium als ein Agent. Es ist, als habe sie sich nicht nach Battonya begeben um dort dies oder jenes zu tun, sondern um herauszufinden, was die Gegend mit ihr tun würde. Ein Experiment am lebenden Menschen. Und was ist passiert? Die Landschaft, ihre Menschen, das Wetter gingen durch die Erzählerin hindurch, nahmen sich die vielen schönen Worte, die in ihr, einer literarisch hochgebildeten Person existieren, und wurden zu Sprache, zu Literatur. Gleichzeitig lagerten die Landschaft, ihre Menschen und das Wetter neue Wörter in der Erzählerin ab: ungarische, rumänische, serbische.
    Die Sprache ist, wie schon in "Sommerfrische", das eigentliche Ereignis in der Literatur der Esther Kinsky. Manch einer wird diese Sprache gewollt finden, auch monoton. Der Tonfall des Buches ändert sich auf knapp 250 Seiten kaum. Wer sich jedoch an Worten wie "Wintergefieder" oder "Hungerkünstlertum" berauschen kann oder an Formulierungen wie "Dann schneite es wie in riesigen langen Atemzügen", für den ist "Banatsko" ein poetisches Fest. Esther Kinsky beschreibt Battonya und das Banat überaus kunstvoll als Weltzentralen einer alles durchdringenden, absolut humorlosen Melancholie. Wie viel von dieser Melancholie allein im Auge der Betrachterin liegt, bleibt offen.

    Esther Kinsky: "Banatsko". Matthes&Seitz, 243 Seiten, 19,90 Euro