Ein junger Mann, kurze dunkelblonde Haare, geht in Richtung eines Wohnblocks, er grüßt und bleibt stehen. Nur wenige kommen hier freiwillig her, entsprechend groß ist die Neugier, wenn mal andere Gesichter in der Sozialsiedlung am Rande Reutlingens, einer Großstadt mitten in Baden-Württemberg, auftauchen. Die Frage, ob er am Sonntag wählen geht, beantwortet der junge Mann ohne Zögern mit einem klaren nein.
"Ich wähle einfach gar keine Partei, denn die wollen einfach nur an der Macht sein und Geld, es geht alles nur ums Geld überwiegend, denke ich."
Er habe eine Ausbildung als Landschaftspfleger gemacht, erzählt der 25-Jährige, zurzeit suche er nach einem anderen Job. Er war noch nie wählen und wird auch nie wählen, sagt er:
"Es wird eh nie etwas geändert in Deutschland bleibt immer alles gleich, Flüchtlinge bekommen ziemlich viel und die anderen Arbeitslosen, die eigenen, in ihrem eigenen Land, die bekommen halt immer weniger und es wird immer alles teurer."
Geringes Einkommen, geringe Wahlbeteiligung
Ein Mann in Sportkleidung, vielleicht 40 Jahre alt, kommt vorbei. Er wähle nicht mehr, sagt auch er, allerdings will er das nicht vor dem Mikrophon wiederholen. Auch dieser Mann berichtet, er habe keinen Job und komme gerade vom Amt.
Eine im vergangenen Jahr veröffentlichte Studie der Bertelsmann Stiftung kam zu dem Ergebnis: Je höher die Arbeitslosigkeit, je geringer das Durchschnittseinkommen, je schlechter die Wohnlage in einem Stadtviertel, umso geringer ist die Wahlbeteiligung. Demokratieforscher Robert Vehrkamp von der Bertelsmanns Stiftung:
"Nicht mehr zur Wahl gehen vor allem Menschen aus dem sozial benachteiligten Milieus. Die Wahlbeteiligung in Deutschland ist sozial gespalten. Während die bildungsstarken und einkommensstarken Milieus sich weiterhin zu fast 90 Prozent an Wahlen beteiligen, liegt die Wahlbeteiligung in einer der sozial schwächeren Milieus bei deutlich unter 50 Prozent."
Zurück in Reutlingen, eine Frau mittleren Alters öffnet die Tür. Sie ist etwa amüsiert über die Frage, ob sie zur Wahl gehe:
"Ich habe da noch gar nicht drauf geguckt."
"Am Sonntag muss ich arbeiten" ergänzt sie noch und dann, dass sie früher immer wählen musste.
"Da haben meine Eltern noch gelebt, die haben für mich das Kreuzchen gemacht."
Wahlergebnisse sozial nicht mehr repräsentativ
Die Fassaden der langen Wohnblocks sind teilweise mit Holz verkleidet, die Siedlung könnte auch in der kanadischen Wildnis stehen. Entsprechend allein gelassen fühlt sich eine Frau mit graublondem Haar etwa 65 Jahre alt. Landtagswahl am Sonntag? Davon höre sie zum ersten Mal, eine Wahlbenachrichtung habe sie noch nie bekommen, also auch nicht für Sonntag. 160 Euro stünden ihr monatlich zum Leben zur Verfügung, wen soll sie da wählen, selbst wenn sie könnte, fragt die Frau.
Vehrkamp: "Unsere Wahlergebnisse sind sozial nicht mehr repräsentativ. Und sozial verzerrte Wahlergebnisse führen dann im schlimmsten Fall auch zu einer sozial verzerrten Politik."
Politiker fischen dort, wo sie die meisten Wähler vermuten, sagt Vehrkamp. Die Wahlkampfaktivitäten sind deshalb auf die Stadtviertel konzentriert, in denen die Wahlbeteiligung ohnehin schon hoch sei. Die typischen Nichtwählerhochburgen werden zu wahlkampffreien Zonen. Diese Aussage bestätigen mehrere Befragte in der Reutlinger Siedlung. Keiner hat bislang jemals einen Politiker in der Gegend gesehen, nicht einmal Wahlplakate hängen in dem Viertel. Eine Frau, Mitte 30, Pferdeschwanz und Sommersprossen, öffnet freundlich die Tür. Sie hat zwei Kinder und ist recht glücklich, erzählt die Frau. Wählen?
"Eigentlich nicht, ich kam noch nicht dazu, es hat mich auch noch nicht interessiert. Hier im Gebiet wählt niemand, über so etwas redet man hier eigentlich nicht. Also, es hat noch nie jemand darüber gesprochen."
Gezielte Kampagnen für Nichtwähler
Verhrkamp rät zu gezielten Kampagnen für Nichtwähler, unabhängig und staatlich finanziert. Auch glaubt der Demokratieforscher, die Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre könnte künftig dazu führen, dass mehr Menschen ihre Stimme abgeben:
"Weil gerade die jungen Menschen aus den typischen Nichtwählermilieus in den Schulen aktiviert und mobilisiert werden könnten. Nichtwähler mobilisieren ist kein einfaches Geschäft, aber es funktioniert."
Leider, so Verhrkamp, mache das ja gerade die AfD vor:
"Die in vielen Nichtwählerhochburgen überdurchschnittliche Ergebnisse erzielt. Wir dürfen aber die Nichtwähler nicht den Populisten überlassen."