Der Münchner Marienplatz am Tag der Deutschen Einheit. Eine Einheit, die Ates Gürpinar auf der Bühne gefährdet sieht: "Und natürlich braucht es Integration. Aber die schafft man nicht, indem man irgendwelche Sammellager erbaut. Das schafft Angst."
Der 34-Jährige ist Spitzenkandidat der Linkspartei, die dieses Mal mit verhältnismäßig guten Umfrageergebnissen auf den Einzug in den bayerischen Landtag hoffen kann. Beim Thema Migration greift Gürpinar gern auf die eigene Biografie zurück:
"Ich meine, ich habe einen türkischen Namen. Ich weiß, wovon ich rede. In der Grundschule wurde ich gefragt, ob mein Vater mich verheiraten wird. Ich konnte es erklären und sagen: Mein Vater ist mit einer Deutschen verheiratet. Es könnte interessant sein, was dann passieren würde, wenn er es machen würde, aber… Ich könnte übrigens auch erzählen, dass meine deutsche Familie viel mehr Probleme damit als meine türkische Familie damit hatte, dass die beiden geheiratet hatten, aber ich konnte es den Personen immerhin erklären."
"Es gibt einen krassen Rechtsruck"
"Ich versuche schon, das aufzugreifen, ein bisschen mit einem Witz, weil man in Bayern und gerade in München feststellen muss, dass es von ganz vielen eine Migrationsgeschichte gibt, dass diese Menschen das Land, die Stadt bereichern natürlich, dass der Austausch so wichtig ist, aber ich trage damit meines Erachtens zumindest schon auch zur Politik der heutigen Zeit bei. Es gibt einen krassen Rechtsruck. Und ich denke, dass ich sozusagen ein Teil der besten Antwort drauf bin, weil ich immer beschreibe, wie ich sozusagen mit meinem Namen allein schon Diskussionen anstoßen konnte."
Was der linke Medienwissenschaftler Ates Gürpinar, geboren in Darmstadt, ganz selbstverständlich und selbstbewusst präsentiert, scheuen offenbar viele Politiker anderer Parteien. Denn gerade der bayerische Wahlkampf zeigt, wie wenige Menschen mit ausländischen Wurzeln zur Wahl stehen – und wie wenig dieser Teil der Biografie in den Auftritten eine Rolle spielt. Ist der Migrationshintergrund heute noch ein Problem?
"Ich hatte es irgendwann mal überlegt gehabt, ob das eigentlich ein Problem ist, aber es war überhaupt kein Problem. Also, es war wirklich überhaupt kein Problem. Ich denke aber, dass es bei uns völlig klar ist: Wer uns wählen würde, aber deswegen nicht wählt, weil der Spitzenkandidat einen Migrationshintergrund hat, hat irgendwas grundsätzlich nicht verstanden."
Gastarbeiter-Tochter erscheint als einzige im Dirndl
Eine Antwort, die nur halb überzeugt. Denn auch die Halb-Iranerin Sahra Wagenknecht – bekannt für ihre asylkritische Haltung – stand vor ein paar Wochen auf dem Marienplatz, um die Linke zu unterstützen. Ironischerweise könnte Gürpinar gerade wegen Wagenknechts Beliebtheit unter eher nationalstaatlich denkenden Linken in den Landtag einziehen. Dennoch hält der bayerische Spitzenkandidat seine Partei für fortschrittlicher als die anderen.
"Diese Menschen mit Migrationshintergrund, die gibt's ja auch in anderen Parteien, aber die sind, gerade bei den rechteren Parteien, immer nur Feigenblättchen: Seht, wir haben auch da…, wir haben noch einen."
Ein Feigenblättchen ist Michaela Kaniber, bayerische Landwirtschaftsministerin, sicher nicht. Mit dem Posten belohnte Ministerpräsident Markus Söder sie für ihre Treue zur CSU. Was auffiel bei der Vereidigung der Ministerin im Frühjahr: Die Tochter kroatischer Gastarbeiter erschien als einzige im Dirndl.
"Bei uns im Berchtesgadener Land ist es tatsächlich auch Tradition. Da hat man einfach ganz viel Tracht an. Für mich ist es einfach auch die Wertschätzung von der Tradition. Ich liebe das und – bin natürlich im Grunde meines Herzens… natürlich habe ich kroatische Wurzeln, aber ich bin einfach a Bayerin, und mir taugt das, und deswegen habe ich es gern mit Würde und mit Ehre getragen."
Türkische Abstammung "nicht so relevant"
Ihre kroatischen Wurzeln erwähnt Kaniber auf ihrer Webseite nur indirekt in der Rubrik "Fremdsprachenkenntnisse". Als Katholikin und Mutter dreier Kinder erfüllt sie mustergültig das christsoziale Anforderungsprofil. Woran es liegt, dass sie so ziemlich die einzige mit migrantischen Wurzeln auf den CSU-Wahllisten ist, kann sie nicht sagen:
"Ich glaube nicht, dass das jetzt eine Frage der CSU ist, sondern einfach, ob sich die Menschen tatsächlich bereit erklären, Politik zu machen. Ob das dann Menschen mit Migrationshintergrund sind oder eben Mütter, mehr Mütter oder junge Väter – das glaube ich, würde ich so überhaupt nicht – ja – beurteilen wollen."
Für Michaela Kaniber liegt es also an der Mitmachbereitschaft in der Politik. Die dürfte CSU-Chef Horst Seehofer so manchem Neubürger erst einmal verdorben haben – mit seinem Satz, Migration sei die Mutter aller Probleme.
"Ich möchte es auch so auf keinen Fall stehen lassen. Selbst wenn er ihn so gemeint hätte, würde ich ihn so auf keinen Fall stehen lassen. Man kann das Thema Migration auf keinen Fall so werten."
Auf den Wahllisten der SPD finden sich einige vor allem türkische Namen. Wie der von Atila Karabag, Direktkandidat aus dem fränkischen Forchheim.
"Ich bin gebürtiger Forchheimer, 46 Jahre, verheiratet."
Auch Karabag geht mit seinen türkischen Eltern nicht gerade hausieren:
"Ich glaube, das ist auch nicht so relevant. Es geht ja um Forchheim. Wir haben in Forchheim Themen. Themen müssen angegangen werden. Ein Politiker muss zuhören, muss ein offenes Ohr haben – für die Sorgen unserer Bürger."
"Er ist ein Mensch wie jeder andere. Hat ein Gesicht."
Und auch den Forchheimern, denen man an diesem Montagnachmittag in der Fußgängerzone begegnet, scheint der Migrationshintergrund egal zu sein, wie dieser Seniorin mit Rollator:
"Er ist ein Mensch wie jeder andere. Hat ein Gesicht."
Dieser Spaziergänger freut sich über Karabag:
"Ich bin ja auch Türke, er ist mein Landsmann, aber ich bin deutscher Staatsangehöriger. Er ist ruhig, macht einen guten Eindruck, ist freundlich."
Und dennoch: "Ich denke mal, die sind zu spät dran. Die hätten es viel früher machen müssen. Es ist, glaube ich, ein bisschen zu langsam."
Dass die Parteien nun, Jahrzehnte nachdem er in dieses Land kam, endlich Menschen mit Migrationshintergrund aufstellen – das hinterlässt bei ihm ein bitteres Lächeln.