Der Begriff der Tiefe besetzt in der Musik drei sehr unterschiedliche Felder: emotionale Tiefe, räumliche Tiefe und frequenzielle Tiefe – die tiefen Töne. Wie wird in der Musik emotionale Tiefe erzielt und wahrgenommen?
Emotionale Tiefe: Afroamerikanischer Musik
"Dieses Stück hat Tiefe, denn es ist in erster Linie ein religiöses Lied. Die Struktur der Melodie lenkt dich dahin, deine Gefühle und Gedanken für Gott und religiöse und spirituelle Dinge zu öffnen. Dazu kommt, dass der Text nicht gesungen, sondern nur die Melodie gesummt wird. Normalerweise hat das Stück einen Text, man singt es in der Kirche. Aber hier nicht. Statt über den Text nachdenken zu müssen, kann man sich ganz vom Sound tragen lassen. Und die Art und Weise, wie er die Melodie wiedergibt, ist sehr langsam, schwer, bedacht und tief empfunden, mit diesem Vibrato der Gitarre und dem Einklang von Stimme und Gitarre. Das soll einen bewegen und tief berühren. Es klingt auch ein bisschen traurig und fast schon meditativ. Nicht zuletzt handelt es sich hier um eine sehr alte Aufnahme. Wenn wir das mit unseren Ohren von heute hören, konnotieren wir damit automatisch historische Tiefe."
...findet der afro-amerikanische Musik-Ethnologe Michael E. Veal beim Hören von Blind Willie Johnsons Blues-Klassiker "Dark Was The Night, Cold Was The Ground" von 1928. Michael E. Veal, Jahrgang 1963, lebt in New York, hat Bücher über den Afrobeat-Star Fela Kuti und über jamaikanischen Dub Reggae veröffentlicht und arbeitet gerade an seinem nächsten Buch über das Vermächtnis der Jazz-Legenden John Coltrane und Miles Davis im digitalen Zeitalter. Als Musik-Ethnologe an der Yale University ist Michael Veal aus wissenschaftlicher Perspektive und mit seiner Afrobeat-Band Aqua Ife aus musikpraktischer Perspektive intensiv mit sogenannter "Schwarzer Musik" beschäftigt. Gerade afro-amerikanischen Genres wie Blues, Jazz, Soul oder Gospel wird ja eine besondere emotionale Tiefe nachgesagt. Eine solch grobe Verallgemeinerung lässt Michael Veal aber nicht gelten. Für ihn ist emotionale Tiefe in der Musik relativ. Dennoch betont er die besonderen Qualitäten von Musik afrikanischen Ursprungs.
Michael E. Veal: Dub - Soundscapes and Shattered Songs in Jamaican Reggae. Wesleyan University Press, 352 Seiten.
"Es gibt viele Europäer, vor allem Weiße, die die Repetition in schwarzer Musik als Gegenteil von Tiefe betrachten. Für sie klingt das vor allem monoton, in ihren Ohren sind repetitive Rhythmen eher oberflächlich, weil sie nicht genügend Raum für Reflexion übriglassen. Klassische Musik hingegen, die nicht durch einen beständigen Rhythmus gekennzeichnet ist, lässt in ihren Ohren viel mehr Raum – mehr Raum zum Denken, Raum für Gefühle, Raum für Reflexion. Insofern würde ich nicht sagen, dass schwarzer Musik per se eine besondere Tiefe innewohnt. Allerdings muss man sagen, dass schwarze Dance Music oft auf afrikanischen Vorlagen basiert, das rhythmische Inventar schwarzer Dance Music kommt aus der Diaspora und aus Afrika. Und wenn man das historisch zurückverfolgt, besaßen viele dieser Rhythmen eine Verbindung zu den unterschiedlichsten indigenen Religionen. Bei manchen Rhythmen gibt es einen Konnex zu Religionen, wo es um Geisterbeschwörung und Bewusstseinsveränderung ging. Das heißt, die Konstruktion viele dieser Rhythmen zielte darauf ab, das Bewusstsein zu verändern. Deshalb haben sie solch tiefgreifende Auswirkungen auf den menschlichen Organismus. Sie haben eine solche Macht, weil sie mit dem Ziel der Bewusstseinsveränderung im Kontext dieser alten afrikanischen Religionen erfunden wurden. Wenn wir also speziell über schwarze Musik oder Musik afrikanischer Herkunft, Musik aus Afrika und der afrikanischen Diaspora sprechen, könnte man sagen, dass hier eine ganz spezielle Erfahrung von Tiefe vermittelt wird. Man macht die Erfahrung einer Art psychologischen Tiefe, wenn man diese Rhythmen hört, weil diese Rhythmen den Hörer durch verschiedene Stadien oder Ebenen der Bewusstwerdung und Erkenntnis führen sollen."
Wie zum Beispiel bei John Coltranes Interpretation von "My Favourite Things" aus den frühen 1960er Jahren.
Musik-Ethnologe Michael E. Veal: "Das funktioniert ähnlich wie Blind Willie Johnson. Es ist eine Instrumentalfassung eines Songs, der ursprünglich einen Text hatte. Und Coltrane singt nicht etwa den Text, sondern spielt die Melodie auf dem Sopran-Saxophon. Instrumentalmusik entführt uns sofort aus der Zone der Textgebundenheit/des Textlichen in die Zone der Imagination. Und das Tolle, was Coltrane mit diesem Song gemacht hat, war, einfach nur das Erkennungszeichen des Songs, also die letzten paar Zeilen, zu nehmen, sie unendlich zu erweitern und als Basis für die Improvisation zu nutzen. Wenn wir uns vorstellen, es wäre 1961, dann wird jeder, der das Stück damals im Original kannte, hier in einem permanenten Spannungszustand gehalten: man wartet auf die Auflösung des Stücks, ohne zu bemerken, dass das Erkennungszeichen, das im Original nur vier oder acht Takte lang ist, hier auf 15 oder 20 Minuten ausgeweitet wird. Auf diese Weise wird hier Tiefe markiert, denn die Spannung hält den Zuhörer auf Trab. Und natürlich auch durch das, was er mit dem Song macht: Coltrane benutzt die Ideen der Melodie als Basis für die Improvisation, nimmt das Leitmotiv und einzelne Motive und unterwirft sie zahlreichen Verfahren – vorwärts spielen, rückwärts spielen, vertauschen. Er nimmt den ersten Teil und transponiert ihn in verschiedene tonale Zentren und Tonlagen. Das musikalische Material wird all diesen Transformationen unterzogen, in musikalischer Hinsicht ist das also sehr tief. Denn hier zeigt sich die intellektuelle und musikalische Tiefe des Improvisateurs. Oder besser, nicht nur des Improvisateurs, sondern der ganzen Band."
Für Hans Nieswandt, DJ, Musiker und Autor, zudem Leiter des Institus für Populäre Musik an der Folkwang Universität Essen stellt sich Tiefe oder "Deepness", wie er es nennt, je nach musikalischem Genre ganz unterschiedlich dar:
"Es gibt musikalische Genres, die per se sozusagen dafür stehen: Jazz! Jazz, das bedeutet schon mal, dass man sich ziemlich gut auskennt, tolle Akkorde kennt, andere Akkorde kennt, dass man auf der Suche ist, dass man weit raus geht, wo andere sich nicht hin wagen. Aber, wenn man jetzt aber zum Beispiel über Soulmusik redet, glaube ich, dass die absolute Ernsthaftigkeit, also, dass man das wirklich ganz, ganz ernst meint, was man singt, dass man bereit ist, ans Eingemachte zu gehen und die Wahrheit zu sagen – über sich selbst, die möglicherweise zerrissenen Emotionen, der Schmerz und so weiter. Auch was eben die Gospel-Tradition betrifft. Das ist ja nicht nur so, dass die Leute dann in der Kirche Spaß dran haben, weil es so lustig ist zusammen zu singen, sondern weil das wirklich tief empfunden ist und man es wirklich sozusagen zu höherem Lob veranstaltet und nicht, weil man selber so glänzen will, zum Beispiel. Das ist so, würde ich sagen, im Soul-Bereich, wo es sehr stark auf die Texte ankommt und der Körnung der Stimme, die dafür bürgt, dass das wirklich stimmt, dass das wirklich so gemeint ist."
"Al Green! Diese ganze Generation afro-amerikanischer Vokalisten wurde in der Kirche ausgebildet – bei den Baptisten, der Pfingstbewegung oder den Methodisten. Und im Grunde haben sie das tiefe Gefühl religiöser Musik auf die populäre Musik, auf Soul-Musik, übertragen. Viele Jahre gab es in der afro-amerikanischen Musik einen Konflikt zwischen dem, was man als Musik Gottes und als Musik des Teufels ansah. Die Musik der Kirche und die Musik der Straße, Musik des Spirituellen und der religiösen Andacht versus Musik der Liebe, des Sex und der weltlichen Dinge. In den 50er und 60er Jahren gab es Leute, wie die große Mahalia Jackson, die immer auf der religiösen Seite des Zauns geblieben sind. Und dann gab es die Jüngeren, wie Aretha Franklin oder Al Green oder Sam Cooke, die auch mit der Kirche groß geworden sind, sich dann aber auf die andere Seite begaben und die emotionale Tiefe, die man mit Religiosität und spiritueller Musik verbindet, auf die Liebe übertrugen. Daher kommt die Tiefe in dieser Musik."
Emotionale Tiefe: Richard Wagner
Die Opernregisseurin Anna Sophie Mahler arbeitete ab 2005 über viele Jahre als Assistentin und Regisseurin in Bayreuth bei den Richard-Wagner-Festspielen. Die isolierte Lage und Intimität Bayreuths, das Festspielhaus mit seiner komplexen Geschichte, die außergewöhnliche Akustik der Bühne und speziell Wagners Opernspätwerk "Tristan und Isolde" haben bei Anna Sophie Mahler einen tiefen Eindruck hinterlassen.
"In Bayreuth habe ich mit Marthaler "Tristan und Isolde" gemacht. Und ist ja auch eine ziemlich verkorkste Geschichte. Eine ziemlich kranke Geschichte. Und manchmal habe ich auch das Gefühl, diese Musik von Wagner macht einen in einer Weise irgendwie auch krank. Und das hat auch mit dieser Form von Musik zu tun, weil die so, die wabert immer so weiter. Man kann sie nicht so einteilen in ein paar Takte und dann weiß man irgendwie, jetzt ist man hier, sondern das geht immer so weiter. Wie das Unbewusste, was immer weiter sich webt und einbohrt. Und es geht eben auch in die letzten Gehirnwindungen rein."
"Das sind schon über 2.000 Plätze. Aber es ist nicht bequem. Ganz harte Holzstühle. Das ist aber auch bewusst Programm gewesen. Man soll da nicht hinkommen und sich schön zurücklehnen in so Plüschsesseln und dann so konsumieren, sondern man pilgert da hin. Man muss wirklich, man muss bereit sein, man muss sich also bereit fühlen, sich dem so auszuliefern. Es ist wie ein Pilgerort eigentlich. Aber, was wirklich umwerfend ist, ist eben diese Akustik in dem Opernhaus und dieser spezielle Orchestergraben. Den Wagner ja extra für seine Musik konstruiert hat. Er selber hat da immer von dem mystischen Abgrund gesprochen. Das ist so was, bisschen so eine kranke Energie, die dann langsam so in deinen Körper sich frisst, ja. Und dann aber natürlich und mit einer unglaublichen Verführungskraft. Das ist dieser Klang. Zur Tiefe: Ja, wenn man zu Wagner kommt, dass das wirklich so ein Konzept ist, dieser Orchesterklang dieses Wabernde, dieses Diffuse. Es ging ihm auch um diffusen Klang, dass das wirklich so eine Form des Unbewussten geschafft hat, so etwas, was in der Seele nach oben kommt und man gar nicht so rational mehr fassen kann. Und ich finde da hat er wirklich für diese Art Kraft des Unbewussten oder die Tiefe, da hat er wirklich etwas Besonderes kreiert."
Emotionale Tiefe: Popmusik und Schlager
Hans Nieswandt vom Institut für Populäre Musik berichtet über seine Recherchen zum Thema Tiefe bzw. Deepness in zeitgenössischen Musikgenres:
"Es gibt meiner Meinung nach Beispiele für Deep Pop, wenn ich sie jetzt auch weniger in der aktuellen Popmusik sehe. Vielleicht ist es bei Deep Pop eine Mischung, einerseits aus der textlichen Qualität und inwieweit der Text einen sozusagen wirklich berührt. Also, wo man nicht das Gefühl hat, das sind jetzt übliche Phrasen, sondern das ist jetzt eine individuelle Art zu formulieren und dann aber auch wiederum kombiniert mit komplexeren Kompositionstechniken, komplexeren Akkordfolgen. Ich dachte an solche Sachen wie zum Beispiel Nick Drake, Laura Nyro. Hildegard Knef ist ein tolles Beispiel und eben auch ein seltenes Beispiel für etwas, was man vielleicht "Deep Schlager" nennen könnte, also insbesondere ihre so Früh-70er-Sachen, wie zum Beispiel dieses Stück "Wie viele Menschen waren glücklich, dass du gelebt?" Ein Text, der dich erstarren lässt, weil es so wahr ist und so gut getroffen ist und auch noch nicht oft gesagt worden ist, auch seitdem nicht mehr oft. Eine knallharte Aussage, die universal ist, eine Frage, die jeder Mensch sich stellt, in dem Moment, wo er allein schon diesen Satz liest. Und das Ganze kombiniert mit einer extrem komplexen Komposition und die Interpretin garantiert Wahrhaftigkeit durch ihre Vita, durch ihren Vortrag, dass sie sich überhaupt das traut."
Wenn das, was Tiefe ausmacht, je nach musikalischem Genre variiert, dann stellt sich die Frage, inwiefern sie sich auch simulieren lässt – etwa durch den kalkulierten Einsatz genre-spezifischer Tiefe-Marker. Gibt es Fake-Tiefe? Hans Nieswandt: "Fake Deepness gibt es, insbesondere heutzutage. Das hat auch viel damit zu tun, dass sehr, sehr viele Genres genau definiert sind, auserklärt und mit den entsprechenden Preset Sounds zur Disposition stehen , sozusagen das Kochrezept für Deep House und wenn man das alles zusammensetzt, dann hat man aber trotzdem noch keine Tiefe. Das strahlt keine Tiefe aus, sondern Klischeehaftigkeit, Oberflächlichkeit. Es berührt niemand."
Die Tiefe des Raums
Die amerikanische Komponistin und Klangkünstlerin Lea Bertucci sucht für ihre Musik bevorzugt Räume auf, die den Standards gängiger Clubs und Konzerthäuser nicht entsprechen: zum Beispiel verlassene Fabrikhallen, leere Kornspeicher oder entlegene Tunnelröhren, am liebsten Räume mit ausgeprägter, hochresonanter Akustik, langem Nachhall und Echo. Für Lea Bertucci spielt der Raum, bzw. das Spiel mit dem Raum, in dem die Musik stattfindet, eine entscheidende Rolle. Das Spiel mit der Raumresonanz schärft die Wahrnehmung:
"Ich komme vom Saxophon. Das Saxophon ist ein Instrument, das, je nachdem, in welchem Raum es gespielt wird, sehr unterschiedlich klingt. Als ich mein Instrument zum ersten Mal in einem Raum mit viel Hall gespielt habe, hat es bei mir Klick gemacht. Es war, als könnte ich mich überhaupt zum ersten Mal hören. Das war wie eine Transformation, auch in Bezug auf mein Verständnis zu diesem Instrument. Seither ziehen mich Architektur und ihre Akustik sehr stark an, weil dadurch die Erfahrung von Klang wirklich verändert werden kann. Ich denke, es ermöglicht eine höhere Form des Zuhörens, weil man tatsächlich hört, was vor sich geht. Der Gegensatz dazu wäre ein völlig toter Raum. In einem resonanten Raum bist Du die Quelle des Klangs. Du kannst den Klang so hören, wie er im Raum existiert. Und wenn man erstmal in vielen verschiedenen Arten von akustischen Bedingungen gespielt hat, erkennst Du, dass jeder Raum seine Eigenart hat. Ich meine, wenn du mir eine architektonische Struktur einfach nur beschreibst, dann ist das eine Sache, aber es ist eine ganz andere Sache für mich, tatsächlich mich in dieser Architektur zu bewegen, sie mit meinem Körper zu bewohnen und meinen Körper durch den Raum gehen zu lassen und all seinen Komplexitäten zu hören."
"Ich komme vom Saxophon. Das Saxophon ist ein Instrument, das, je nachdem, in welchem Raum es gespielt wird, sehr unterschiedlich klingt. Als ich mein Instrument zum ersten Mal in einem Raum mit viel Hall gespielt habe, hat es bei mir Klick gemacht. Es war, als könnte ich mich überhaupt zum ersten Mal hören. Das war wie eine Transformation, auch in Bezug auf mein Verständnis zu diesem Instrument. Seither ziehen mich Architektur und ihre Akustik sehr stark an, weil dadurch die Erfahrung von Klang wirklich verändert werden kann. Ich denke, es ermöglicht eine höhere Form des Zuhörens, weil man tatsächlich hört, was vor sich geht. Der Gegensatz dazu wäre ein völlig toter Raum. In einem resonanten Raum bist Du die Quelle des Klangs. Du kannst den Klang so hören, wie er im Raum existiert. Und wenn man erstmal in vielen verschiedenen Arten von akustischen Bedingungen gespielt hat, erkennst Du, dass jeder Raum seine Eigenart hat. Ich meine, wenn du mir eine architektonische Struktur einfach nur beschreibst, dann ist das eine Sache, aber es ist eine ganz andere Sache für mich, tatsächlich mich in dieser Architektur zu bewegen, sie mit meinem Körper zu bewohnen und meinen Körper durch den Raum gehen zu lassen und all seinen Komplexitäten zu hören."
Der Raum bei Karlheinz Stockhausen
Raum, Technologie und Musik sind unlösbar miteinander verbunden. Doch keine Musik hat diese Beziehung so stark neu verbunden wie die Moderne des 20. Jahrhunderts. Die Musikwissenschaftlerin und Autorin Anna Schürmer beschäftigt sich intensiv mit dem Begriff der "Raummusik", vor allem im Werk von Karlheinz Stockhausen.
"Also, wenn man über Raum spricht, glaube ich, kann man sogar so weit gehen zu sagen: Ohne Raum keine musikalische Aufführung. Jede musikalische Aufführung braucht ja in irgendeiner Form ein Setting. Das kann ein öffentlicher Raum sein. Das kann ein Konzerthaus sein. Aber es kann eben auch der elektronische Raum sein. Und ich glaube, wenn man über Raumakustik im 20. oder 21. Jahrhundert spricht, muss man insbesondere tatsächlich diese elektronische Ebene mitdenken, die ein völlig neues Setting geschaffen hat. Also tatsächlich, wie sie der Musik ein Parameter hinzugefügt hat, das es so vorher nicht gab. Wenn man sagt, es gab früher Raummusik, dann kann man das in aller frühesten Ursprünge der Musik im Prinzip zurückverfolgen. Das bekannteste Beispiel sehen wir ja immer diese berühmte Mehrchörigkeit in Venedig, wo sich die Polyphonie entwickelt hat. Einfach nur, weil sich zwei Chöre auf den zwei Emporen gegenüberstanden und angesungen haben. Das, was im Prinzip heute auch in den Fußballstadien noch gemacht wird. Und das hat sich dann fortgesetzt über die lange Geschichte der Architektur von Konzerthäusern. Oder eben auch Akustik. Da fällt es auf einmal auch ins Feld der Physik rein, denn jemand der den architektonischen Raum plant, der für Klänge gemacht ist, der muss sich zwangsläufig mit Physik beschäftigen und mit Akustik. Und da kommt man dann eben immer unmissverständlich zu Karlheinz Stockhausen, der auch den Begriff Raummusik oder Musik im Raum in den 1950er Jahren geprägt hat und damit eigentlich eine ganz neue Dimension benannt hat und ich meine er ist ja bekannt als elektronischer Künstler, oder Vater der elektronischen Musik, der eben genau mit diesen neuen Mitteln neue Räume generiert hat."
Anna Schürmer: Klingende Eklats - Skandal und Neue Musik. Transcript Verlag, 356 Seiten.
Karlheinz Stockhausen entwickelten für den deutsche Pavillon auf der Weltausstellung 1970 Expo in Osaka, ein Kugelauditorium für multimediale Konzerte. Rund 1 Millionen Expo Besucher hörten die elektroakustische Raummusik Stockhausens. Leider wurde diese revolutionäre Musikarchitektur nach der Weltausstellung abgebrochen. Anna Schürmer:
"Ich bedaure das bis heute, ich kann das gar nicht verstehen, dass dieses Kugelauditorium abgerissen worden ist und schon gar nicht, dass es nicht längst wieder irgendwo aufgebaut worden ist. Das ist immer mein Ding. Ich denke, wenn ich irgendwann mal Zeit und Muße und viel Geld habe, würde ich mich darum bemühen, weil ja die Idee genau das war, einen Konzertsaal zu kreieren, der den akustischen Gegebenheiten des 20. Jahrhunderts irgendwie gerecht ist. Und das war ja so konzipiert, dass er in der Mitte diese schalldurchlässige Ebene eingezogen war, auf der das Publikum sitzt und ringsum kreisförmig, wie im Weltraum waren Hunderte von Lautsprechern montiert, wo sich dann wirklich die Klänge durch den Raum bewegen konnten jeder einzelne Lautsprecher konnte angesteuert werden, weil man in der Mitte sitzt, wirst du wirklich wie in einem Urknall in eine Musik hineingezogen, die dich nicht mehr von vorne anspielt oder dir was sagen will, sondern die dich unmittelbar hineinzieht und, ja, damit ist man dann schon wieder bei Architektur und Musik."
Echo, Hall und Delay - künstliche Raumeffekte
Bei Raummusikern wie Wagner, Debussy und Stockhausen, aber auch bei Ambient-Musik und zum Teil bei Techno und zeitgenössischer elektronischer Musik geht es um Klang-Kathedralen und Überwältgungsästhetiken, um ozeanische Metaphern und Immersion – dem Versinken in tiefe musikalische Räume und Klanglandschaften. Dies geschieht mit expansiven Mitteln, die letztlich auf Transzendenz abzielen. Der Gegenentwurf wäre eine immanente Gestaltung von Räumlichkeit in der Musik. Die musikalische Struktur selbst kann also so gestaltet werden, dass sie eine räumliche Erfahrung ermöglicht. In der Post-Produktion, also mit Hilfe von Mischpult und Effektgeräten besteht eine weitere Möglichkeit, Räumlichkeit in der Musik zu erzeugen. Es geht um Echos, Hall und Delay – alles zeitverzögernde, zeitdehnende Soundeffekte, die ab den 1950er Jahren verstärkt in der Nachbearbeitung von Musik eingesetzt werden, um räumliche Illusionen, Nachbilder und Erinnerungskaskaden zu erzeugen. Rock’n’ Roll, psychedelische Musik, Krautrock, Dub Reggae, Post-Punk und später House und Techno – ganze Musikgenres und Musikkulturen sind von diesen Effekten und ihren künstlichen Raumbildern geprägt worden.
Zu Elvis Presley Song Mystery Train sagt der Musik-Ethnologe Michael Veal:
"Dieses Stück kann man von zwei Seiten betrachten. Zum einen ist da dieser hallige Sound, eine Art Echo, das in den Tonstudios als Slapback-Echo bezeichnet wird. Das bedeutet nichts anderes als ein kurzes Abbild des Tons, eine kurze Wiederholung des Tons. Man verwendet das, um die musikalische Struktur rhythmisch zu intensivieren, und so funktioniert es auch hier. Zum anderen, im größeren Rahmen, ging es dabei aber auch um eine spezifische Idee: Die alten Blues-, Country- und Rockabilly-Musiker waren Leute vom Land, die sehr vom amerikanischen Geist der Grenzverschiebung nach Westen fasziniert waren – man setzt sich aufs Pferd und reitet dem großen Unbekannten entgegen. Das ist die andere Komponente: Hall unterstreicht hier die Bedeutung von Raum. Zum Zeitpunkt der Aufnahmen existierte die Option der westlichen Grenzverschiebung natürlich gar nicht mehr, trotzdem vermitteln sie dieses Gefühl von Weite. Und man muss sich klar machen, dass Hall damals ein neuartiger Sound-Effekt war. Und manchmal mögen Leute einfach das Neue. Es war aufregend, hallige Klänge zu hören. Es war ein attraktiver Sound, der den Leuten gefiel. Kann sein, dass es keine komplexere Erklärung gibt. Da diese Musik aber mit der Surf-Kultur verbunden war, könnte es gut sein, dass Abenteuer auch hier eine Rolle spielte. In diesem Fall allerdings nicht das Abenteuer an Land, sondern auf dem Meer – man gleitet hinaus in die unendliche Weiten des Meeres."
"Dieses Stück kann man von zwei Seiten betrachten. Zum einen ist da dieser hallige Sound, eine Art Echo, das in den Tonstudios als Slapback-Echo bezeichnet wird. Das bedeutet nichts anderes als ein kurzes Abbild des Tons, eine kurze Wiederholung des Tons. Man verwendet das, um die musikalische Struktur rhythmisch zu intensivieren, und so funktioniert es auch hier. Zum anderen, im größeren Rahmen, ging es dabei aber auch um eine spezifische Idee: Die alten Blues-, Country- und Rockabilly-Musiker waren Leute vom Land, die sehr vom amerikanischen Geist der Grenzverschiebung nach Westen fasziniert waren – man setzt sich aufs Pferd und reitet dem großen Unbekannten entgegen. Das ist die andere Komponente: Hall unterstreicht hier die Bedeutung von Raum. Zum Zeitpunkt der Aufnahmen existierte die Option der westlichen Grenzverschiebung natürlich gar nicht mehr, trotzdem vermitteln sie dieses Gefühl von Weite. Und man muss sich klar machen, dass Hall damals ein neuartiger Sound-Effekt war. Und manchmal mögen Leute einfach das Neue. Es war aufregend, hallige Klänge zu hören. Es war ein attraktiver Sound, der den Leuten gefiel. Kann sein, dass es keine komplexere Erklärung gibt. Da diese Musik aber mit der Surf-Kultur verbunden war, könnte es gut sein, dass Abenteuer auch hier eine Rolle spielte. In diesem Fall allerdings nicht das Abenteuer an Land, sondern auf dem Meer – man gleitet hinaus in die unendliche Weiten des Meeres."
Tiefe beim Hören: Deep Listening
Die Musikerin Julia Eckhardt hat 2015 einen großen Workshop für die amerikanische Komponistin Pauline Oliveros organisiert. Pauline Oliveros, die im 2016 im Alter von 84 Jahren verstarb, gehörte in den 1960er Jahren zu den PionierInnen der elektronischen Tape Music an der amerikanischen Westküste. Aus ihrer Praxis einer experimentelle Musik und ihren freien Improvisationen an ihrem Lieblingsinstrument, dem Akkordeon, entwickelte Pauline Oliveros an ihrem eigenen Institut in den 1980er Jahren eine Theorie und Praxis des Deep Listening, des tiefen Hörens.
"Ich erinnere mich an eine schöne Übung, dass man irgendein Lied, was einem nah ist, oder was man mag, oder so, summen sollte, und zwar ex-trem lang-sam. Also wirklich irgendwie, ich weiß nicht, ein Atem pro Ton praktisch und das ergab so einen wundersamen, merkwürdigen Chor. Und von diesen 50 Leuten, die so die summten, das hat einem einfach total die Ohren geöffnet. Das istdie Methode von Pauline Oliveros: Dieses Verlangsamende, was so wie eine Lupe, mit der Lupe in die Tiefe guckt und man diese Tiefe mit Schnelligkeit gar nicht bemerken kannst, Du gar nicht sehen kannst. Ich erinnere mich an diese Übung, dass man sehr, sehr langsam geht und das ist ja auch in ihrem Statement über das Deep Listening: Hören mit den Fußsohlen. Also Du gehst und Du hörst eigentlich das, was eigentlich unhörbar ist. Denn: Man kann ja nicht nur mit den Ohren hören. Das ist ja auch bekannt. Man hört ja auch mit den Knochen und man hört mit, ja ich weiß nicht, Wenn Du Dir die Ohren zuhälst, hörst Du ja auch. Sie spricht speziell über die Fußsohlen, einfach weil die Füße natürlich mit der Erde verbunden sind und weil aus der Erde kommt ja an sich auch Klang. Auch wenn wir den vielleicht nicht unbedingt wahrnehmen. Die Erde ist ja auch immer in Bewegung. Und Klangwellen sind da auch drin."
Tiefe Frequenz - der Bass
Wenn der Bass los geht, dann entsteht mit der Musik erst das Gebäude, architektonisch gesprochen. Ohne Bass ist es eine Wolke. Der Bass macht die Pfeiler, in denen die Musik stattfindet, wo die Wolke ihren Ort findet. Er definiert den Club, die Kirche, er macht den Raum zum Raum. Der Berliner Musik-Produzent Mark Ernestus ist in den 90er Jahren mit Dub, House und Elektronikalbem bekannt geworden:
"Das Gute am Bass ist, dass er die Ohren in Ruhe lässt, während hohe und mittlere Frequenzen sehr leicht anstrengend oder sogar schmerzhaft sein können. Und das ist beim Bass und besonders beim tiefen Bass nie der Fall. Wichtig am Bass ist, dass es immer auch ne physische Erfahrung ist, wo man Musik eben nicht nur hört, sondern auch spürt."
"Die technische Möglichkeit gibt es ja erst seit einigen Jahrzehnten, Bass in großer Lautstärke wiederzugeben. Und aus irgendeinem Grund hat besonders Reggae in Jamaika das sehr angenommen und sehr kultiviert, weil man da halt eine Musikkultur hatte, wo rivalisierende Sound Systems gegeneinander angetreten sind, da auch immer großer Wettbewerb bestand und man hat natürlich dort den Vorteil, dass es immer warm ist, das heißt, dass Sound Systems in der Regel draußen stehen können und man keine Probleme mit Raum-Akustik hat, weil tiefe Bässe haben sehr lange Wellenlängen und sind in geschlossenen Räumen sehr schwer zu kontrollieren, ohne dass es dröhnt und räsoniert. Vielleicht hat das dazu beigetragen, dass besonders in Jamaika der Bass sehr bewusst oder sehr ausgiebig benutzt wurde, eingesetzt wurde. Wenn ein Sound System draußen steht, dann kann sich idealerweise der Schall frei ausbreiten, wenn man in einem geschlossenen Raum ist, hat man immer das Problem, besonders die tiefen Frequenzen, die große Wellenlängen haben, sind schwer zu kontrollieren. Ein 50 Hertz-Ton hat eine Wellenlänge von etwa sieben Meter und in einem geschlossenen Raum wird der Schall ja viele Male zwischen den Wänden und zwischen Decke und Boden reflektiert und besonders die tief-frequenten, langen Wellen verlieren ihre Energie nicht so schnell. Das heißt , sie werden oft hin- und hergeworfen und es gibt dann Überlagerungen und Auslöschungen. Das heißt, man hat meistens ein ziemliches Chaos und das ist aufgrund der Energie und der Wellenlänge schwer zu kontrollieren in einem geschlossenen Raum."
Der Bass mit seinem tiefen Frequenzspektrum transportiert viel Energie, auf der Tanzfläche heißt es dann: der Bass geht in den Bauch. Die Clubkultur der 90er Jahre hat sich darum bemüht, den Klang der Bässe in den kleinen Räumen zu verbessern. Damit es nicht unangenehm wummert, sondern angenehm druckvoll wirkt. Mark Ernestus stellt trotzdem fest, "dass das Verständnis von Raum-Akustik der technischen Entwicklung von Lautsprechern weit hinterherhinkt und dass es wenige Räume gibt, die besonders Bass ausreichend absorbieren, um überhaupt eine sinnvolle Wiedergabe zu ermöglichen. Andererseits gibt es modernere Anlagen, wie sie zum Beispiel auf Dubstep Parties eingesetzt wurden, das ist manchmal schon fast gewalttätig, was da an Bass erzeugt wird."
Die dritte Stunde der Langen Nacht beruht auf dem Feature von Olaf Karnik und Volker Zander "Bass ist Boss - Die Kultur der tiefen Töne" (Dlf, Freistil), das 2018 in der Sparte Radio Music für den Prix Europa nominiert war.