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Langgedichte von Acevedo und Reynolds
Poetische Antworten auf Erfahrungen der Gegenwart

Im Langgedicht ist der Emotionspegel hoch. Die kunstvolle Konstruktion trifft auf brisante Themen. Der jugendlichen Zielgruppe könnte das gefallen, denn Langgedichte nehmen Elemente des Poetry Slam auf. So auch die neuen Bücher von Elisabeth Acevedo und Jason Reynolds.

Von Christine Knödler | 28.09.2019
2 Buchcover über Langegedichte im Jugendbuch
Langgedichte greifen oft Elemente der Jugendkultur auf, so auch die neuen Bücher von Elisabeth Acevedo und Jason Reynolds (Buchcover rowohlt rotfuchs und dtv)
Sie sehen aus wie Gedichtsammlungen, sie laufen als Romane, sie entstehen aus der Komposition von Einzelgedichten: Langgedichte mischen Elemente der Lyrik mit denen des epischen Erzählens. Sie setzen auf die Möglichkeiten der Poesie, auf hohe Intensität, auf die Bildhaftigkeit der Sprache. Pointierung ist immanent. Schneller dichter dran ist fast nicht möglich. So wie in "Poet X" von Elizabeth Acevedo. Die Hauptfigur Xiomara ist Dichterin, nur weiß sie das selbst noch nicht. Was sie weiß, ist, dass sie ihre strenggläubige Mutter fürchtet. Und dass sie von Anfang an nicht ins Bild passt.
Aus "Mehr über Zwilling"
"Obwohl Zwilling fast eine Stunde älter ist –
die Geburt wurde natürlich kompliziert, als ich dran war –,
handelt er nicht so.
Er ist um Jahre weicher, als ich je sein werde. (...)
Mein Bruder wurde geboren als ein sanfter Hauch,
der kaum die Luft bewegt.
Ich hingegen wurde geboren als der Sturm.
Ich bin der schrille Klang, der alle bis ins Mark erschüttert,
die versuchen, ihn niederzuringen."
Doch zunächst ist es Xiomara, die niedergemacht wird. Gerade mal sieben Monate, von August bis Februar, beträgt die erzählte Zeit. Der Text hat drei Teile, die Überschriften geben die Richtung vor: "Am Anfang war das Wort", "Und das Wort ward Fleisch", schließlich "Die Stimme in der Wüste". Denn "Poet X" erzählt von einem Mutter-Tochter-Konflikt, der das Potential zum Glaubenskrieg hat. Streng katholisch ist die Erziehung, das Ziel: die Tochter ins Ebenbild zu zwingen. Als Xiomara sich verliebt, sind die Strafen drakonisch. Auf Reis knien ist nur eine davon.
Auch körperliches Erwachen
"Poet X" ist auch die Geschichte eines körperlichen Erwachens: "Und das Wort ward Fleisch". Xiomara will küssen statt beten. Groß und schwer wie sie ist, fängt sie an, sich zu wehren gegen den Spott, gegen das Grapschen, gegen all die Übergriffe auf allen möglichen Ebenen. Sie will lieben. Sie will leben. Sie tritt dem Poetry Club der Schule bei. Sie beginnt, Gedichte zu schreiben. Sie wird "Die Stimme in der Wüste":
Aus "Träume von ihm"
"In meinen Träumen kennt sein Mund
mehr als Flüche und Gebete. Mehr
als Brot und Wein. Mehr
als Wasser. Mehr
als Blut.
Mehr."
Die biblische Assoziationsebene wird konsequent bedient, religiöse Engstirnigkeit steht gegen die Freiheit der Einzelnen. Dabei ist die Kirche nur ein Beispiel angemaßter Autorität. Von Gedicht zu Gedicht, von "Leute sagen", über "Mutter sagt", "Kussabdruck" und "Erste Worte" muss Selbstbefreiung sich erst Bahn brechen, damit "Sachen, die du denkst, während du auf Reis kniest, und die nichts mit Reue zu tun haben" nicht das letzte Wort behalten.
Mal sprachgewaltig, mal banal, stets hoch im Ton und überreich an Bildern, sind manche Metaphern abgegriffen, manche Gedanken zu oft gedacht, andere gehen im Trommelwirbel der Sätze unter. Und doch wissen Elizabeth Acevedo und ihre Übersetzerin Leticia Wahl, die beide Poetry Slammerinnen sind, welche Worte sie wie setzen müssen, um ihr Publikum in Bann zu schlagen.
Freiraum für Assoziationen
"Ameisen" laufen im gleichnamigen Gedicht übers Papier, von oben links nach unten rechts, während die Mutter ihr Strafgericht durchexerziert. "Ich bin zu groß, um mich klein zu machen", ist einer der Ameisen-Gedanken von Xiomara. Auch optisch wird ihr Zerbröseln sichtbar gemacht. Da soll kein Stein, da soll kein Wort auf dem anderen bleiben. Zumindest lässt "Ameisen" sich so lesen. Zwischen den Zeilen bleibt Freiraum für die Assoziationen der Leser*innen. Das ist, was Lyrik möglich macht, was Lyrik ausmacht.
"09:08:08 a.m.
DER FAHRSTUHL RUCKELTE
vibrierte
und klopfte
wie aus der Führung geraten.
Wie die mittlere Schublade.
Ich hatte eine Scheißangst.
Warum braucht
das blöde Ding
so lang?
fragte ich
und schlug heftig
gegen die Tür
genauso heftig
wie mein Herz schlug.
Das klapprige Ding
war schon immer lahm
sagte Buck
grinsend.
Jap.
Trotzdem blöd
antwortete ich
mit schweißnassen Händen.
Entspann dich Mann!
sagte Buck.
It’s a long
way
down."
Auch "Long Way Down" des vielfach preisgekrönten afroamerikanischen Bestsellerautors Jason Reynolds ist ein Langgedicht. Mit "A long way down" von Nick Hornby hat es nichts zu tun, außer, dass in beiden Geschichten eine vermeintlich unausweichliche Tat nicht begangen wird. Kein Selbstmord, kein Mord mehr. Oder? In jener im Gedicht erwähnten mittleren Schublade, die klemmt, liegt eine Pistole. Jetzt hat Will sie eingesteckt. Sein Bruder Shawn wurde erschossen. Will kennt die Regeln: nicht weinen, niemanden verraten und den töten, der getötet hat.
Geistertanz auf engstem Raum
Jason Reynolds schickt seinen Protagonisten in eine Art Fahrstuhl zur Hölle. Im Sekundentakt geht die Fahrt abwärts. In jeder Etage steigt jemand ein. Buck, Wills Sandkastenfreundin Danni, der Onkel, der Vater, Frick, der Buck erschossen hat, schließlich Shawn selbst. Sie alle sind tot. Sie alle erzählen Geschichten von Gewalt und Gegengewalt. Zusammen mit "Gesammelten Anagrammen", mit "flüchtigen Gedanken" oder "Szenen aus dem schlechtesten Drehbuch der Welt" ergeben sie einen Schlagabtausch aus Sätzen, ein Wechselbad der Worte und Gefühle. Es ist ein Geistertanz auf engstem Raum. Sartres "Geschlossene Gesellschaft" trifft Dickens "Weihnachtsgeister." Manchmal steht nur ein Satz auf einer Seite:
"ONKEL MARK KICHERTE
Im Knast würdest du niemals
überleben Junge."
Eine Minute dauert die Fahrt im Aufzug. Eine Minute kann lang sein. Und nicht nur der Aufzug ruckelt, nicht nur die Schublade klemmt. Das Ergebnis dieser kunstvollen Komposition ist, dass auch Gedanken ruckeln und klemmen: Es ist alles nicht so eindeutig wie gedacht. Auf der letzten Seite steht eine einzige Frage aus gerade mal zwei Worten in Versalien:
"KOMMST DU?"
Die Antwort bleibt offen, doch auch unausgesprochen ist die Aussage hochmoralisch: Das Töten muss ein Ende haben. Rache ist nicht süß.
Schreiben als Thema
Es geht um viel in diesen Langgedichten. Dabei ist die Diskrepanz zwischen dem, was erzählt wird, und dem, wie erzählt wird, offensichtlich. Als bräuchte es die Vieldeutigkeit der lyrischen Sprache und die Konzentration der Komposition als Gegengewicht zu all den schwergewichtigen Erfahrungen, all den Emotionen. "Poet X" erzählt von vielfacher Entmündigung, bis Xiomara sich nicht mehr mundtot machen lässt. "Long Way Down" sucht vielstimmig nach einer Antwort, von Petra Bös fulminant übersetzt. Und so ist es nicht verwunderlich, dass "Poet X" und "Long Way Down" immer auch das Schreiben thematisieren:
Aus "Alles Hype"
"Später in der Nacht schreibe ich erneut.
Die Seiten meines Notizbuches schwellen an
von all den Worten, die ich in sie presse.
Ich habe das Gefühl,
je mehr ich die Seiten verletze,
umso schneller heilt etwas in mir."
"MEIN MUND
War ausgetrocknet.
Wortschleim
in meinem Hals
wie eine allergische Reaktion
auf diese ganzen
Gedanken.
Schreiben als Heilung, als Befreiung vom "Wortschleim", um reden zu können? Um etwas verändern zu können? Und was ist mit dem Lesen? Jason Reynolds war acht Jahre alt, als er begann, Gedichte zu schreiben. Hip-Hop-Lyrics hätten ihn, so sagt er, zum Lesen gebracht. In einem Interview, das er 2018 als Sprecher der "American Association of School Librarians" gegeben hat, sagte er außerdem:
"Wir haben wirklich unser Bestes gegeben, um mit all den neuen Anregungen und Reizen, die die Aufmerksamkeit junger Leute fesseln, zu konkurrieren. Doch das ist ein Wettstreit, den wir nicht gewinnen können. Vielleicht wäre es besser, mit diesen neuen Medien zu arbeiten, um mehr junge Leute einzubeziehen. Das heißt nicht, dass die Bücher verlieren – sondern es heißt, wir müssen noch kreativer werden, damit Bücher gewinnen."
Langgedichte gehen unter die Haut
Womöglich begründet ja das die Sogkraft und die Bedeutung der Langgedichte in der Jugendliteratur: Sie knüpfen an an jugendkulturelle Events wie Poetry Slams. Sie nutzen künstlerische Ausdrucksformen, die Jugendliche begeistern. Aktuelle Langgedichte spielen mit dem Sound von Hip-Hop, Rap, Lyrics und Lyrik, sie spielen mit den Mitteln der Bühne und des Films. Die Vorteile liegen auf der Hand: Figuren lassen sich im Seitentakt in den Fokus rücken. Brisante Themen werden im Flug gesetzt. Das Tempo: turbo, der Sound: staccato, der Ton: intensiv, die Form: experimentell, das Assoziations-Potential: hoch, der Betroffenheitspegel ebenso. Das kann man mögen, das kann befremden, aber immer gilt: Langgedichte gehen unter die Haut. Sie wollen treffen und betreffen. Wo sie gelingen, sind sie poetische Antworten auf Erfahrungen der Gegenwart.
Elisabeth Acevedo: "Poet X"
Aus dem Englischen von Leticia Wahl
Rowohlt Verlag, München. 352 Seiten, 15 Euro. Ab 13 Jahren
Jason Reynolds: "Long Way Down"
Aus dem Englischen von Petra Bös
Reihe Hanser bei dtv, München. 320 Seiten, 14,95 Euro. Ab 14 Jahren
Jason Reynolds: "Long Way Down"
Aus dem Englischen von Petra Bös
Gelesen von Julian Greis und anderen
Hörcompany, Hamburg. 1 CD, 120 Minuten, 14,95 Euro. Ab 13 Jahren
Hinweis auf:
Lucia Lucia: "Texte, die auf Liebe enden"
Illustriert von Serena Viola
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main. 144 Seiten, 10 Euro. Ab 14 Jahren