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"Langsam löst sich die Angststarre unter den Syrern"

In Syrien sei eine Revolution von jungen Menschen für ein freies Leben im Gang. Die Geheimdienststarre, in der das Regime die Syrer seit 50 Jahren halte, löse sich langsam auf, berichtet Rupert Neudeck, Vorsitzender der Hilfsorganisation Grünhelme.

Rupert Neudeck im Gespräch mit Sandra Schulz | 10.09.2012
    Sandra Schulz: Eine neue Runde von Sanktionen gegen Syrien haben die EU-Außenminister auf ihrem Treffen am Wochenende in Zypern angekündigt. Im Oktober will der Außenrat mit einer härteren Gangart nachlegen. Bislang hat sich das Assad-Regime davon nicht sonderlich beeindrucken lassen, die Kämpfe dauern jetzt seit rund eineinhalb Jahren an. Darum hat auch der internationale Sondergesandte Brahimi schon vor seinem Besuch in der Region, der jetzt begonnen hat, die Erwartungen gedämpft. Informationen aus dem Land zu bekommen, das ist und bleibt schwierig. Wir haben jetzt die Chance, direkt über Eindrücke aus Syrien zu sprechen; von dort gerade zurückgekehrt ist der Gründer und Ehrenvorsitzende der Hilfsorganisation "Grünhelme", Rupert Neudeck. Guten Morgen!

    Rupert Neudeck: Guten Morgen, Frau Schulz!

    Schulz: Herr Neudeck, die "Grünhelme" unterstützen die Arbeit in einem Hospital in Asas im Norden Syriens. Welches Bild von der Lage konnten Sie sich da machen?

    Neudeck: Es ist ein ganz anderes Bild als vor fünf Wochen, als ich zum ersten Mal die Grenze dort überschritten habe. Damals war das noch illegal, wir mussten warten, bis die türkischen Polizisten an der Grenzstation von Kilis nach Asas schlafen, das heißt, also erschöpft sind, und mussten illegal über die Grenze gehen. Die Türkei hat jetzt die Grenze für alles Humanitäre geöffnet und auch die eigenen Hilfsorganisationen aus der Türkei sind jetzt rübergegangen auf die andere Seite und können dort den Zigtausend, die dort aus dem Lande heraus an die Grenze kommen, auch helfen – dadurch, dass sie Nahrungsmittel und medizinische Hilfsgüter geben. Das ist ein erster, ganz wichtiger Punkt.
    Der zweite ist: Langsam löst sich die Angststarre unter den Syrern. Man muss ja wissen – das haben wir fast vergessen -, dass dieses Regime seit 50 Jahren die Syrer in einer solchen Geheimdienststarre hält. Es sind 260.000 Agenten gewesen im Land, es waren 15 Geheimdienste, die überall in den Städten die größten Gebäude besetzten. Das alles fängt an, sich aufzulösen, das ist ein langsamer Prozess, aber den können wir jetzt schon, den habe ich selbst beobachten können in Asas. Das fängt an, sich aufzulösen. Es ist eine Revolution von jungen Menschen, von denen, die im schulpflichtigen und im Studentenalter und im Lehrlingsalter sind, und die wollen endlich ein freies Leben, ein "free Syria", wie es an der Grenze steht, auf Englisch, nicht mehr auf Französisch, was sonst früher die Sprache der Syrer war.

    Schulz: Wie viel ist da von den Kämpfen zu spüren oder mitzubekommen? Das ist ja nicht weit von Aleppo.

    Neudeck: Ja man hört natürlich viel, es ist alles noch nicht zu Ende. Wir wissen, dass es noch nicht gelungen ist, eine Übergangsregierung zu schaffen. Das haben wir die Kommandanten dort auch gefragt jetzt. Weil der französische Staatspräsident hat ja gesagt, wenn wir eine Übergangsregierung haben, dann kann der Westen, dann kann Europa diese Übergangsregierung anerkennen und kann vielleicht auch etwas mehr tun. Es sind nachts auch immer noch Flugzeuge, Flugzeuggeräusche der Migs und der Hubschrauber zu erkennen. Sieben Kilometer von der befreiten Stadt Asas gibt es noch einen militärischen Hubschrauberflugplatz, der in Händen der Regierung ist, den die FSA, also die Freie Syrische Armee, noch nicht befreit hat. Sie hat ihn eingeschlossen, aber kann ihn nicht übernehmen, kann ihn nicht erobern, weil sie – und das ist wirklich eine Realität, die man als Beobachter und Besucher dort vor Ort mitbekommt – nicht die schweren Waffen hat, um das zu tun, und der Kommandant auch nicht zu viele Kämpfer seiner eigenen jungen Kämpfer opfern will.

    Schulz: Was heißt das für Ihre Arbeitsbedingungen, die Arbeitsbedingungen der Hilfsorganisationen dort?

    Neudeck: Das bedeutet, es gibt natürlich keine absolute Sicherheit. Es kann aus der Luft – der Krieg findet aus der Luft statt, auch in Aleppo, mehr als am Boden – immer noch mal wieder eine Aktion passieren. Das Assad-Regime steht mit dem Rücken an der Wand und ist zu Verzweiflungstaten, also zu sinnlosen barbarischen Taten noch in der Lage, das wissen wir alles. Aber die Bevölkerung hat sich eingerichtet, es gibt in diesen Häusern, in den großen Häusern von Asas genügend Keller, um sich bei bedrohlichem MIG-Geräusch sofort in die Keller in der Nacht zu verziehen. Aber es hat nur selten noch stattgefunden. Ich glaube, die Hauptmacht des Kampfes um die Zukunft Syriens, des freien Syriens ohne das Assad-Syrien, findet jetzt in Aleppo statt. Und die Nachricht vom Tage, als ich dort weggegangen bin am Samstag, war eine Jubelnachricht, dass die FSA die größte Kaserne in Aleppo eingenommen hatte von der Regierungsarmee und damit eben auch ganz viele Waffen für sich selbst und für den Kampf um das freie Syrien erobert hatte.

    Schulz: Eindrücke waren das aus Syrien von Rupert Neudeck von der Hilfsorganisation "Grünhelme", hier heute Morgen im Deutschlandfunk. Haben Sie herzlichen Dank dafür.

    Neudeck: Danke!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.