"Ich habe mein Leben damit verbracht, die Buchstaben des Alphabets, auf verschiedene Arten zu ordnen", schreibt Lars Gustafsson 2016 in einem seiner letzten Gedichte mit dem Titel "Der Logonaut". Es ist Teil der "Etüden für eine alte Schreibmaschine", einer Sammlung, die als berührender Rückblick auf seine Schreibexistenz zu lesen ist, deren Anfänge mit dem Romandebüt "Wegesrast. Ein Mysterienspiel in Prosa" bis in das Jahr 1957 zurückreichen. Lars Gustafsson begann in einer Zeit zu schreiben, so im Gedicht "Der Logonaut", "als man die Menschen noch denken hörte".
"Woran ich mich aus dieser Zeit erinnere, / ist das Geräusch. Es konnte / klingen wie Wellen an einem Strand. / Vereinzelte melancholische Anschläge / oder das muntere Geklapper – / ... / Ich erinnere mich, wie am Metropolitan Desk / der New York Times zuweilen eine einsame Remington / in einer Kaskade von Anschlägen aufbrauste."
Risse in der Zeit
In Lars Gustafssons Texten wird man für Geräusche, Gerüche, Berührungen sensibilisiert. In ihnen lässt sich viel über Schwingungen zwischen verschiedenen Sprach- und Kulturwelten erfahren. Es sind Texte, in denen sich der begnadete Romancier immer auch als Philosoph und Sprachtheoretiker zu erkennen gibt. Mit seiner klugen, humorvoll-traurigen Weise die Welt zu betrachten, macht uns der Melancholiker Gustafsson auf Differenzen und Dissonanzen aufmerksam. Der Riss wird früh zum zentralen Motiv, welches das literarische Werk des schwedischen Erfolgsautors mit amerikanischer Staatsbürgerschaft durchzieht. Seine Erzählungen und Romane, Gedichte und Essays prägen Zweifel, inwieweit ein Satz in seiner Aussage jemals Bestand haben kann. Ob im fünfteiligen Romanzyklus "Risse in der Mauer", in "Frau Sorgedahls schöne weiße Arme" oder "Der Mann auf dem blauen Fahrrad. Träume aus einer alten Kamera" - seine Protagonisten fragen sich immer wieder, wie sie eigentlich in ihre Geschichten und deren Handlungen hineingeraten sind.
Das Geheimnis unserer Existenz
Auch in "Dr. Weiss’ letzter Auftrag" konstatiert der Titelheld:
"Wie wurde ich eigentlich in diese unerträgliche Geschichte hineingezogen? Wie bin ich hier gelandet? Ich weiß es nicht."
Mit diesem Romanfragment aus dem Nachlass von Lars Gustafsson, der 2016 starb, versucht der Schwede erneut der Frage menschlicher Existenz auf den Grund zu gehen. Dabei inszeniert er ein atemberaubendes Spiel mit und in Zeit und Raum. Im Mittelpunkt steht die vergnügliche Jagd nach einer seit dem Mittelalter verschollen geglaubten Eisenkrone. Diese Krone soll in der Lage sein, die "analytischen und mnemotechnischen Fähigkeiten des menschlichen Gehirns" zu verstärken, was jedoch nicht ohne Risiken sei.
"Das Gefährliche an dieser Vorrichtung scheint zu sein, dass bei ihrer Anwendung zu einem historisch unpassenden Zeitpunkt – zu früh oder zu spät, lassen wir es unerwähnt – oder vielleicht eher, wenn es in die falschen Hände fiele, es zu einer nicht näher beschriebenen Katastrophe führen würde. Irgendwann, im sechsten Millennium nach der Zeitrechnung der Gesellschaft konstruiert und dafür vorgesehen, ein entscheidendes Hilfsmittel in der chaotischen und gefahrvollen Welt zu werden, weckte das Hilfsmittel oder, wie es genannt wurde, das Remedium, bei den ursprünglichen Konstrukteuren etwas, das man am besten als tiefstes Entsetzen beschreiben kann, als sie begannen, ihre wirklichen Möglichkeiten zu begreifen."
Prototyp des Überschreiters
Die Eisenkrone wird zur weitreichenden Metapher bei Gustafsson. Sie zielt auf das Geheimnis unserer Existenz, ein Rätsel, das niemals ganz entschlüsselt werden sollte. Die Suche nach der mythischen Eisenkrone wird zur Denk- und Schreibbewegung, auch in der Hoffnung, sie niemals zu finden, da es sie vielleicht nie gegeben hat. Denn wer in seinen Besitz kommt, hätte einen hohen Preis zu zahlen: "Die Einsicht in die totale Nichtigkeit der menschlichen Existenz".
In der von grenzenloser Phantasie gespeisten Neugier nach einem Denken, das jenseits linearer Strukturen angesiedelt ist, erweist sich Dr. Weiss als zeitloser Prototyp eines Überschreiters. In diesem Sinne ist er die Gestalt gewordene Sehnsucht des Autors, in unbegrenzter Möglichkeitsvielfalt zu denken und zu schreiben. Gustafsson scheint darin dem österreichischen Romancier Robert Musil verwandt, der im "Mann ohne Eigenschaften" von der Fähigkeit spricht alles zu denken, was "sein könnte" und das, "was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist". Denn wenn es einen "Wirklichkeitssinn" gibt, so muss es auch einen "Möglichkeitssinn" geben.
In der Sprache, die selbst eine Handlung darstellt, gibt es scheinbar unendlich viele Möglichkeiten zu sprechen. Dennoch lässt sich niemals alles, was in einem Augenblick wahrgenommen wird, in Buchstabenkombinationen umsetzen. Die Muttersprache des Schweden besteht nachweislich aus achtundzwanzig Buchstaben, jedoch ist Gustafsson der neunundzwanzigste Buchstabe – jener leere Buchstabe "zwischen den Wörtern" – un-schätz-bar, da dieser "keinen Namen" und gleich der Null "keinen Wert" hat. Gerade dieser Nullpunkt aber ist es, der philosophisches Potential in sich birgt, "in dem eine Schrift sich in sich selber versteckt".
"Es gibt einen Spezialfall. Wir können ihn den Nullfall nennen. Das ist eine Kryptierung, bei der der Text sich selbst bedeutet, das Ding zu seiner eigenen optimalen Abbildung wird, der Name nur den Namen bedeutet und nichts anderes."
Vom Verlust der Eisenkrone
Das Fragment gebliebene Romanprojekt "Dr. Weiss’ letzter Auftrag" ist somit auch der letzte große Entwurf des Romancier Lars Gustafsson. Wobei in seiner Unabgeschlossenheit etwas Tröstliches liegt. War sein Autor doch der Meinung, dass "richtige Erzählungen" kein Ende haben sollten, sonst nämlich wären sie keine.
Nur dass die Geräusche der Remington längst verklungen sind und kein Kratzen der Feder auf weißem Papier mehr zu vernehmen ist, das allerdings ist unerträglich. In "Dr. Weiss’ letzter Auftrag" heißt es:
"Behutsam nahm ich die Eisenkrone ab. Für einen Augenblick fühlte es sich an, als wolle sie tatsächlich an den Schläfen haften bleiben. Oder war sie auf eigentümliche Weise zu einem Teil meiner selbst geworden? Und ich ein Teil von ihr?"
Lars Gustafsson: "Dr. Weiss’ letzter Auftrag".
Aus dem Schwedischen von Verena Reichel.
Mit einem Nachwort von Michael Krüger
Wallstein Verlag, Göttingen. 146 Seiten, 20 Euro.
Aus dem Schwedischen von Verena Reichel.
Mit einem Nachwort von Michael Krüger
Wallstein Verlag, Göttingen. 146 Seiten, 20 Euro.