"Mein Entschluss stand fest, nachdem was passiert ist, nämlich der Verlust von sechs der acht nächsten Verwandten, war ich fest entschlossen, nie mehr deutschen Boden zu betreten."
Max Mannheimer. 82 Jahre alt. Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie aus Mähren. Überlebte die Konzentrationslager Theresienstadt, Auschwitz, Warschau und Dachau. Befreit durch amerikanische Truppen. Rückkehr in seine Heimat. 1946 verlässt er die Tschechisch-slowakische Republik. Entgegen seinem ursprünglichen Vorsatz kehrt er nach Deutschland zurück. Seine neue Heimat wird München. Über viele Jahre verdrängt er die Holocaust-Erinnerungen.
"Ich hab damals die Beziehung zu Tieren total verloren. Dagegen: Für Kinder hab? ich ein offenes Herz nach wie vor. Und Tiere will ich gar nicht mehr. Was soll?s. Ich tu ihnen nichts. Aber ich kann es nicht vergessen, dass es Tieren besser gegangen ist wie uns Menschen."
Hanna Mandel. 75 Jahre alt. Im ungarisch-rumänischen Grenzgebiet geboren. Im Juni 44 nach Auschwitz verschleppt. Die letzten Wochen vor der Befreiung im berüchtigten KZ Bergen-Belsen überlebt. 1948 von Ungarn nach Wien emigriert, lebt heute in München. Seit 1975 berichtet sie regelmäßig über die Verfolgung und ihre persönliche Form der Verarbeitung.
"Ich bin einer dieser Menschen gewesen, die die Deutschen so gehasst haben, dass ich nicht mal mehr deutsch sprechen hören konnte, dann ist mir die Gänsehaut gekommen, habe mich von Deutschland ferngehalten und habe mir geschworen, hier nie wieder herzukommen. Das war also 1945. Und ich habe das auch konsequent durchgehalten - 45 Jahre lang."
Anita Lasker-Wallfisch. 77 Jahre alt. Sie kam als junge Breslauer Jüdin nach Auschwitz, spielte dort im sogenannten "Mädchenorchester" Cello, wurde nach der Befreiung in Bergen-Belsen als Übersetzerin angestellt. Emigrierte nach Großbritannien, wo sie auch heute noch lebt. Seit 1990 kommt sie regelmäßig zu Zeitzeugen-Gesprächen nach Deutschland.
Drei jüdische Mitbürger, die den Holocaust überlebt haben. Erst nach vielen Jahren über das Erlebte sprechen können. Sich bereit erklären, ihre Erinnerungen auch öffentlich weiterzugeben an die nachfolgende Generation. Friedhelm Boll, Historiker am Bonner Institut für Sozialgeschichte, arbeitet seit geraumer Zeit wissenschaftlich mit KZ-Überlebenden. Vor wenigen Tagen wurde sein neues Buch vorgestellt: "Sprechen als Last und Befreiung". Erschienen ist es im Bonner Dietz-Verlag. Die Frage, warum KZ-Überlebende in Deutschland über so viele Jahre geschwiegen haben, beantwortet Friedhelm Boll so:
"Sie haben geschwiegen, einerseits, weil sie vergessen wollten, weil sie Familien gründeten, Berufe erlernten und weiterkommen wollten. Aber sie haben auch geschwiegen, weil es keiner hören wollte, weil die Erinnerung an sie möglicherweise Fragen an das eigene Leben im Nationalsozialismus hätte aufbrechen lassen. Fragen des Mitlaufens, des Unterstützens des Nationalsozialismus. Alles dies wollte man nicht wieder hören, damit wollte man nicht konfrontiert werden. Man wollte nicht erinnert werden."
Anita Lasker-Wallfisch bemüht sich dennoch darum, ihre Erinnerungen an die KZ-Zeit weiter zu geben. Vor fünf Jahren erschienen ihre Aufzeichnungen in deutscher Sprache. Ursprünglich gedacht nur für ihre Kinder und Enkelkinder. Der Titel des Buches: "Ihr sollt die Wahrheit erben." - Auch Max Mannheimer konnte erst zwanzig Jahre nach dem Holocaust seine Erinnerungen niederschreiben. Seine zweite Ehefrau starb 1964 an Krebs. Und die Erinnerungen sollten sein Vermächtnis an seine damals 17jährige Tochter sein....
"... weil ich glaubte, sterben zu müssen, dass ich auch Krebs habe, sonst hätte ich es nie aufgeschrieben."
Für sein Manuskript fand Mannheimer zunächst keinen Verleger. Erst zwanzig Jahre später wurde es in der ersten Nummer der "Dachauer Hefte" publiziert: Ein Einschnitt für Max Mannheimer. Seit dieser Zeit stellt er sich als Zeitzeuge zur Verfügung, diskutiert mit Schülern, zeigt Gruppen das KZ Dachau, liest aus seinen Erinnerungen ? zum Beispiel über die Selektion nach der Ankunft in Auschwitz-Birkenau:
"Ein SS-Offizier steht vor uns. Obersturmführer. Wird von einem Posten so angesprochen. Vermutlich Arzt. Ohne weißen Kittel. Ohne Stethoskop. In grüner Uniform. Mit Totenkopf. Einzeln treten wir vor. Seine Stimme ist ruhig. Fast zu ruhig. Fragt nach Alter, Beruf, ob gesund. Lässt sich die Hände zeigen. Einige Antworten höre ich. Schlosser ? links. Verwalter ? rechts. Arbeiter ? links. Magazineur der Firma Bata ? rechts. Es ist unser Bekannter: Büchler aus Bojkowitz. Schreiner ? links. Dann ist mein Vater an der Reihe. Hilfsarbeiter. Er geht den Weg des Verwalters und Magazineurs. Er ist fünfundfünfzig. Dürfte der Grund sein. Dann komme ich. Dreiundzwanzig Jahre, gesund, Straßenbauarbeiter. Die Schwielen an den Händen. Wie gut sind die Schwielen. Links. Mein Bruder Ernst: zwanzig, Installateur ? links. Mein Bruder Edgar: siebzehn, Schuhmacher ? links."
Und Mannheimer beschreibt, was kaum zu beschreiben ist. Etwa als er vom Tod seiner Eltern erfährt. Er ist dem KZ- Hofkommando zugeteilt. Die Gruppe hat mit dem Hab und Gut der Vergasten zu tun. Ein Mithäftling nimmt ihn abends bei Seite:
"Was hast Du? Frage ich nachher im Block. Er gibt mir eine Fotografie. Ich bringe kein Wort hervor. Verkrieche mich in eine Ecke. Es ist unser Familienfoto. Er fand es in einem Koffer. In unserem Koffer. Ich zerschneide es in drei Streifen. Dies lege ich in meinen Gürtel, der doppelt genäht ist. Meine Eltern und Geschwister sind mit mir."
Wenn überlebende Holocaust-Opfer ihre Erlebnisse in den Lagern schildern, dann ist das fast immer mit großen psychischen Greueln, mit seelischen Qualen verbunden. Geistig bereits abgelegte oder verdrängte Erinnerungen werden wieder aufgewühlt. So auch bei Max Mannheimer. Zu Beginn seiner Zeitzeugenarbeit konnte er über die Selektion und Ermordung seiner Eltern und Geschwister selbst dann nicht sprechen, wenn er vorher Beruhigungstabletten genommen hatte. Um größere Distanz zu seinen Emotionen zu schaffen, sprach er nicht frei, sondern las aus seinem Buch:
"Ich konnte zum Beispiel die Passage, als mein Bruder Ernst in der Gaskammer endete, das konnte ich einfach nicht verkraften. So bat ich immer einen Lehrer oder Lehrerin, die Passage zu lesen. In dieser Zeit verließ ich den Klassenraum, wartete hinter der Tür, bis es vorbei war und kam dann hinein. So entstand bei den Schülern der Eindruck, dass ich eben wohin musste."
Wenn es um den Tod seines Bruders Ernst geht, dann stößt Max Mannheimer an "Grenzen des Sagbaren". Eine Erfahrung, die viele Holocaust-Überlebende gemacht haben. Der Historiker Friedhelm Boll:
"Die Grenzen liegen in der Regel dort, wo es um die Toten geht, wo es um diejenigen geht, die sie als Haftkameraden oder als Teile ihrer Familie in Auschwitz oder sonst wo verloren haben. Daran sollte man besser nicht rühren."
Viele KZ-Überlebende vertreten die These, dass die wirkliche Geschichte des Holocaust "nie erzählt werden kann". So sagte zum Beispiel der ungarische Auschwitz-Überlebende Imre Kertész 1996 in einem Zeitschriften-Interview:
"Die volle, uneingeschränkte Wahrheit kennen nur jene, die in den Gaskammern gestorben sind."
So erklärt sich auch, dass sich manche Zeitzeugen bei ihren öffentlichen Berichten erst gar nicht an die Dimension des Grauens heranwagen, wie zum Beispiel Anita Lasker-Wallfisch:
"Ich spreche eigentlich nie von den Irrsinnigkeiten, die da passiert sind. Ich halte mich nicht lange damit auf zu erzählen, dass wir in Belsen von Leichen umgeben gelebt haben. Ich verliere mich nicht in den Grausamkeiten. Mir fehlen die Worte, ich kann nur Stichworte sagen."
Andere Zeitzeugen berichten von qualvollen Erinnerungen. Zum Beispiel Hanna Mandel, wenn sie schildert, warum sie bis heute keine Beziehungen zu Tieren aufbauen kann: Es war Zählappell auf dem KZ-Hof. Vor ihr eine hochschwangere Frau. Sie konnte nicht mehr stehen, hatte sich hingehockt:
"Und in dem Moment, wo sie gerade Wehen hatte, kam die SS-Frau an, abzuzählen. Es war die Ordnung unterbrochen. Eine stand nicht! Und sie hob ihre Peitsche und schlug auf diese Frau. Sie schrie so wütend, dass auf ihre Schulter ihre Katze, die sie mitgehabt hat, ganz unruhig geworden ist. Und jetzt war folgendes Bild: In die rechte Hand die Peitsche und schlug sie die Frau, mit der linken Hand streichelte sie die Katze. Ich werde dieses Bild nie, aber nie vergessen."
Über viele Jahre, Jahrzehnte bricht die Vergangenheit auf, bewirkt psychische Zusammenbrüche. Max Mannheimer zum Beispiel arbeitete wiederholt mit Psychotherapeuten, die ihm allerdings nur wenig helfen konnten. Als er nach einem Zusammenbruch Anfang der 80er Jahre in eine Klinik eingeliefert wurde, passierte folgendes:
" Ich sah, dass die anderen Patienten zu einem Wäscheschrank gingen und Badetücher holten. Ich tat dasselbe und ging in eine Einzeldusche. Obwohl ich diese Erfahrung nie gemacht habe, habe ich ganz vorsichtig den Wasserhahn aufgedreht, um zu sehen, ob tatsächlich Wasser aus der Dusche kommt. Ich wiederholte es noch am nächsten Tag, am dritten Tag wusste ich schon, da kommt Wasser. Da ging es mir auch schon besser."
Ängste werden wach. Heute vor allem, wenn über Neo-Nazis berichtet wird. Selbst die Begegnung mit Nazi-Symbolen kann innere Panik auslösen:
"Plötzlich sehe ich auf dieser Insel ein Hakenkreuz. So wie andere gegen Pollen allergisch sind, bin ich allergisch gegen Hakenkreuze. Ich war sehr verzweifelt, lief zur Tante, fragte, ob sie einen Meißel und einen Hammer hätte. Das hatte sie nicht, aber einen Schraubenzieher und Hammer. Am nächsten Tag sehr früh versuchte ich, mit Hilfe des Schraubenziehers und des Hammers das Hakenkreuz herauszumeißeln. Es ging aber nicht."
Ein anderes Trauma, das viele Überlebende immer wieder verfolgt: Hanna Mandel, die nach ihrer Befreiung vier Kinder bekam, erinnert sich an die Geburt ihrer ersten Tochter:
"In der Nacht, wenn ich ein paar Minuten eingeschlafen war, hab? ich entsetzlichste Dinge geträumt und wachte auf und nahm mein Kind und musste mich überzeugen, dass es lebt und dass ihr nichts passiert ist."
Diese Alpträume kamen immer wieder, auch bei der Geburt der nächsten Kinder. Heute weiß Hanna Mandel, wo die Ängste um ihre Neugeborenen herrühren. Es war das Miterleben der Geburt eines Kindes in ihrer KZ-Baracke:
"Und jeder um uns herum war glücklich. Und jeder hat vergessen, wo wir sind, sondern nur dieses neugeborene Kind gesehen. Und es kam ein SS-Mann rein in die Baracke und ging ganz zielbewusst zu die Frau und sagte zu ihr etwas. Wahrscheinlich "Gibt es her!", weil die Frau hat noch fester an sich gedrückt das Baby. Und er langte hin und hat das Baby bei die kleine Füßchen genommen, und da es neugeboren war und rutschig, hat er es rausgezogen von der Hand der Mutter. Und mit derselben Bewegung hat er das Kind an dem nächsten Balken zerschlagen. Ich kann euch nicht sagen, wie, wie ich mich damals gefühlt habe."
Auch Hanna Mandels jüngste, damals fünfjährige Schwester ist im KZ umgebracht worden. Die Ältere fühlte sich mitschuldig an ihrem Tod, hatte das Gefühl, sie im KZ im Stich gelassen zu haben. In ihr wuchs der Zorn. Ihre Wut ging in Hass über auf alles, was deutsch war, auch auf deutsche Kinder. Sie schwor sich, wenn sie jemals das KZ überleben sollte, das erste deutsche Kind, das ihr begegnet, umzubringen:
Es ist so schrecklich. Mir wird jetzt noch ganz anders, wenn ich darüber rede. Kaum waren die Amerikaner da, bin ich rausgegangen. Und ich sah eine Frau auf mich zukommen mit einem etwa dreijährigem Mädchen mit blonden Haaren. Und ich ging wie in Trance. Ich hab nicht nachgedacht: Warum? Was hab ich vor? Was will ich machen? Wozu das ist? Sondern einfach: Das ist das Kind. Und meine Hand krampfte sich, je näher ich zu ihnen gekommen bin. Und ich war vielleicht sechs oder acht Meter von ihnen entfernt. Irgendetwas in meinem Inneren hat sich bewegt. Und ich hab? mich abgedreht. Ich hab? dem Kind nichts angetan. Hätte ich es getan, könnte ich hier nicht sitzen. Ich glaube, den Hass hab ich damals verloren. Das, das war meine Befreiung."
Richtig befreit fühlen sich manche Holocaust-Überlebende bis heute noch nicht. Und nicht jeder kann seinen Hass überwinden. Vergessen ?nein, das kann und darf niemand. "Wenn wir vergessen, sind wir mitschuldig und Mittäter", hat Elie Wiesel, der wohl bekannteste Holocaust-Überlebende, bei seiner Friedensnobelpreisrede 1986 gesagt. Nicht vergessen und das Erlebte weitergeben, damit sich ähnliches nie wiederholt, dazu fühlen sich die Zeitzeugen verpflichtet. Zum Beispiel, wenn Max Mannheimer auch darüber berichtet, dass nicht jeder KZ-Wächter eine Bestie gewesen ist:
"Es gab solche Einzelfälle, wo die Menschen eben auch menschlich waren. Ich erinnere mich mit Dankbarkeit an einen SS-Mann, der aus Berlin stammte. Der brüllte damals, dass man zusammengezuckt ist. Eines Sonntags sagt er: Kommen Sie her!. Ich sage: Häftling 288 meldet sich zur Stelle. Sagt er: Sagen Sie ihren Kameraden, dass ich nicht freiwillig zur SS gegangen bin, dass ich in Berlin mit jüdischen Kindern aufgewachsen bin und mit ihnen befreundet war. Und dass ich noch nie einen Häftling geschlagen habe und es auch nicht tun werde. Aber ich muss brüllen, weil, wenn ich nicht brülle, dann wird man mich für diesen Dienst für ungeeignet halten und ich muss an die Front. Also auch das kam vor. Es gab beides. Die Uniform allein hat es nicht ausgemacht. Manchmal steckte eben auch ein Mensch in dieser Uniform."
Auschwitz wurde am 27. Januar 1945 ? am morgigen Sonntag vor 57 Jahren - von sowjetischen Soldaten befreit. Für Holocaust-Überlebende ist es ein schwieriges Thema, wenn sie über den Häftlings-Alltag im KZ berichten. Auf die Frage, ob es in Auschwitz so etwas wie eine Gemeinschaft unter den Häftlingen gegeben hat, sagt Hanna Mandel:
"Dort kann keine Gemeinschaft entstehen. Genauso wenig, wie wenn jemand in einem brennenden Kino steht und schaut, möglichst schnell rauszukommen. Da wird keiner schauen, wer dabei niedergetrampelt wird, sondern in der Panik sieht man nur das eigene, wie komm ich durch? Und das war in Auschwitz ähnlich."
Zeitzeugen werden immer wieder gefragt, warum sie sich öffentlichen Veranstaltungen stellen, die Schrecken der Vergangenheit immer wieder neu durchleben, nicht müde werden, Aufklärungsarbeit zu betreiben? Anita Lasker-Wallfisch und Hanna Mandel:
"Ich weiß genau, dass ich nicht einer großer Messias bin und auch nicht die Welt verändern werde. Aber die wenigen Leute, zu denen ich spreche, denen kann ich vielleicht einen kleinen Kern in ihr Gehirn setzen, dass sie vielleicht etwas Denken macht, wenn sie das nächste mal jemanden hassen." "Ich muss darüber sprechen, und ich muss es Menschen zeigen, was daraus entsteht, damit man sich Gedanken macht darüber und nicht gedankenlos einfach dahinlebt. Und das ist es, was ich durch Auschwitz gelernt habe: Die Verantwortung zu übernehmen für andere. Ich hoffe, ich kann es Euch vermitteln und kann Euch dadurch einen bewussteren Lebensweg schaffen. Das wär? mein Wunsch."
Max Mannheimer. 82 Jahre alt. Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie aus Mähren. Überlebte die Konzentrationslager Theresienstadt, Auschwitz, Warschau und Dachau. Befreit durch amerikanische Truppen. Rückkehr in seine Heimat. 1946 verlässt er die Tschechisch-slowakische Republik. Entgegen seinem ursprünglichen Vorsatz kehrt er nach Deutschland zurück. Seine neue Heimat wird München. Über viele Jahre verdrängt er die Holocaust-Erinnerungen.
"Ich hab damals die Beziehung zu Tieren total verloren. Dagegen: Für Kinder hab? ich ein offenes Herz nach wie vor. Und Tiere will ich gar nicht mehr. Was soll?s. Ich tu ihnen nichts. Aber ich kann es nicht vergessen, dass es Tieren besser gegangen ist wie uns Menschen."
Hanna Mandel. 75 Jahre alt. Im ungarisch-rumänischen Grenzgebiet geboren. Im Juni 44 nach Auschwitz verschleppt. Die letzten Wochen vor der Befreiung im berüchtigten KZ Bergen-Belsen überlebt. 1948 von Ungarn nach Wien emigriert, lebt heute in München. Seit 1975 berichtet sie regelmäßig über die Verfolgung und ihre persönliche Form der Verarbeitung.
"Ich bin einer dieser Menschen gewesen, die die Deutschen so gehasst haben, dass ich nicht mal mehr deutsch sprechen hören konnte, dann ist mir die Gänsehaut gekommen, habe mich von Deutschland ferngehalten und habe mir geschworen, hier nie wieder herzukommen. Das war also 1945. Und ich habe das auch konsequent durchgehalten - 45 Jahre lang."
Anita Lasker-Wallfisch. 77 Jahre alt. Sie kam als junge Breslauer Jüdin nach Auschwitz, spielte dort im sogenannten "Mädchenorchester" Cello, wurde nach der Befreiung in Bergen-Belsen als Übersetzerin angestellt. Emigrierte nach Großbritannien, wo sie auch heute noch lebt. Seit 1990 kommt sie regelmäßig zu Zeitzeugen-Gesprächen nach Deutschland.
Drei jüdische Mitbürger, die den Holocaust überlebt haben. Erst nach vielen Jahren über das Erlebte sprechen können. Sich bereit erklären, ihre Erinnerungen auch öffentlich weiterzugeben an die nachfolgende Generation. Friedhelm Boll, Historiker am Bonner Institut für Sozialgeschichte, arbeitet seit geraumer Zeit wissenschaftlich mit KZ-Überlebenden. Vor wenigen Tagen wurde sein neues Buch vorgestellt: "Sprechen als Last und Befreiung". Erschienen ist es im Bonner Dietz-Verlag. Die Frage, warum KZ-Überlebende in Deutschland über so viele Jahre geschwiegen haben, beantwortet Friedhelm Boll so:
"Sie haben geschwiegen, einerseits, weil sie vergessen wollten, weil sie Familien gründeten, Berufe erlernten und weiterkommen wollten. Aber sie haben auch geschwiegen, weil es keiner hören wollte, weil die Erinnerung an sie möglicherweise Fragen an das eigene Leben im Nationalsozialismus hätte aufbrechen lassen. Fragen des Mitlaufens, des Unterstützens des Nationalsozialismus. Alles dies wollte man nicht wieder hören, damit wollte man nicht konfrontiert werden. Man wollte nicht erinnert werden."
Anita Lasker-Wallfisch bemüht sich dennoch darum, ihre Erinnerungen an die KZ-Zeit weiter zu geben. Vor fünf Jahren erschienen ihre Aufzeichnungen in deutscher Sprache. Ursprünglich gedacht nur für ihre Kinder und Enkelkinder. Der Titel des Buches: "Ihr sollt die Wahrheit erben." - Auch Max Mannheimer konnte erst zwanzig Jahre nach dem Holocaust seine Erinnerungen niederschreiben. Seine zweite Ehefrau starb 1964 an Krebs. Und die Erinnerungen sollten sein Vermächtnis an seine damals 17jährige Tochter sein....
"... weil ich glaubte, sterben zu müssen, dass ich auch Krebs habe, sonst hätte ich es nie aufgeschrieben."
Für sein Manuskript fand Mannheimer zunächst keinen Verleger. Erst zwanzig Jahre später wurde es in der ersten Nummer der "Dachauer Hefte" publiziert: Ein Einschnitt für Max Mannheimer. Seit dieser Zeit stellt er sich als Zeitzeuge zur Verfügung, diskutiert mit Schülern, zeigt Gruppen das KZ Dachau, liest aus seinen Erinnerungen ? zum Beispiel über die Selektion nach der Ankunft in Auschwitz-Birkenau:
"Ein SS-Offizier steht vor uns. Obersturmführer. Wird von einem Posten so angesprochen. Vermutlich Arzt. Ohne weißen Kittel. Ohne Stethoskop. In grüner Uniform. Mit Totenkopf. Einzeln treten wir vor. Seine Stimme ist ruhig. Fast zu ruhig. Fragt nach Alter, Beruf, ob gesund. Lässt sich die Hände zeigen. Einige Antworten höre ich. Schlosser ? links. Verwalter ? rechts. Arbeiter ? links. Magazineur der Firma Bata ? rechts. Es ist unser Bekannter: Büchler aus Bojkowitz. Schreiner ? links. Dann ist mein Vater an der Reihe. Hilfsarbeiter. Er geht den Weg des Verwalters und Magazineurs. Er ist fünfundfünfzig. Dürfte der Grund sein. Dann komme ich. Dreiundzwanzig Jahre, gesund, Straßenbauarbeiter. Die Schwielen an den Händen. Wie gut sind die Schwielen. Links. Mein Bruder Ernst: zwanzig, Installateur ? links. Mein Bruder Edgar: siebzehn, Schuhmacher ? links."
Und Mannheimer beschreibt, was kaum zu beschreiben ist. Etwa als er vom Tod seiner Eltern erfährt. Er ist dem KZ- Hofkommando zugeteilt. Die Gruppe hat mit dem Hab und Gut der Vergasten zu tun. Ein Mithäftling nimmt ihn abends bei Seite:
"Was hast Du? Frage ich nachher im Block. Er gibt mir eine Fotografie. Ich bringe kein Wort hervor. Verkrieche mich in eine Ecke. Es ist unser Familienfoto. Er fand es in einem Koffer. In unserem Koffer. Ich zerschneide es in drei Streifen. Dies lege ich in meinen Gürtel, der doppelt genäht ist. Meine Eltern und Geschwister sind mit mir."
Wenn überlebende Holocaust-Opfer ihre Erlebnisse in den Lagern schildern, dann ist das fast immer mit großen psychischen Greueln, mit seelischen Qualen verbunden. Geistig bereits abgelegte oder verdrängte Erinnerungen werden wieder aufgewühlt. So auch bei Max Mannheimer. Zu Beginn seiner Zeitzeugenarbeit konnte er über die Selektion und Ermordung seiner Eltern und Geschwister selbst dann nicht sprechen, wenn er vorher Beruhigungstabletten genommen hatte. Um größere Distanz zu seinen Emotionen zu schaffen, sprach er nicht frei, sondern las aus seinem Buch:
"Ich konnte zum Beispiel die Passage, als mein Bruder Ernst in der Gaskammer endete, das konnte ich einfach nicht verkraften. So bat ich immer einen Lehrer oder Lehrerin, die Passage zu lesen. In dieser Zeit verließ ich den Klassenraum, wartete hinter der Tür, bis es vorbei war und kam dann hinein. So entstand bei den Schülern der Eindruck, dass ich eben wohin musste."
Wenn es um den Tod seines Bruders Ernst geht, dann stößt Max Mannheimer an "Grenzen des Sagbaren". Eine Erfahrung, die viele Holocaust-Überlebende gemacht haben. Der Historiker Friedhelm Boll:
"Die Grenzen liegen in der Regel dort, wo es um die Toten geht, wo es um diejenigen geht, die sie als Haftkameraden oder als Teile ihrer Familie in Auschwitz oder sonst wo verloren haben. Daran sollte man besser nicht rühren."
Viele KZ-Überlebende vertreten die These, dass die wirkliche Geschichte des Holocaust "nie erzählt werden kann". So sagte zum Beispiel der ungarische Auschwitz-Überlebende Imre Kertész 1996 in einem Zeitschriften-Interview:
"Die volle, uneingeschränkte Wahrheit kennen nur jene, die in den Gaskammern gestorben sind."
So erklärt sich auch, dass sich manche Zeitzeugen bei ihren öffentlichen Berichten erst gar nicht an die Dimension des Grauens heranwagen, wie zum Beispiel Anita Lasker-Wallfisch:
"Ich spreche eigentlich nie von den Irrsinnigkeiten, die da passiert sind. Ich halte mich nicht lange damit auf zu erzählen, dass wir in Belsen von Leichen umgeben gelebt haben. Ich verliere mich nicht in den Grausamkeiten. Mir fehlen die Worte, ich kann nur Stichworte sagen."
Andere Zeitzeugen berichten von qualvollen Erinnerungen. Zum Beispiel Hanna Mandel, wenn sie schildert, warum sie bis heute keine Beziehungen zu Tieren aufbauen kann: Es war Zählappell auf dem KZ-Hof. Vor ihr eine hochschwangere Frau. Sie konnte nicht mehr stehen, hatte sich hingehockt:
"Und in dem Moment, wo sie gerade Wehen hatte, kam die SS-Frau an, abzuzählen. Es war die Ordnung unterbrochen. Eine stand nicht! Und sie hob ihre Peitsche und schlug auf diese Frau. Sie schrie so wütend, dass auf ihre Schulter ihre Katze, die sie mitgehabt hat, ganz unruhig geworden ist. Und jetzt war folgendes Bild: In die rechte Hand die Peitsche und schlug sie die Frau, mit der linken Hand streichelte sie die Katze. Ich werde dieses Bild nie, aber nie vergessen."
Über viele Jahre, Jahrzehnte bricht die Vergangenheit auf, bewirkt psychische Zusammenbrüche. Max Mannheimer zum Beispiel arbeitete wiederholt mit Psychotherapeuten, die ihm allerdings nur wenig helfen konnten. Als er nach einem Zusammenbruch Anfang der 80er Jahre in eine Klinik eingeliefert wurde, passierte folgendes:
" Ich sah, dass die anderen Patienten zu einem Wäscheschrank gingen und Badetücher holten. Ich tat dasselbe und ging in eine Einzeldusche. Obwohl ich diese Erfahrung nie gemacht habe, habe ich ganz vorsichtig den Wasserhahn aufgedreht, um zu sehen, ob tatsächlich Wasser aus der Dusche kommt. Ich wiederholte es noch am nächsten Tag, am dritten Tag wusste ich schon, da kommt Wasser. Da ging es mir auch schon besser."
Ängste werden wach. Heute vor allem, wenn über Neo-Nazis berichtet wird. Selbst die Begegnung mit Nazi-Symbolen kann innere Panik auslösen:
"Plötzlich sehe ich auf dieser Insel ein Hakenkreuz. So wie andere gegen Pollen allergisch sind, bin ich allergisch gegen Hakenkreuze. Ich war sehr verzweifelt, lief zur Tante, fragte, ob sie einen Meißel und einen Hammer hätte. Das hatte sie nicht, aber einen Schraubenzieher und Hammer. Am nächsten Tag sehr früh versuchte ich, mit Hilfe des Schraubenziehers und des Hammers das Hakenkreuz herauszumeißeln. Es ging aber nicht."
Ein anderes Trauma, das viele Überlebende immer wieder verfolgt: Hanna Mandel, die nach ihrer Befreiung vier Kinder bekam, erinnert sich an die Geburt ihrer ersten Tochter:
"In der Nacht, wenn ich ein paar Minuten eingeschlafen war, hab? ich entsetzlichste Dinge geträumt und wachte auf und nahm mein Kind und musste mich überzeugen, dass es lebt und dass ihr nichts passiert ist."
Diese Alpträume kamen immer wieder, auch bei der Geburt der nächsten Kinder. Heute weiß Hanna Mandel, wo die Ängste um ihre Neugeborenen herrühren. Es war das Miterleben der Geburt eines Kindes in ihrer KZ-Baracke:
"Und jeder um uns herum war glücklich. Und jeder hat vergessen, wo wir sind, sondern nur dieses neugeborene Kind gesehen. Und es kam ein SS-Mann rein in die Baracke und ging ganz zielbewusst zu die Frau und sagte zu ihr etwas. Wahrscheinlich "Gibt es her!", weil die Frau hat noch fester an sich gedrückt das Baby. Und er langte hin und hat das Baby bei die kleine Füßchen genommen, und da es neugeboren war und rutschig, hat er es rausgezogen von der Hand der Mutter. Und mit derselben Bewegung hat er das Kind an dem nächsten Balken zerschlagen. Ich kann euch nicht sagen, wie, wie ich mich damals gefühlt habe."
Auch Hanna Mandels jüngste, damals fünfjährige Schwester ist im KZ umgebracht worden. Die Ältere fühlte sich mitschuldig an ihrem Tod, hatte das Gefühl, sie im KZ im Stich gelassen zu haben. In ihr wuchs der Zorn. Ihre Wut ging in Hass über auf alles, was deutsch war, auch auf deutsche Kinder. Sie schwor sich, wenn sie jemals das KZ überleben sollte, das erste deutsche Kind, das ihr begegnet, umzubringen:
Es ist so schrecklich. Mir wird jetzt noch ganz anders, wenn ich darüber rede. Kaum waren die Amerikaner da, bin ich rausgegangen. Und ich sah eine Frau auf mich zukommen mit einem etwa dreijährigem Mädchen mit blonden Haaren. Und ich ging wie in Trance. Ich hab nicht nachgedacht: Warum? Was hab ich vor? Was will ich machen? Wozu das ist? Sondern einfach: Das ist das Kind. Und meine Hand krampfte sich, je näher ich zu ihnen gekommen bin. Und ich war vielleicht sechs oder acht Meter von ihnen entfernt. Irgendetwas in meinem Inneren hat sich bewegt. Und ich hab? mich abgedreht. Ich hab? dem Kind nichts angetan. Hätte ich es getan, könnte ich hier nicht sitzen. Ich glaube, den Hass hab ich damals verloren. Das, das war meine Befreiung."
Richtig befreit fühlen sich manche Holocaust-Überlebende bis heute noch nicht. Und nicht jeder kann seinen Hass überwinden. Vergessen ?nein, das kann und darf niemand. "Wenn wir vergessen, sind wir mitschuldig und Mittäter", hat Elie Wiesel, der wohl bekannteste Holocaust-Überlebende, bei seiner Friedensnobelpreisrede 1986 gesagt. Nicht vergessen und das Erlebte weitergeben, damit sich ähnliches nie wiederholt, dazu fühlen sich die Zeitzeugen verpflichtet. Zum Beispiel, wenn Max Mannheimer auch darüber berichtet, dass nicht jeder KZ-Wächter eine Bestie gewesen ist:
"Es gab solche Einzelfälle, wo die Menschen eben auch menschlich waren. Ich erinnere mich mit Dankbarkeit an einen SS-Mann, der aus Berlin stammte. Der brüllte damals, dass man zusammengezuckt ist. Eines Sonntags sagt er: Kommen Sie her!. Ich sage: Häftling 288 meldet sich zur Stelle. Sagt er: Sagen Sie ihren Kameraden, dass ich nicht freiwillig zur SS gegangen bin, dass ich in Berlin mit jüdischen Kindern aufgewachsen bin und mit ihnen befreundet war. Und dass ich noch nie einen Häftling geschlagen habe und es auch nicht tun werde. Aber ich muss brüllen, weil, wenn ich nicht brülle, dann wird man mich für diesen Dienst für ungeeignet halten und ich muss an die Front. Also auch das kam vor. Es gab beides. Die Uniform allein hat es nicht ausgemacht. Manchmal steckte eben auch ein Mensch in dieser Uniform."
Auschwitz wurde am 27. Januar 1945 ? am morgigen Sonntag vor 57 Jahren - von sowjetischen Soldaten befreit. Für Holocaust-Überlebende ist es ein schwieriges Thema, wenn sie über den Häftlings-Alltag im KZ berichten. Auf die Frage, ob es in Auschwitz so etwas wie eine Gemeinschaft unter den Häftlingen gegeben hat, sagt Hanna Mandel:
"Dort kann keine Gemeinschaft entstehen. Genauso wenig, wie wenn jemand in einem brennenden Kino steht und schaut, möglichst schnell rauszukommen. Da wird keiner schauen, wer dabei niedergetrampelt wird, sondern in der Panik sieht man nur das eigene, wie komm ich durch? Und das war in Auschwitz ähnlich."
Zeitzeugen werden immer wieder gefragt, warum sie sich öffentlichen Veranstaltungen stellen, die Schrecken der Vergangenheit immer wieder neu durchleben, nicht müde werden, Aufklärungsarbeit zu betreiben? Anita Lasker-Wallfisch und Hanna Mandel:
"Ich weiß genau, dass ich nicht einer großer Messias bin und auch nicht die Welt verändern werde. Aber die wenigen Leute, zu denen ich spreche, denen kann ich vielleicht einen kleinen Kern in ihr Gehirn setzen, dass sie vielleicht etwas Denken macht, wenn sie das nächste mal jemanden hassen." "Ich muss darüber sprechen, und ich muss es Menschen zeigen, was daraus entsteht, damit man sich Gedanken macht darüber und nicht gedankenlos einfach dahinlebt. Und das ist es, was ich durch Auschwitz gelernt habe: Die Verantwortung zu übernehmen für andere. Ich hoffe, ich kann es Euch vermitteln und kann Euch dadurch einen bewussteren Lebensweg schaffen. Das wär? mein Wunsch."