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Latinos in den USA und Immigranten in Deutschland

Gegen Mitte dieses Jahrhunderts werden Einwanderer aus Mexico, Nicaragua, Guatemala und den anderen mittelamerikanischen Ländern die größte Bevölkerungsgruppe in den USA sein. Schon heute stellen sie in manchen US-Staaten wie Kalifornien die Mehrheit. Was bedeutet das für die USA? Was kann man aus der amerikanischen Integrationspolitik auf die deutsche Situation übertragen? Zu diesen Fragen fand in der vergangenen Woche eine Tagung in Bielefeld statt.

Von Kersten Knipp |
    Den US-amerikanischen Politologen Samuel Huntington kann man sich als einen sorgengeplagten Menschen vorstellen. Nachdem er in den frühen 90er Jahren den "Clash of Civilizations", genauer: die Konfrontation zwischen Orient und Okzident, Islam und Christentum, ausgerufen hatte, trat er im neuen Jahrtausend mit einem Buch hervor, das die USA aufs Neue bedroht sah: "Who are we?", hieß es fragend im Titel, "Wer sind wir?" Wieder machte sich Huntington Sorgen angesichts der allzu bunten Welt, besonders den bunten Verhältnissen in seiner Heimat. Dort leben Schwarze, Weiße und Lateinamerikaner dicht gedrängt, was nach Huntington keine guten Folgen haben kann. Also schrieb er gegen den Multikulturalismus an - besonders gegen die demographisch immer stärker werdende Gruppe der Latinos. Die sind zwar noch nicht sonderlich unangenehm aufgefallen. Doch der von den USA geführte "War on Terror", so der Amerikanistikprofessor Josef Raab, Veranstalter der Tagung, hat die Vorbehalte zumindest eines Teils der Nordamerikaner gegen Fremde ganz allgemein anwachsen lassen.

    ZUSPIEL: " Wir sehen in den USA in Krisenzeiten immer ein Rückbesinnen auf "Was macht uns wirklich als Euro-Amerikaner aus?". Das war nach dem Ersten Weltkrieg so mit der Isolation und der Deportation von mexikanischstämmigen Amerikanern; das war nach dem zweiten Weltkrieg so mit der McCarthy-Ära in den 50er Jahren, und das ist auch jetzt wieder so nach dem 11. September 2001, ein Rückbesinnen darauf "Wer sind wir", und wir müssen uns abschotten vor dem, was da draußen ist, was uns gefährlich wird. "

    Doch so sehr die USA seit jeher als "Melting pot", als "Schmelztiegel der Nationen", gerühmt werden - nicht alle Einwanderergruppen, berichtet die Soziologin Eileen Diaz-McConnell, waren gleichermaßen erwünscht. Immer schon habe es Differenzierungen gegeben, in "gute" und in "schlechte" Einwanderergruppen.

    " Man muss den Umstand bedenken, dass die Vorbehalte gegen die Lateinamerikaner, vor allem die illegal eingewanderten Lateinamerikaner, im Kontext einer Diskriminierung aller Einwanderungsgruppen steht. Man hatte Vorbehalte gegen viele: gegen die Iren, die Italiener, auch die Deutschen. Man muss die derzeitige Situation auch vor dem ökonomischen Hintergrund sehen: In wirtschaftlich schwachen Zeiten sucht man sich Sündenböcke für die unbefriedigende Lage, und man findet sie meist bei den Zuwanderern. Sie kann man für das ganze Übel verantwortlich machen - und gleichzeitig auch noch ausbeuten. "

    Anders als in Deutschland, wo die Religion das Verständnis zwischen Deutschen und den muslimischen Einwanderergruppen derzeit erschwert, gibt es den Latinos gegenüber keine religiös motivierten Vorbehalte. Im Gegenteil: Das Christentum Religion verbindet beide Gruppen. Dies schlägt sich auch in den Wahlen nieder: Die meisten Latinos wählen die sich besonders gläubig gebenden Republikaner, die Demokraten hingegen müssen ganz besondere Anstrengungen unternehmen, um die Einwanderer aus dem Süden zu überzeugen. Anders als in Deutschland, so Diaz-McConnell, gründen die Distanz zu den Einwanderern auf sozialen Vorbehalten.

    " Es gibt eine Menge falscher Vorstellungen über die Lateinamerikaner. So denken viele weiße US-Bürger, die meisten Latinos hielten sich illegal in den USA auf. Tatsächlich aber leben die meisten legal hier und tragen erheblich zur nordamerikanischen Wirtschaftskraft bei. Aber das wird kaum gesehen. Solche Fehlwahrnehmungen haben meines Erachtens auch mit unserem Erziehungssystem zu tun. "

    Aus Sicht der lateinamerikanischen Einwanderer unterschätzen die weißen US-Bürger deren Integrationsleistungen. Der oft geäußerte Vorwurf, die Latinos missachteten eine ordentliche Bildung und Ausbildung, sei wissenschaftlich nicht haltbar, meint die Historikerin Virginia Sánchez Korrol.

    " Man nimmt an, dass der bislang noch nicht überragende wirtschaftliche Erfolg der Lateinamerikaner in den USA in ihrer Bildungsferne läge. Doch das trifft nicht zu. Tatsächlich haben sie sich immer bemüht und sind, wenn ihnen die Ausbildung in den Vereinigten Staaten verweigert wurde, auch vor Gericht gezogen. Die Lateinamerikaner haben sich um ihre Ausbildung immer sehr bemüht. "

    Identität gründet auf Differenz, der Abgrenzung zum Anderen. Und diese Abgrenzung fahndet nach Unterscheidungsmerkmalen. Wenn die, wie derzeit in Europa, religiös nicht zu begründen sind, werden andere Differenzen herangezogen, in diesem Fall soziale. Insofern scheint die derzeitige Debatte in den USA nur als ein weiteres Kapitel der ebenso üblichen wie unaufhörlichen Selbstfindungsprozesse multikultureller Gesellschaften. Doch wie ließe sich die Kluft zwischen Latinos und weißen Amerikanern überbrücken? Einen wesentlichen Beitrag zur Verständigung, so die Literaturwissenschaftlerin Gabriele Pisarz-Ramírez, leistet die Kultur.

    " Zum einen ist Latinidad mittlerweile ein Markenlabel geworden, was also dazu führt, dass es in allen Bereichen im Markt, im Fernsehen, Latinos immer präsenter sind, ein Label, das als Verkaufsstrategie dient und benutz wird. In diesem Fall, würde ich sagen, trägt Kultur zu einer Normalisierung von Latino-Präsenz bei. Es wird einfach stärker wahrgenommen, es ist überall da. Auf der anderen Seite würde ich denken, dass man von einer Entpolitisierung sprechen muss, weil die Latinokultur vereinnahmt wird und dabei oft politischer Inhalte beraubt wird. "

    Aber vielleicht leitet Kultur auch große Dienste, wenn sie gerade nicht politisch ist. Stars wie Jennifer López, Cameron Díaz oder Antonio Banderas mögen in allererster Linie der Unterhaltungsbranche zuzurechnen sein - dennoch tragen sie dazu bei, das Image der Latinos zu verbessern, auch wenn dieses größtenteils auf Klischees beruht. So wichtig Kunst und Kultur aber auch sein mögen - ganz wesentlich, so der Kulturtheoretiker Gary Keller, selbst lateinamerikanischer Abstammung, leisten aber die Latinos selbst zu ihrer Integration und Reputation. Denn so scharf die Konflikte auch sein mögen - anders als die in Europa überwiegenden Einwanderer aus dem arabischen Raum bringen die aus dem südlichen Amerika eine Kultur mit, die im Aufnahmeland ohne Schwierigkeiten verstanden wird.

    " Es hat diese Konflikte immer gegeben. Und das große demokratische Experiment war sehr erfolgreich, wenn es darum ging, die Spannungen zu lösen. Und die Spannungen, die wir jetzt haben, gehen auf die wachsende wirtschaftliche, politische und darum eben auch kulturelle Macht der Latinos in den USA zurück. Derzeit gibt es 45 Millionen Lateinamerikaner in den USA, bei einer Gesamtbevölkerung von 300 Millionen. Dazu kommen weitere 20 Millionen nicht registrierte Latinos. Die Kunst bringt diese Konflikte zur Sprache. Sie hilft aber auch, sie zu überwinden, denn wir Lateinamerikaner drücken uns zweisprachig aus, wir verstehen also beide Seiten unserer Nation, wir artikulieren uns auf bikulturelle Art. "

    Die Weißen werden in einem guten halben Jahrhundert in den USA nicht mehr die Mehrheit stellen. Das mag eine dramatische Veränderung sein - eine katastrophale aber nicht. Denn vieles deutet darauf hin, dass sich die Latinos den nordamerikanischen Lebensstil politisch und wirtschaftlich zu Eigen machen. Die westliche Gesellschaftsordnung mit ihren vielen Freiheitsrechten ist viel zu attraktiv, um ernsthaft in Frage gestellt zu werden. Das gilt natürlich auch für Europa - so dass man mit einigem Grund hoffen darf, dass auch den künftigen Bürgern der Alten Welt die Freiheit ungleich attraktiver erscheinen wird als das Weltbild religiöser Eiferer.